Sunday, 12 June 2011

Yanick Lahens

Yanick Lahens, geboren 1953 in Port-au-Prince, gelte als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Haitis, lässt mich der Verlag wissen. „Beim Einschlafen frage ich mich, was ich wohl schreiben könnte, angesichts dieser riesigen Herausforderung, die da auf uns eingestürzt ist", fragt sie sich nach dem Erdbeben vom 12. Januar 2010. Die Antwort findet sich in diesem schmalen und berührenden Buch.

„Am 12. Januar 2010 um 16 Uhr 53, als die Dämmerung schon auf der Suche nach ihren Farben von Ende und Anfang war, wurde Port-au-Prince vierzig Sekunden lang von einem jener Götter besessen, die, wie es heisst, Fleisch essen und Blut trinken. Gewaltsam besessen die Stadt, bevor sie mit zerzausten Haaren, verdrehten Augen, gespreizten Beinen, klaffendem Geschlecht zusammenbrach, die Eingeweide aus Schrott und Staub, ihre Adern mit ihrem Blut offengelegt. Ausgeliefert, nackt und bloss war Port-au-Prince, aber nicht schamlos. Schamlos war die erzwungene Entblössung. Schamlos war und ist die skandalöse Armut.“

Lahens beschreibt nicht nur, wie sie selber das Beben erlebt hat, sie lässt uns auch wissen, dass der Ingenieur und Seismologe Claude Prépetit während mehrerer Monate im Radio vor einem Erdbeben gewarnt hatte, erzählt vom Tropenhimmel in dieser Jahreszeit („Sterne in Hülle und Fülle. Ein Geschenk. Schönheit, für die man gar nichts tun muss. Und nur reine Freude als Gegengabe. Der Himmel scheint sich zu senken, sich uns freundlich zuzuneigen, damit wir seine Sterne berühren.“) und wie die meisten Leute nach dem Beben fantasierten („Ich spüre Erschütterungen, die keine sind.).

„Und plötzlich tut sich der Boden auf“ ist ein höchst informatives und notwendiges Buch, denn was Fernsehbilder zeigen (können/wollen) und was für Bilder die Menschen vor Ort konkret vor Augen haben, ist nicht dasselbe. So wurde etwa die Hilfe der kubanischen und der dominikanischen Ärzte kaum oder gar nicht in den Massenmedien erwähnt. Genauso wenig hörte man von der gegenseitigen Hilfe der Haitianer, „über soziale Grenzen und Hautfarben hinweg. Ein Wunder. In einem Land, in dem so starke Ausgrenzung herrscht und Apartheid. Ansatzpunkte wären also da. Man müsste nur ansetzen.“

Man erinnert sich vermutlich nicht mehr, doch es ist die Rede gewesen von Hilfsgeldern in Höhe von jährlich zwei Milliarden Dollar. Was Lahens wie folgt kommentiert: „Wir wissen, die versprochene Hilfe wird nicht kommen. Aus lokalen Gründen, aber auch, weil die internationale Gemeinschaft immer schon widersprüchliche Beziehungen zu Haiti hatte. Die alte Leier. Wir kennen sämtliche Strophen und den Refrain.“

Ich lese, dass es in Haiti „zwischen sechs- und achttausend, bis zu zehntausend sogar, je nachdem, welcher Quelle man glaubt“, NGOs gibt und dass, wenn sich eine NGO irgendwo einmietet, die Mieten rasant ansteigen. Klar, dass NGOs nicht die Lösung sind (ausser für deren Mitarbeiter) dürfte mittlerweile bekannt sein, doch was ist/wäre denn dann die Lösung für dieses so arg gebeutelte Land? Eine solche Lösung findet sich in diesem Buch nicht, dafür aber liefert es vielfältige Denkanstösse und Anregungen, denn „die Literatur hat die grosse, wunderbare Macht, uns, weit über jede fachliche Erklärung und sachliche Information hinaus, das Wesen der Welt zu vermitteln.“

Yanick Lahens
Und plötzlich tut sich der Boden auf
Haiti, 12. Januar 2010
Rotpunktverlag, Zürich 2011

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