Sunday, 24 April 2011

Schreiben in Quito

Ich kann schreiben, weil ich ein Esposo in Quito bin. In der Schweiz hätte ich niemals den Mut dazu gehabt. Ich hätte dem Druck meiner Richter, als Anwalt in ihrem Saal Plädoyers in Scheidungsprozessen zu halten, nicht widerstanden. Ich hätte gemeint, wie Karl eine Karriere machen zu müssen. Vermutlich wäre ich ebenfalls bald wie eine ausgepresste Zitrone gewesen.

Beim Schreiben hätte ich ständig den Blick des Nachbarn auf meinem Bildschirm gespürt. Wie hätte ich erklären sollen, dass ich jetzt ganz einfach schreibe? Die Erwartungen und Muster daheim hätten mich erstickt. Ich hätte geglaubt, mich rechtfertigen zu müssen. Spätestens im Kapitel ‚Am Rockzipfel’ wäre ich in Solothurn eingebrochen.

Als Esposo nehme ich mir die Freiheit zu tun, was ich will. So bleibe ich vorerst auf meiner Bank sitzen. Ich zähle Rosen. Ich beobachte, wie sich ein Paar küsst. Ich grüsse eine ältere Dame, die ihren Hund spazieren führt. Ich sehe, wie ein Gärtner den Park pflegt. Ich höre eine Ambulanz im Hintergrund. Ich fotographiere eine Statue, die an die Opfer aus dem Bürgerkrieg und der Diktatur erinnert. Ich bin dankbar, dass ich Lima als Esposo sehen darf und nicht mehr als Delegierter des IKRK die Schattenseiten des Lebens erleben muss. Ich freue mich auf Lilian.

Um drei Uhr verlasse ich meine Bank. Ich gehe zurück in unsere Mietwohnung, setze mich ans Pult und mache einen Neuanfang mit dem Esposo in Quito.

Auszug aus: "Der Esposo - Ein Ehemann in Quito" von Marcel von Arx, erscheint im September 2011 im Karin Fischer Verlag, Aachen

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