Eine bekannte Regel für Auslandskorrespondenten lautet sinngemäss so: einen Tag vor Ort ergibt einen Artikel, eine Woche einen vertieften Hintergrundbericht, ein Monat ein Buch und was darüber hinaus geht, ergibt rein gar nichts mehr, denn dann weiss man bereits zuviel, um die Kriterien von journalistischen Meldungen (klare Zuordnungen und dergleichen) erfüllen zu können. Bei Joris Luyendijks heisst die einem alten Hasen zugeschriebene Variante so: "Ein Buch über den Nahen Osten musst du in der ersten Woche schreiben. Je länger du dich hier rumtreibst, desto weniger kapierst du."
Von Bildern und Lügen in Zeiten des Krieges ist allerdings kein Buch über den Nahen Osten, sondern etwas ganz anderes, nämlich "ein Buch, das sagt, warum es so schwer ist, über die grossen Fragen in Nahost etwas Sinnvolles zu sagen."
Unter dem Titel "Journalismus für Anfänger" räumt Joris Luyendijk mit den Vorstellungen auf, die er selber vom Journalismus gehabt hat. "Ich hatte mir einen Korrespondenten immer als eine Art Echtzeit-Historiker vorgestellt. Wenn irgendwo etwas Wichtiges geschah, zog er los, ging der Sache auf den Grund und berichtete darüber. Aber ich zog nicht los, um irgendeiner Sache auf den Grund zu gehen. Das hatten andere längst erledigt. Ich zog nur los, um mich als Moderator an einen Originalschauplatz hinzustellen und die Informationen aufzusagen. Vorher hatte ich mir nie Gedanken darüber gemacht, aber es war eigentlich klar: Täglich gibt es Tausende von Pressekonferenzen, Gipfeltreffen, Beerdigungen, Demonstrationen, Anschlägen und Krawallen. Wie sollte eine einzige Redaktion das überblicken? Zugleich gibt es mindestens zehntausend Redaktionen auf der Welt. Was, wenn alle gleichzeitig auf einer Pressekonferenz oder einem Begräbnis auftauchen würden."
Als Joris Luyendijk in Kairo zur Uni ging wohnte er in einem Arbeiterviertel und blickte voller Verachtung auf die westlichen Ausländer auf der Nilinsel Zamalek, die den Eliten vorbehalten ist. Jetzt als Korrespondent lebt er selber dort. Und tut, was andere Korrespondenten auch tun. Er berichtet von Gipfeltreffen, Anschlägen, Bombardierungen oder diplomatischen Schachzügen.
Natürlich weiss er, dass das mit dem ägyptischen Alltag nicht viel zu tun hat. "Fotos und Fernsehen zeigten das Bild einer aufgewühlten Menschenmenge, an Ort und Stelle sah ich jedoch, dass es sich eigentlich nur um wenige aufgebrachte Männer handelte. Als die Kameras liefen, zückten sie wie auf Kommando ihr Feuerzeug, danach gingen sie zum Essen nach Hause. Überall sonst in der Stadt liefen in der Zwischenzeit die Kinder zur Schule, fuhren die Strassenbahnen ihre Runden und wurden auf dem Markt Tomaten feilgeboten."
Verlässliche Angaben darüber zu machen, wie die Dinge in einem Land so sind, ist ja bereits in sogenannten Demokratien (wo das Geld und nicht das Volk das Sagen hat, jedoch die Menschen sich frei äussern können) nicht ganz einfach, in einer Diktatur ist dies hingegen schlicht unmöglich. Und weil das unmöglich ist, beschreibt Luyendijk stattdessen, wie er die Diktatur unter Saddam Hussein erlebt. Das ist eindrücklich und wesentlich aussagekräftiger als die gängige Berichterstattung.
Von Bildern und Lügen in Zeiten des Krieges sollte für alle Pflichtlektüre sein, die ihr Weltbild aus den Medien beziehen. Weil sie überzeugend vorgeführt kriegen, dass die Medienwelt mehr über die Medienmacher als über die reale Welt aussagt.
Joris Luyendijk
Von Bildern und Lügen in Zeiten des Krieges
Aus dem Leben eines Kriegsberichterstatters
Tropen Verlag, Stuttgart 2014