Man muss die Medienzivilisation wohl einmal für lange Zeit - für Monate oder Jahre - völlig verlassen haben, um bei der Rückkehr wieder so zentriert und konzentriert zu sein, dass man die erneute Zerstreuung und Dekonzentration durch Teilnahme an den modernen Informationsmedien bewusst bei sich selbst beobachten kann. … Wir halten es inzwischen für normal, dass wir in den Illustrierten - fast wie in einem alten Welttheater - alle Regionen hart nebeneinander finden, Berichte über Massensterben in der Dritten Welt zwischen Sektreklamen, Reportagen über Umweltkatastrophen neben dem Salon der neuesten Automobilproduktion. Unsere Köpfe sind dazu trainiert, eine enzyklopädisch breite Skala von Gleichgültigkeiten zu überblicken - wobei die Gleichgültigkeit des Einzelthemas nicht ihm selbst entspringt, sondern seiner Einreihung in den Informationsfluss der Medien. Ohne ein jahrelanges Abstumpfungs- und Elastizitätstraining kann kein menschliches Bewusstsein mit dem zurechtkommen, was ihm beim Durchblättern einer einzigen umfangreichen Illustrierten zugemutet wird; und ohne intensive Übung verträgt keiner, will er nicht geistige Desintegrationserscheinungen riskieren, dieses pausenlose Flimmern von Wichtigem und Unwichtigem, das Auf und Ab von Meldungen, die jetzt eine Höchstaufmerksamkeit verlangen und im nächsten Augenblick total desaktualisiert sind.
Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft
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