Wir leben in ego-zentrischen Zeiten. Ehrfurcht ist dem modernen Mensch abhanden gekommen, nicht nur ist ihm alles selbstverständlich, er glaubt auch, auf so ziemlich alles ein Anrecht zuhaben. Und so trampelt er denn auch auf diesem Planeten herum, wie es ihm so passt. Nach mir die Sintflut, traut man sich zwar nicht zu sagen, doch so handelt man. Wie ist das nur möglich? Aus Ignoranz. Andererseits: Wir wissen doch, was wir dem Planeten Erde antun, uns ist doch klar, dass wir ihn zerstören. Sicher, doch wann hat Wissen schon geholfen? Ignoranz bedeutet ja nicht die Abwesenheit von Wissen, sondern das Wissen zu ignorieren.
Ludwig Wittgenstein hat unterschieden zwischen sagen und zeigen. Und auch wenn "Von oben" vieles sagt, beschreibt und erklärt, so macht erst das Zeigen, der Blick von Oben, die Wahrnehmung aus der Distanz, wirklich deutlich, "wie verwundbar unsere Erde ist, wie fragil die sie umgebende Lufthülle – und wie sehr wir Menschen auf unseren Heimatplaneten achtgeben müssen. Zu einem Gefühl der Demut kommt eine grosse Verantwortung. Was man dagegen nicht sieht, sind menschengemachte Grenzen, wirtschaftliche oder politische Machtblöcke", so Esa-Astronaut Matthias Maurer im Geleitwort.
Worte können die Aufnahmen in diesem Band nur unzureichend beschreiben, man muss sie vor Augen haben, sich Zeit für sie nehmen und sie auf sich wirken zu lassen, um ihre Schönheit erfassen zu können. Und wie so oft bei Fotografien, muss einem erklärt werden, was man sieht. Etwa das Delta der Lena, das ich ohne erläuternden Begleittext wohl gar nicht hätte einordnen können (sind das vielleicht Blutgefässe?). Die Lena ist ein 4300 Kilometer langer Fluss, der dem Baikalsee in Sibirien, "dem erdgeschichtlich ältesten und tiefsten Süsswassersee des Planeten, in fast 1500 Metern Höhe", entspringt.
Es handelt sich um Satellitenfotos, die in diesem Band versammelt sind. Und ich frage mich: Was ist eigentlich ein Satellit? Ein Flugkörper, der die Erde im Weltraum umkreist, lese ich in Wikipedia. Als technischer Ignorant wundert mich nicht wenig, dass es "künstliche Gerätschaften" (was für ein Ausdruck!) gibt, die die Erde umkreisen und dann auch noch Bilder machen.
Doch nicht alle Aufnahmen in diesem Band sind von Satelliten aufgenommen worden. Das Bild vom April 2018, das die Stadt Genf und sein Umland aus gut 400 Kilometern Höhe zeigt, stammt nicht von, sondern aus einem Satelliten, aufgenommen mit einer Nikon D5 Digitalkamera und einem 1150-Milllimeter-Objektiv und zwar von einem Astronauten, dessen Name die Nasa jedoch nicht bekannt gibt.
"Von oben" ist ein ausgesprochen instruktives Werk. So erfährt man etwa, dass über der Insel Hainan mit ihren palmengesäumten Stränden jeden Nachmittag ein weisser Wolkensturm schwebt, der sich innerhalb von Stunden zu einem Gewitter auswächst. Und man lernt, dass man auf Südgeorgien mit Britischem Pfund zahlt, denn diese Insel, die 1700 Kilometer vor der Küste Argentiniens liegt, ist Teil des britischen Überseegebiets. Gezeigt wird jedoch auch, was für Unheil der Mensch auf der Erde angerichtet hat.
Faszinierend, irritierend und verblüffend (in dieser Reihenfolge) präsentierten sich mir nicht wenige Aufnahmen in diesem Band. So glaubt man etwa bei der aus drei Bildern zusammengesetzten Aufnahme aus dem entwaldeten brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso, abstrakte Kunst vor sich zu haben. Und die wenig lebensfreundliche Wüste Namibias wirkt wie ein Sandmeer; die dortigen Dünen ("Die Längsdünen erheben sich etwa 100 Meter über den Boden."), von denen ich einst einige überquerte, haben sich meinem Gedächtnis eingegraben.
"Die schönsten Geschichten, die Satellitenbilder über die Erde und uns Menschen erzählen", heisst es im Untertitel und das ist so recht eigentlich das Einzige, das ich an diesem eindrucksvollen, Horizont-erweiternden Band nicht mag. Was für ein Unsinn! Als ob Fotografien, diese zweidimensionalen Reduktionen einer dreidimensionalen Wirklichkeit, die es überdies so an sich haben, stumm zu sein, Geschichten erzählen könnten! Metaphorisch?! Bitte Nicht! Mir genügt die Realität, es ist unnötig, sie mit sogenannter Bedeutung aufzuladen.
Nicht nur beim Betrachten des Rio Javari, der im Westen Brasiliens die Grenze zu Peru bildet, zeigt sich dem, der sich Zeit nimmt und zu schauen versteht, dass die "Realität und die Natur selbst die Künstlerin ist", sondern auch bei den Aufnahmen des Wildflusses Vjosa, der zwar in Griechenland entspringt, jedoch hauptsächlich durch das Staatsgebiet Albaniens fliesst.
Nichts, das sich besser eignen würde, uns Ehrfurcht vor unserem Lebensraum zu lehren, als der Blick aus der Distanz. "Von oben" ist ein grandioses Werk!
Jörg Römer und Christoph Seidler (Hg.)
Von oben
Die schönsten Geschichten, die Satellitenbilder
über die Erde und uns Menschen erzählen
DVA, München 2021