„Was Sie in Händen halten, sind 975 Gramm Erinnerungen an eine verflossene Zeit. Eine Zeit, in der alles noch gemächlicher vor sich ging. Eine Zeit ohne Mobiltelefone, iPod, Bildbearbeitung, Glasfaserkabel und dergleichen. Eine andere Zeit, aber weder eine bessere noch eine schlechtere. Damals brachte der Pöstler noch zweimal täglich – am Vormittag und am Nachmittag – die Post ins Haus. Damals hatte die „Neue Zürcher Zeitung“ – welch ein Luxus – werktags drei Ausgaben: Eine am Morgen, eine am Mittag und eine am Nachmittag.“
Mit diesen Zeilen leitet der Fotograf Charly Bieler sein gelungenes Werk Das vergessene Gestern ein – ich fühlte mich sofort gepackt. Täglich drei Ausgaben der NZZ? Ich staunte. Und es war nicht das einzige Mal, denn bei der Beschäftigung mit diesem Bildband gibt es Einiges zu staunen. So war mir zum Beispiel gänzlich unbekannt, dass es bis Ende Juli 1997 in Chur eine Schokoladefabrik, Chocolat Grison, gegeben hat. Oder, bis 1979, dampfbetriebene, fahrende Schnapsbrennereien, mit denen man auf die Stör ging – „Ich mag mich nicht mehr entsinnen, wo diese Aufnahme entstand: Gesichert ist einzig dies …“, liest man im Text, der dem Bild beigegeben ist, und es sind nicht zuletzt solche Informationen, die Bielers Fotos die Glaubwürdigkeit verleihen, die überzeugenden Fotojournalismus auszeichnen.
Mit diesem Buch Zeit zu verbringen, bedeutet auch, an den Entdeckungen, die Charly Bieler gemacht hat, teilzuhaben. An dieser hier zum Beispiel: „An diesem Tag verstand ich die Welt nicht mehr. Ich stand vor dem kleinen Bahnhofsgebäude in Morteratsch bei Pontresina und blickte durch ein Fenster in die Schalterhalle. Dort schien die Zeit stillgestanden zu sein. Der Raum präsentierte sich wie ein Bahnhof aus meiner Jugendzeit, und auch am Stationsgebäude waren einige Dinge angebracht, die eigentlich in dieser Zeit nichts mehr zu suchen hatten. Jedenfalls war ich erstaunt, dass ich den alten Bahnhof nicht schon bei meinen früheren Besuchen wahrgenommen hatte.“ In der Folge stellte sich dann heraus, „dass alles nur Kulisse für eine Hollywoodproduktion“ war und „High Noon“-Regisseur Fred Zinnemann vor Ort drehte, und zwar mit Sean Connery und Betsy Brantley.
Es gehört zum Wesen der Fotografie, dass vor Jahren gemachte Schnappschüsse im Rückblick plötzlich anders gesehen werden als dies zur Zeit der Aufnahme der Fall gewesen ist. So zeigt ein Foto etwa den gerade zum Bundesrat gewählten Leon Schlumpf beim Handharmonikaspiel zusammen mit seiner damals 23jährigen Tochter, der heutigen Bundesrätin Evelyne Widmer-Schlumpf – besonders fröhlich ist es dabei offenbar nicht zu und her gegangen.
Der Fotograf Bieler hat ein ungemein lehrreiches Buch geschaffen, eine Fotodokumentation wie sie besser fast nicht sein könnte und das meint, dass Text und Bild sich nicht nur ergänzen, sondern zusammengehören. Ein Beispiel: Unter dem Titel „Füchse impfen“ findet man eine Aufnahme vom 18. Mai 1982, die in der Lagerhalle des Kuoni-Areals im Karlihof in Chur aufgenommen wurde und die Schürzen und Handschuhe tragende Männer zeigt, die, wie der Begleittext erläutert, Hühnerköpfe mit einem Impfstoff präparieren, um sie dann als Köder auszulegen, da der Tollwut Virus in Graubünden auf den Fuchsbestand übergegriffen hatte. „Die Aktion war von Erfolg gekrönt: Bald darauf war die – für Menschen nach einem Biss tödlich verlaufende – Krankheit eingedämmt.“ Anschaulicher kann man eigentlich Geschichte nicht vermitteln.
Charly Bieler beschreibt seine Arbeit selber so:
Ich war dabei.
Und manchmal war ich auch der Erste.
So Sachen aus Graubünden.
Das Aussergewöhnliche des Gewöhnlichen.
Oder von der Wichtigkeit des Unwichtigen.
Mit meiner Nikon-Kamera habe ich ungewollt
Ein vergessenes Gestern konserviert.
Ich habe dabei nichts anderes getan,
als die tägliche Normalität einzufangen.
146 Mal Schwarzweiss in Schwarzweiss
dokumentiert.
120 Protokolle eines Neugierigen.
Bielers Selbsteinschätzung beschreibt diesen Bildband recht gut. Hinzugefügt gehört jedoch, dass ihm das, was er da alles fotografiert und getextet hat, wirklich gut gelungen ist.
Noch dies: Zu den letzten beiden Bildern (von Shawne Borer-Fielding das eine, von Matti, einer 19Jährigen aus Surinam, mit ihrer Tochter Dianas das andere), schreibt Bieler: „Eigentlich hätten diese beiden letzten, im Ausland entstandenen Fotos, in diesem Buch nichts zu suchen. Aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie dennoch zu publizieren. Sie gehören nämlich zu meinen Lieblingsbildern, die ich in den letzten 40 Jahren aufgenommen habe. Und sie stehen gleichzeitig als Symbol für die breite Palette an Themen, die ich in diesen vier Jahrzehnten meiner journalistischen Tätigkeit behandeln durfte.“ So gelungen ich beide Aufnahmen auch finde, mein eigenes Lieblingsfoto in diesem Band ist ein anderes: es zeigt die Pappelallee der Kantonsstrasse von Bad Ragaz nach Landquart, das Bieler treffend so kommentiert: „Welch ein Licht! … Es war ein Morgen zum Umarmen!“.
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Charly Bieler
Das vergessene Gestern
Südostschweiz Buchverlag Zürich/Chur 2009