Wednesday, 26 October 2022

Schöner Denken

Schöner Denken 2, was für ein toller Titel, denkt es so in mir. Schade, dass ich Band 1 verpasst habe, nehme jedoch an, dass angesichts der ständig zunehmenden Verwirrung in der nach wie vor wachsenden Konsumwelt Band Nummer 3 wohl nicht allzu lange auf sich warten lassen wird.

Die Bedeutung eines Wortes sei sein Gebrauch in der Sprache, meinte bekanntlich Ludwig Wittgenstein. Dieser entwickelt sich aufgrund vieler unregulierter Faktoren, doch das passt nicht allen. Und so glauben sie, sie müssten/sollten/dürften da Einfluss nehmen. Ob sie dafür eine Mehrheit haben, interessiert sie nicht, sie wissen ganz einfach, dass sie Recht haben. Mit solchen Leuten kann und soll man nicht diskutieren. Man kann das allerdings auch anders angehen. Aufklärend. Josef Joffe und Michael Miersch zeigen in Schöner Denken 2 wie das geht.

Damit Aufklärung gelingen kann, braucht es Menschen, die bereit und willig sind, sich aufklären zu lassen. Das ist eher selten, hindert Aufklärer jedoch nicht, weiterhin den Sisyphus zu geben, den man sich ja angeblich als glücklichen Menschen vorzustellen hat. Anders gesagt: Ich gehöre zu denen, die sich von Aufklärung eher wenig versprechen. Doch ich schätze intelligente, witzige und unterhaltsame Argumente. Und davon finden sich in diesem Band, der so recht eigentlich eine Sammlung der Absurditäten unserer Zeit darstellt, zahlreiche.

So fordert etwa das Referat für Stadtplanung und Bauordnung der Stadt München "Respekt" für städtische Bäume, damit diese "in Würde altern" dürfen. Mir scheint, da war eine PR-Agentur am Werk, die vermutlich gerade für eine Kampagne für ältere Mitbürger ausgezeichnet worden war. Von einer Behörde wäre eigentlich zu erwarten, "dass sie nicht Forderungen aufstellt, sondern sich um das Stadtgrün kümmert." In unserem Zeitalter der Ankündigungen und Versprechungen, auch als Businesspläne bekannt, ist das eher selten.

"Nach über 3000 Jahren anatomischer Überbewertung der Physis erkannte die akademische Welt im Licht der Genderwissenschaft, dass jeder Mensch sich frei entscheiden kann, ob er/sie/es weiblich, männlich oder divers ist." Was dabei unter anderem untergeht: Jeder Entscheid kann auch falsch sein. Doch wer sich dagegen auflehnt, dass der Mensch sich zum Gestalter von Allem und Jedem aufschwingt (kein Wunder, nimmt diese Tendenz zu, seit das Hubble- und das James Webb-Teleskop klar gemacht haben, dass wir noch unbedeutender sind, als wir bisher geglaubt haben), hat mehr als nur einen schweren Stand. "Kathleen Stock, Philosophin an der Universität Sussex, gab ihren Lehrstuhl auf, weil sie den Shitstorm nicht aushalten konnte. Die leidenschaftliche Feministin hatte behauptet, das biologisch bestimmte Geschlecht könne nicht durch Umbenennung abgeschafft werden."

Der Glaube, man könne mittels Sprache das Bewusstsein verändern, scheint in dem Masse zuzunehmen, in dem wir uns machtlos fühlen. Allerdings nicht bei allen. Es gibt auch Menschen, die ihre Orientierungslosigkeit im Universum einigermassen gelassen hinnehmen. Humor hilft dabei. Und von diesem findet sich in diesem Band viel. Auch an sich nüchterne Feststellungen wie "Es gehört zum festen Repertoire von Bundespräsidenten, Bischöfen und Leitartiklern Konsens zu rühmen und vor einer Spaltung der Gesellschaft zu warnen" lesen sich sehr lustig.

Ich reagiere allergisch auf Gängelungen sogenannt Wohlmeinender, ertrage es so ziemlich überhaupt gar nicht, von Trotteln belehrt zu werden, kann weder Politiker noch Pädagogen noch Medienschaffende (was für ein Ausdruck) wirklich ernst nehmen, doch ich lasse mir gerne echte Aufklärung gefallen. Und bin geradezu entzückt, wenn mich jemand auf Verblüffendes  aufmerksam macht, das mir vollkommen entgangen ist. Etwa darauf, dass  man kaum mehr von Flüchtlingen, dafür von Geflüchteten hört, weil Endungen wie "ling" oder "linge" angeblich abwertend seien!!

Speziell aufschlussreich fand ich die Ausführungen zur Kulturellen Aneignung, auch weil sie aufzeigen, wie aus einem nicht nur normalen, sondern bereichernden Austausch ein bornierter, destruktiver, lebensfeindlicher Vorgang werden soll. "Was erlaubte sich die Engländerin Agatha Christie, als sie den belgischen Meisterdetektiv Hercule Poirot erfand, der im Film vom russischstämmigen Peter Ustinov gespielt wird?" Man wünschte sich diesen politisch Korrekten einen Ausflug nach Asien, wo so ziemlich alles ohne zu fragen (und zu meiner Freude: es ist billiger!) kopiert wird.

Schöner Denken 2 ist auch deutlich und klar. "Kunst kommt von Können, nicht von Tugend." Oder: "Ein paar Klassiker: 'Frieden schaffen ohne Waffen,' 'Reden statt rüsten', 'politische Probleme lassen sich nie militärisch lösen'. Solche erhabene Parolen klingen stets besser als die Wirklichkeit; spätestens seit Putins Eroberungszug gegen die Ukraine sind sie Makulatur. Putin redet nicht; er raubt."

Die beiden Autoren sind bestens informiert unterwegs, wissen eigenständig zu denken und bieten mit diesem Werk auch die Möglichkeit zu mannigfaltigen Entdeckungen. Zu meinen liebsten gehört der William Buckley zugeschriebene Spruch: "Ich möchte lieber von den ersten 2000 Leuten im Boston-Telefonbuch regiert werden als von den Professoren der Harvard-Universität." Angesichts der Tatsache, dass die Verbreitung von unausgegorenem Schwachsinn vor allem Studierten zu verdanken ist, würde man sich die Ankunft von Humpty Dumpty auch im deutschsprachigen Sprachgebiet wünschen. Sie wissen nicht, wer das ist? Lesen Sie dieses Buch!

Josef Joffe
Michael Miersch
Schöner Denken 2
99 Phrasen für die geistige Inneneinrichtung der Nation
Edition Tiamat, Berlin 2022

Wednesday, 19 October 2022

Das Leben der Bilder und Die Kunst des Sehens

Es gibt wenige, die über Fotografie schreiben und die ich schätze. John Berger gehört dazu. Vor Jahren, bei einer IKRK-Ausstellung in Zürich, kam ich auch mit dem Fotografen Jean Mohr ins Gespräch, der oft mit Berger zusammengearbeitet hat, und war beeindruckt von diesem gänzlich unprätentiösen Mann. Mohrs Porträt von Berger in diesem Band ist überaus gelungen und und zeigt mir ihn ganz anders, als ich ihn aus Dokumentationen kenne. Geheimnisvoll, eine Figur aus einem französischen Film.

Dem Band ist ein ganz wunderbares und erfreulich persönliches Vorwort von Birgitta Ashoff beigegeben. "Niemals zuvor ist mir klargeworden, dass das erste thematische Objekt und die erste Metapher für die Malerei das Tier war, dass Tierblut als erste Farbe diente (...) Nie mehr werde ich unbefangen über die Jura-Autobahnen brausen, ohne an Courbets 'Gegend' zu denken, die die entscheidende Rolle bei der Herausbildung seiner Sehweise gespielt hat."

Bei mir haben Bergers Texte Ähnliches ausgelöst. Seit ich in seinem Ways of Seeing auf seinen Kommentar zu van Goghs Kornfeld, von dem Vögel auffliegen, gestossen bin – das Bild befindet sich unten an der Seite, man betrachtet es, wird dann vom Autor aufgefordert, umzublättern und liest, die sei van Goghs letztes Werk gewesen, bevor er Selbstmord verübte – , weiss ich um die zentrale Rolle der Informationen zum Bild. Es sind die Bildlegenden bzw. unser Vorwissen, die unsere Bildwahrnehmung leiten.

Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens versammelt Essays über Millet, La Tour, Francis Bacon und Walt Disney, Courbet, Turner, Rouault, Frans Hals sowie den Isenheimer Altar in Colmar. Nur zwei der Texte handeln von der Fotografie, der mein spezielles Interesse gilt: August Sanders Aufnahmen von Männern im Anzug sowie Cartier-Bressons Foto von Alberto Giacometti im Regen.

Ich staune, was John Berger zum Thema 'Der Anzug und die Photographie' alles einfällt. Die erste Aufnahme zeigt drei Jungbauern auf dem Weg zum Tanz (1914), die zweite eine Bauernkapelle (1913), die dritte vier Stadtmissionare (1931). Er schlägt ein Experiment vor. "Man decke die Gesichter der Musikgruppe mit einem Stück Papier ab und betrachte nur ihre bekleideten Körper." In der Folge macht er das umgekehrte Experiment. "Man bedecke die Körper der Musikanten und sehe nur ihre Gesichter an."

Berger folgert: Mit dem Tragen des Anzugs akzeptierten die Bauern "die Normen des Chic und des Gutangezogenseins." Dass sie sich diesen Normen beugten, die mit ihrem eigenen Erbe und ihrer täglichen Erfahrung nichts zu tun hatte, bedeute nichts anderes, als dass sie sich der kulturellen Vorherrschaft der ihnen übergeordneten Klasse unterwarfen. Was man von Berger, der in einem Bergdorf in Savoyen wohnte, nicht sagen konnte. "Bei unserer ersten Begegnung – am Genfer Flughafen zwischen den Attaché-Köfferchen der anderen  fanden sich Spuren von Acker. Lehm und Kuhmist an seinen braunen Manchesterhosen", so Birgitta Ashoff in ihrer Einleitung.

Apropos Anzug: Was ich ganz besonders faszinierend fand (wohl auch, weil  ich mir darüber noch nie Gedanken gemacht habe), war dies: "Der Anzug war im wesentlichen für die Gesten des Sprechens und des abstrakten Kalkulierens gemach. (Im Unterschied zu früheren Oberklassen-Kostümen, die den Gesten des Reitens, Jagens, Tanzens und Fechtens entsprachen.)"

"Der Akt des Sehens war für ihn eine Art Gebet – eine Möglichkeit, sich einem Absolutum zu nähern, ohne es freilich je greifen zu können", charakterisiert er Alberto Giacometti. Und beschreibt damit so recht eigentlich auch sich selber. Das Temperament eines Menschen zeigt sich in seinem Gesicht. Bei Giacometti (und auch bei Beckett) sieht er: "Ein Durchhaltevermögen, erhellt durch List. Wäre der Mensch nur Tier und nicht ein soziales Wesen, dann hätten alle alten Männer diesen Gesichtsausdruck."

John Bergers Essays machen unter anderem das gesellschaftliche Umfeld und die Absichten deutlich,  die für 'unser' Kulturverständnis leitend sind. So hält er in seinem Beitrag über Rodin fest: "Der Jubiläumskult ist zur schmerzlosen und oberflächlichen Information einer 'kulturellen Elite' da, die aus konsumwirtschaftlichen Gründen ständig erweitert werden muss. Dabei wird Geschichte konsumiert – und nicht verstanden."

Solcher Sätze wegen lese ich Bücher (und das vorliegende ist voll davon), denn sie machen mich die Welt neu und anders sehen. John Berger ist ein freier Geist, unterwegs abseits der Institutionen. Das ist selten. Und in seinem Falle ein Glück. Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens ist ein überaus erhellendes Werk der Aufklärung.

John Berger
Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2022

Wednesday, 12 October 2022

"Along the color line"

Immer mal wieder bin ich im Laufe der Jahre auf den Namen W.E.B. Du Bois gestolpert, doch das vorliegende Buch, das einerseits Kolumnen aus dem "Pittsburgh Courier", und andererseits mit einem  erhellenden Nachwort von Oliver Lubrich, Professor für Komparatistik an der Universität Bern, versehen ist, das ich so recht eigentlich spannender fand als Du Bois' Texte, weil da auch auf die Zeugnisse von anderen internationalen Beobachtern über Deutschland hingewiesen wird. Es sind die verschiedenen Gesichtspunkte, die mich interessant dünken, etwa von Virginia Woolf, Albert Camus, Samuel Beckett oder Alejo Carpentier, der einmal "von einer (fiktionalen) Reise nach Weimar, wo der Geruch von Lederstiefeln die Atmosphäre bestimmt" erzählt. Übrigens: Obwohl Du Bois niemals mit den Nazis paktierte, verfasste er 1953 jedoch eine Eloge auf Stalin.

W.E.B. Du Bois (1868-1963) gehörte zu den Protagonisten der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Er studierte im Berlin der Kaiserzeit bei Max Weber und promovierte als erster Afroamerikaner an der Harvard University. Seine Antwort auf die Frage, wie gross diese Ehre für ihn gewesen sei, zeugt von einem grossen Ego: "The honor, I assure you, was Harvard's." Sein Blick auf Deutschland ist ein afroamerikanischer sowie elitärer; er gibt an, in Nazideutschland keine Diskriminierung erfahren zu haben, konstatierte jedoch verblüfft, dass  er wiederholt für einen Juden gehalten wurde.

Unter dem Titel "Die deutschen Vorwürfe gegenüber den Juden" zitiert er einen Regierungsangestellten um die vierzig mit diesen Worten: "In der Tiefe seines Nachkriegselends verspürte das deutsche Volk eine bittere Eifersucht und Furcht vor diesem fremden Element, das im eigenen Staat die Macht übernahm. Es brauchte lediglich einen Demagogen, um aus diesem Gefühl Kapital zu schlagen."

Verhält sich ein Volk unerklärlich, so liege das meist daran, dass man den Hintergrund nur unzureichend verstehe, so Du Bois. Der gängige Ansatz also, gemäss dem es für alles identifizierbare Gründe geben muss. "Deutschland hat in seiner jüngeren Geschichte vier Schrecken durchlebt, die kein Volk durchmachen und dabei normal bleiben kann. Das sind: Krieg, Versailler Vertrag, Inflation sowie wirtschaftlicher Zusammenbruch und Revolution." Nun ja, der Mensch braucht keine Gründe, um sich unmenschlich zu verhalten, er ist so. Und dass wir das bzw. uns selber nicht verstehen, ist zwar auch nichts Neues, sollte aber tunlichst akzeptiert werden.

Wie jeder Reisende, so ist auch Du Bois ständig am Vergleichen. In England fallen ihm die guten Manieren auf, die man in Amerika verloren zu haben scheint. Das Rassenproblem in Belgien, das in eine flämische und eine französische Hälfte geteilt ist, kommt ihm abstrus vor. Für die Mehrheit der Amerikaner erfolge ein Europa-Besuch aus Neugier, schreibt er, "das Alte zu entdecken, das Merkwürdige, das Ungewöhnliche; sich davon zu überzeugen, dass es Menschen gibt, die nicht Englisch sprechen, und dass Französisch und Deutsch tatsächlich von einigen seltsamen Leuten benutzt werden, um ihre Gedanken auszudrücken, und nicht als Übung im Schulunterricht." Wunderbar!

Wie für Zeitungskolumnisten üblich, schreibt auch Du Bois über so ziemlich Alles und Jedes. Über die  Landwirtschaft, über Rasse und Lebensumstände, den Balkan, "Die Oper und die Schwarzen", den Nationalsozialismus, Ägypten, Kleidung und Lebensmittel, die Olympischen Spiele. Und und und ...

Für mich am aufschlussreichsten waren seine Ausführungen über den Status des Amateurs, der für die Teilnahme an den Olympischen Spielen Voraussetzung ist. "Dies ist nichts als das Echo aus einer Zeit, als nur die Reichen Sport treiben konnten und keiner Arbeit bedurften." Und sein Hinweis auf die Bedeutung der Propaganda. "Die grösste  Erfindung des Weltkriegs war die Propaganda. Die systematische Verzerrung der Wahrheit zu dem Zweck, grosse Mengen von Menschen alles glauben zu machen, was die Regierung sie glauben machen will, hat sich zu einer Kunstform entwickelt, wenn nicht zu einer Wissenschaft."
.
W.E.B. Du Bois
"Along the color line"
Eine Reise durch Deutschland 1936
C.H. Beck, München 2022

Wednesday, 5 October 2022

50 Fragen an die Kunst

Autor Kolja Reichert, geboren 1982, ist seit 2021 Programmkurator für Diskurs (nirgendwo ist der Mensch kreativer als in der Erfindung von Berufen) an der Bundeskunsthalle Bonn. Mit diesem Buch hat er sich einiges vorgenommen, denn er will, so der Verlag, "die Kunst von den Prätentionen und Missverständnissen befreien, die uns den Zugang zu ihr verbauen." Zudem habe er ein Buch für alle geschrieben, die sich von der Kunst ausgeschlossen fühlen. "Und für alle, die vergessen haben, warum sie bei ihr mitmachen." Mit anderen Worten: Ich gehöre nicht zum Zielpublikum, ich bin einfach nur neugierig, ganz allgemein. Zudem bin ich voreingenommen: Ich halte die meiste Kunst für bestenfalls einen guten Einfall. Und die meisten Künstler, ob Frau oder Mann, für eitle Wichtigtuer.

Kolja Reichert, das merkt man schon nach den ersten paar Seiten, ist ein Kunstbegeisterter, der gut zu schreiben versteht, und dem die Auseinandersetzung mit Kunst zu mehr "Wachheit und Ausgeglichenheit im eigenen Leben" verholfen hat. Wunderbar, kann ich da nur sagen, auch wenn jede ernsthafte Auseinandersetzung mit irgendetwas vermutlich zum selben Ergebnis führen wird.

Nichtsdestotrotz, im Falles des Autors war es die Kunst, und über diese weiss er nicht nur viel Anregendes zu sagen, für die lebt er so recht eigentlich – sein Enthusiasmus und sein Engagement sind fast mit Händen zu greifen. "Je mehr Kunst ich gesehen habe, desto reicher wurde auch die Welt um mich herum." Ich kenne dieses Gefühl, ich verspürte es, als ich die Fotografie entdeckte. Und den Journalismus. Und das Interkulturelle. Und die Linguistik. Eigentlich immer, wenn ich (meist nicht für lange) für etwas brannte. Kolja Reichert, so kommt es mir vor, brennt für die Kunst. 

Einigermassen verblüffend ist es ja schon: In vielen Bereichen der Gesellschaft werden Experten respektiert. Man denke an Corona oder Atomkraftwerke oder die Luftfahrtindustrie. Im Bereich der Kunst ist das nicht so, da vertraut jeder auf sein eigenes Gefühl. Vielleicht hat es ja damit zu tun, dass es keine Instanz gibt, die verbindlich festlegen könnte, was Kunst ist. Doch es gibt Experten; ihre Aufgabe sei es, Kriterien zu formulieren, an denen die Kunst gemessen werden kann, so Autor Reichert.

"Wir glauben, erst wenn ein Kunstwerk etwas bedeutet, ist es ein gutes Kunstwerk. Ich denke, es ist umgekehrt: Wenn es klar und deutlich etwas bedeutet, ist es kein gutes Werk", lese ich. Stimmt das, stimmt das nicht? Keine Ahnung. Doch es deutet die Richtung an: Kunst ist etwas, wofür man sich Zeit nehmen, auf das man sich einlassen muss. Reagiert man darauf bewegt oder erstaunt oder ergriffen, wäre das ein Hinweis darauf, dass es sich um Kunst handeln könnte.

Das leuchtet mir ein. Und erinnert mich an Robert M. Pirsigs Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten, worin er versucht, Qualität zu definieren. Doch so sehr er sich auch bemüht, es geht nicht, sie lässt sich gedanklich/sprachlich nicht fassen. Was hingegen funktioniert: Man kann sie spüren. Dazu braucht es kein Vorwissen, nur Bereitschaft ist erforderlich. The readiness is all, sagt Horatio in Hamlet.

"Wie erkennt man ein Kunstwerk?" gehört für mich zu den lustigsten der 50 Beiträge, denn man lernt dabei, das alles, wirklich alles zur Kunst erklärt werden kann. Die Vorstellungskraft  des Menschen kennt bekanntlich keine Grenzen. Der Glaube ebenso wenig. Für mich gilt: Wie jeder Gaube sollte auch der Glaube an die Kunst nicht allzu ernst genommen werden.

Kann ich das auch? ist sowohl erfrischend als auch ärgerlich. Erfrischend, weil Kolja Reichert die Fragen stellt, die wohl viele stellen und sie eigenständig beantwortet; ärgerlich, weil er meines Erachtens der Kunst und ihren Machern (Frauen sind mitgemeint) eigenartig devot begegnet – so glaubt er etwa, er müsse zuerst die Sprache der Kunst lernen, um sich mit Künstlern austauschen zu können. Eine eigene Sprache und die damit verbundene Art zu denken, ist ein bewährtes Mittel, Nicht-Initiierte draussen zu halten und seine privilegierte Stellung zu sichern. Viel Substanz steckt meist nicht dahinter.

50 Fragen an die Kunst, so der Untertitel, lädt ein zum Selber-Denken. Ich jedenfalls habe oft gestutzt und mich gefragt, ob der Autor seine apodiktisch formulierten Verallgemeinerungen wirklich ernst meint. "... alles, was wir tun, beruht auf Gewohnheiten, die Menschen über Generationen ausgebildet haben. Kunstwerke brechen aus diesen Gewohnheiten aus." Nein, nicht alles (nur fast alles), was wir tun, beruht auf Gewohnheiten. Auch brechen Kunstwerke nicht notwendigerweise aus diesen Gewohnheiten aus. Trotzdem ist der Grundgedanke, dass uns Kunstwerke aus unseren Gewohnheiten reissen können, richtig. Das tut allerdings auch ein Sprung ins kalte Wasser.

Nicht wenige der Fragen sind eigentlich keine ("Warum kann nicht alles sofort verständlich sein?", "Kann man über Kunst sprechen?") und wohl eher der Tatsache geschuldet, dass es 50 Fragen werden sollten. Zudem sind einige etwas gar weit hergeholt: "Was ist der Unterschied zwischen einem Kunstwerk und einem Menschen?", "Was ist der Unterschied zwischen einem Kunstwerk und einem Autor?" Der rote Faden dabei ist der Autor und seine Neugier  das genügt meines Erachtens vollkommen.

Besonders aufschlussreich empfand ich die Ausführungen zu "Wie gross ist die Kunstwelt?", wo ich auch lernte, dass man erst vom Ende des 18. Jahrhundert an, also während der Aufklärung, Kunst als Begriff verwendete. "Vorher gab es Architektur, Malerei, Bildhauerei, Musik und Literatur, und sie alle galten als Handwerk. Jetzt entwickelte sich eine Vorstellung davon, was sie vom Handwerk unterschied und was sie der Gesellschaft brachten, Freiheit zum Beispiel. Mit dem Bürgertum, das sich seine eigenen Geschmacksurteile bildete, entstanden Theorien der Ästhetik, und der Kunstmarkt, der im 17. Jahrhundert in den Niederlanden entstanden war, blühte."

Was dieses Buch lesenswert macht, ist Kolja Reicherts engagierte Art und Weise sich mit Kunst und was gemeinhin dazu gehört, auseinanderzusetzen. Dabei deutlich geworden ist für mich vor allem, dass Kunst nicht wirklich zu fassen ist. Einschlägiges Wissen kann die Wertschätzung steigern, wie man am Beispiel des Autors gut erkennen kann, doch scheint es auch eine Ebene zu geben, auf der man intuitiv spürt, dass man es mit etwas ganz Besonderem zu tun hat. Siehe auch hier.

Fazit: Vielfältig anregende, hilfreiche Aufklärung.

Kolja Reichert
Kann ich das auch?
50 Fragen an die Kunst
Klett-Cotta, Stuttgart 2022