Ich bin schon weit über die Hälfte,
als ich die Charakterisierung auf dem Buchumschlag lese. Es handle
sich um einen Liebesbrief an England (so auch der Untertitel), um
eine messerscharfe Analyse, die tragikomisch, liebevoll und wütend
sei. Da ich das Alles ganz, ganz anders gelesen habe, beschliesse
ich, ab sofort nie mehr einer Verlagspropaganda Beachtung zu
schenken ...
Mit England und Englischem hat "Dear
Oxbridge" zwar auch zu tun, doch hauptsächlich geht es darum,
dass die Autorin ganz unbedingt in Oxford und Cambridge (Oxbridge)
studieren wollte und das auch geschafft hat. Ein solches Unterfangen
bringt es mit sich, dass man viel über das Denken,
Fühlen und Handeln der jungen Fau (Nele Pollatschek ist 1988 in
Berlin geboren) erfährt – sie ist sehr ambitioniert, arbeitet hart
für ihre Ziele und hat einen guten Sinn für Humor. "Dear
Oxbridge" ist informativ und liest sich anregend. Aber ein
Liebesbrief ist etwas anderes, abgesehen vom letzten Kapitel, einem
warmherzigen und engagierten.
Dass sie's nach Oxbridge geschafft hat,
liegt nicht zuletzt daran (mit ihren Noten lag sie voll im
Durchschnitt), dass sie nicht aufgegeben und sich angepasst hat. "Ich
musste herausfinden, was eigentlich gefragt war." Für
Karriere-Interessierte ist das ein empfehlenswerter Ansatz.
Insbesondere die
Ausführungen über die unterschiedliche Art des Studierens in
Deutschland und England fand ich aufschlussreich. "Anstatt wie in Deutschland sehr wenig
sehr tief zu tun, tut man sehr. sehr viel mit einer gewissen
Oberflächlichkeit (…) Das Ideal des Oxbridge-Studium, speziell des
geisteswissenschaftlichen, ist dann auch nicht korrektes
wissenschaftliches Arbeiten und nicht mal Kenntnis des eigenen
Faches, sondern die Fähigkeit, über fast jedes Thema gewinnbringend
reden zu können."
"Wer in Oxbridge studiert, der
lernt nicht primär, die Methoden eines Faches, sondern wie man in
kürzester Zeit grosse Mengen an Daten so bearbeitet, dass man sich
eloquent und innovativ über sie äussern kann." Und dies, so
die Autorin, prädestiniere Oxbridge-Absolventen für eine Grosszahl
von Berufen, insbesondere für Führungspositionen. Ich habe da so
meine Zweifel, ob es an dieser Art der Ausbildung liegt (das Elite-Label, eine Zuschreibung, die wenig mit Fähigkeiten und mehr mit Privilegien zu tun hat, scheint mir wesentlicher), denn neben
den Oxbridge-Absolventen glauben auch die Absolventen der
französischen ENA (ich gehe davon aus, dass das französische Lernen
ein anderes ist) für Führungspositionen ganz besonders geeignet zu
sein.
Höchst spannend fand ich die
Aufklärungen über das englische Klassensystem ("Der Erhalt der
Monarchie, der Erhalt von England, wie wir es kennen, hängt davon
ab, dass es eine Familie gibt, die von sich selbst denkt, dass sie
erblich bedingt einzigartig ist.") und insbesondere das Kapitel
"They: Gendern auf Englisch", einer differenzierten
Auseinandersetzung mit Sprache und Denken. Gefallen hat mir auch,
dass Nele Pollatscheks Oxbridge-Begeisterung mit einer durchaus
nüchternen Haltung einher geht. "... dass die Art Mensch, die
nach Oxford geht, wahrscheinlich ein hohes Mass an Ehrgeiz hat, mit
Niederlagen nur schlecht umgehen kann und wahrscheinlich am
Hochstapler-Syndrom leidet …".
"Dear Oxbridge" ist nicht nur gut
geschrieben, es ist auch ein ausgesprochen lehrreiches und sehr
unterhaltsames Buch –
wunderbar amüsant sind etwa die Erfahrungen der Autorin mit dem
englischen Verkehr und der Pünktlichkeit. Auch mit dem englischen
Gesundheitssystem machte sie Bekanntschaft und wunderte sich darüber,
wie anders die Engländer im Vergleich zu den Deutschen über
Psychopharmaka denken. "Because drugs work", erhält sie
zur Antwort, als sie fragt, warum so oft Antidepressiva verschrieben
werden. Ihre Nachforschungen scheinen dies zu bestätigen. Ich selber
bin zum Schluss gekommen: Ja, Antidepressiva wirken, aber nicht gegen
Depressionen. Man lese James Davies' Cracked. Why Psychiatry is
doing more harm than good.
PS: Ich habe auch einmal einen
Abschluss an einer Institution mit exzellenter Reputation gemacht,
der Cardiff School of Journalism, Media and Cultural Studies, die auf
Wikipedia als "Oxbridge for journalism" bezeichnet wird,
und war weit weniger beeindruckt von meiner Ausbildung als Nele
Pollatschek von ihrer. Und so recht eigentlich fand ich den
Unterricht an der Charles Darwin University im australischen Darwin,
die (damals) meines Wissens über gar keine Reputation verfügte,
mindestens so gut, wenn nicht besser.
Nele Pollatschek
Dear Oxbridge
Liebesbrief an England
Galiani Verlag Berlin 2020