"In Analogie zur menschlichen Kommunikation habe ich ein neues Modell zur Analyse der Kommunikation mit Bildern entwickelt: das Vier-Augen-Modell der Fotografie", schreibt Martin Zurmühle, der in Luzern ein Architekturbüro und in Ebikon bei Luzern ein Fotostudio sowie eine Fotoschule betreibt. In Analogie zur menschlichen Kommunikation? Damit meint er das Vier-Ohren-Modell von Schulz von Thun. Noch nie davon gehört? Ich auch nicht und so lese ich denn: "Nach diesem Modell enthält jede Nachricht vier Botschaften (Sache, Selbstkundgabe, Beziehung, Appell). Das Kommunikationsquadrat beschreibt die Mehrschichtigkeit einer menschlichen Äusserung." Und in den Worten von Friedemann Schulz von Thun: "Wenn ich als Mensch etwas von mir gebe, bin ich auf vierfache Weise wirksam. Jede meiner Äusserungen enthält, ob ich will oder nicht, vier Botschaften gleichzeitig: eine Sachinformation (worüber ich informiere), eine Selbstkundgabe (was ich von mir zu erkennen gebe), einen Beziehungshinweis (was ich von dir halte und wie ich zu dir stehe), einen Appell (was ich bei dir erreichen möchte)." Das leuchtet zwar ein, beruht jedoch, wenn dies die menschliche Kommunikation beschreiben soll, auf einem Denkfehler, da wir weder wissen noch wirklich kontrollieren können, wie das, was wir aussenden, ankommt - und darauf kommt es bei der Kommunikation ja wesentlich an.
Für die Bildanalyse, auf die Martin Zurmühle es überträgt, ist dieses Modell so recht eigentlich viel geeigneter. Zurmühle unterscheidet hier eine Form-Ebene, das meint die Sach- beziehungsweise Inhaltsvermittlung mittels Punkten, Linien, Kurven, Flächen, Muster, Farben etc.; die Erzähl-Ebene, das meint, dass Bilder uns Einblicke in bekannte und unbekannte Welten vermitteln - man denke etwa an Reisereportagen; die Gefühls-Ebene, bei der, um ein Beispiel zu nehmen, häufig mittels Körpersprache Stimmungen und Seelenlagen ausgedrückt werden sowie die Ich-Ebene, die uns Informationen über den Fotografen liefert (Sujet-Wahl etc.).
Was für einen praktischen Nutzen hat nun dieses Modell?
"Durch die Kombination mehrerer 'Augen' gewinnen unsere Bilder an Kraft. Wir sprechen so den Betrachter umfassend an und unsere Fotografien werden spannender und wirkungsvoller."
Hat Martin Zurmühle recht mit seiner These? Ganz klar Ja. Wer sich selber davon überzeugen will, soll sich die Analyse des Polarlichts auf den Seiten 26 und 27 vornehmen.
Kurz darauf, auf Seite 29, steht dann zu lesen:
"Die Fotografie ist ein Teil der Bildenden Kunst. Lange Zeit stritten die Gelehrten darüber, ob Fotografien überhaupt Kunst sein können, da sie ja durch eine 'Maschine' erzeugt werden. Heute ist diese Frage geklärt und die Fotografie als Kunstform anerkannt." Das ist Blödsinn. Nicht mal die Frage, was Kunst ist, ist geklärt.
Zudem: Dass der Autor auf derselben Seite ein Zitat von Susan Sontag aufführt ("... ist die Fotografie keineswegs eine Kunstform"), darauf jedoch keinerlei Bezug nimmt, ist befremdlich.
Doch das sind Details, das Buch als Ganzes ist nicht nur eine erfreuliche Sache, weil es gestalterisch sehr schön gemacht ist, sondern auch, weil es auf vielfältigste Art informiert und anregt. So hält der Autor etwa im Kapitel "Bildanalyse" fest, dass die Fotografie (entgegen der Annahme vieler) nicht in der Lage ist, die Realität abzubilden. Sechs Punkte hat er ausgemacht, in denen sich die Wiedergabe der Realität in der Fotografie von unserer eigenen Wahrnehmung unterscheidet. So macht die Fotografie flach, rahmt ein, hält die Zeit an, setzt einen Fokus, verstärkt die Kontraste und verändert die Farben. "Die Fotografie ist keine naturgetreue Wiedergabe sondern eine Interpretation der Realität."
Das Buch ist in sechs Kapitel unterteilt. Neben dem bereits erwähnten "Bildanalyse", das von der "Kommunikation in der Fotografie" handelt, finden sich noch "Kommunizieren mit Bildern: Vom Vier-Ohren-Modell zum Vier-Augen-Modell", "Das Form-Auge: Die Gestaltung der Bilder mit geometrischen Formen", "Das Erzähl-Auge: Bilder, die etwas erzählen, sprechen uns stärker an", "Das Gefühls-Auge: Durch das Ansprechen der Gefühle die Wirkung der Bilder verstärken" sowie "Das Ich-Auge: Eine eigene, gut erkennbare und starke fotografische Sprache entwickeln."
Unter letzterem trifft man dann zum Beispiel auf ein Unter-Kapitel mit dem Titel "Motivlose Fotografie", das Aufnahmen von Helmut Gollmann vorstellt, der auf die Frage, weshalb er sich dem Motiv entziehe und was er damit ausdrücken wolle, antwortet: "Eine gute Frage {na ja}. Ich möchte meine Bilder eigentlich nicht intellektuell ausdeuten. Vielleicht nur soviel: mich interessiert ein sogenannt schönes Hauptmotiv im Bild nicht. Ich finde es viel spannender, wenn alle Bildteile die gleiche Gültigkeit haben und nicht sofort klar ist, warum diese Motiv fotografiert wurde." Ihn reize vor allem das Unfotogene, fügt er dann noch hinzu.
Ein weiteres Unter-Kapitel handelt von den Fotocollagen von Ulli Staiger, ein anderes von Fotodokumentationen, noch ein anderes von ... es ist erstaunlich, was für verschiedene Blickwinkel und Herangehensweisen an die Fotografie uns Martin Zurmühle, der zu jedem Thema einen anderen Fotografen porträtiert, hier zeigt - mein persönlicher Favorit war das Unter-Kapitel mit dem Titel "Silhouetten: Wirkungsvolle Schattenbilder gestalten". Was mich jedoch vor allem für diesen Band einnimmt, ist, dass es von praktischem Wert ist: man lernt in der Tat, wie der Autor das in der Einleitung verspricht, wie man die Wirkung, die das Bild beim Betrachter erzielt, beeinflussen und steuern kann.
PS: Auf Martin Zurmühles Homepage erfährt man auch, dass "Die MAGIE der Fotografie oder das GEHEIMNIS herausragender Bilder - BILDANALYSE nach dem Vier-Augen-Modell" beim Deutschen Fotobuchpreis 2011 Sieger in der Kategorie "Fotolehrbücher" (Siegertitel Silber) wurde.
Martin Zurmühle
Die MAGIE der Fotografie oder das GEHEIMNIS herausragender Bilder - BILDANALYSE nach dem Vier-Augen-Modell
Vier-Augen-Verlag, Luzern 2010