Es gibt nur wenige Autoren bei denen ich mir bereits bevor ich das Buch zur Hand genommen habe, gewiss bin, dass mich eine intensive, aussergewöhnliche und bereichernde Lektüre erwartet. Bei den Frauen sind es Janet Malcolm, Alice Munro und Zora del Buono, von deren neuestem Buch „Hundert Tage Amerika“ hier die Rede sein soll.
Bei diesem schön gemachten, im Mare Verlag erschienen Buch, handelt es sich um eine Reisereportage (um eine literarische, habe ich irgendwo gelesen, und mich gefragt, ob es auch unliterarische gibt. Wie auch immer, doch wenn „literarisch“ meint, dass sie gut geschrieben ist – das ist sie zweifelsohne); im Untertitel liest man, dass man von „Begegnungen zwischen Neufundland und Key West“ erfahren wird. „They are very simple over here, sagte mehr als einer in Halifax. Neufundländer gelten als eine Art kanadische Ostfriesen oder Appenzeller, hinterwäldlerisch und einfältig, aber lieb ... Jegliche Verfeinerung urbanen Lebens fehlt, keine Doppelbödigkeiten und kein Chichi, die Dinge sind, wie sie sind: pures Dasein. Nach sechshundert Kilometern und drei Tagen Tischgespräche-Belauschen dann die (simple) Erkenntnis: Frauen reden meist über Kinder, Enkel und Fernsehserien, Männer über Fische.“
Zora del Buono beobachtet nicht nur genau, sie hat auch ein gutes Auge für Skurilles: „Das schottische Ehepaar, sie ganz dick, er ganz dünn, sie reisen mit dem kanadischen Cousin samt Frau, er ganz dick, sie ganz dünn, alle vier sind Wikingerfans, deshalb sind sie hier.“ (...) „Ich bin mit Jim verabredet, dem Besitzer der Lodge ... Doch Jim ist nicht da. Jim war auch gestern Abend nicht da. Er sei beim Fischen, sagt die Frau im anliegenden Restaurant, ein ausgestopfter Elchkopf hinter ihr an der Wand. Es regnet in Strömen, und der Mann ist fischen gegangen.“
Der Text wird gelegentlich unterbrochen mit Sprachübungen wie etwa: „moose – Elch“, oder „Eisberg – iceberg (falsch: ice mountain)“. Auch Fussnoten finden sich ab und zu, zum Beispiel für „Norstead“ ein im Jahr 2000 erbautes Museumsdorf oder für „Elch“, bei dem es sich offenbar um den grössten aller Hirsche handelt. Mir haben diese Unterbrüche und Verweise gut gefallen, weil sie zum einen informativ, und zum andern dem Lesegenuss förderlich waren – es tut dem Auge wohl, wenn ein solch langer Text gestalterisch unterbrochen wird. Über eine Fussnote habe ich mich jedoch geärgert: Moritz Freiherr von Hirsch auf Gereuth sei der „Erbauer der ersten Eisenbahnlinie zwischen Westeuropa und Konstantinopel“ gewesen, lese ich da. Solche Geschichtsschreibung sollte man heutzutage nicht mehr weiterverbreiten, denn erbaut wurde diese Linie zweifellos nicht von diesem Unternehmer, sondern von denen, die für ihn arbeiteten.
Diese Reisereportage unterhält, informiert und klärt auf – ich hatte als Leser das Gefühl an dem vielfältigen Lernprozess, den die Autorin auf dieser Reise gemacht hat, teilnehmen zu dürfen. In Sachen Burka-Tragen, zum Beispiel. Übrigens: auch diesen schönen Satz findet man dazu: „Gegen den Strom schwimmen macht schön, schlank und stark.“
Zora del Buono sei, hat Spiegel Online geschrieben, „eine Erzählerin, die weiss, wie man aus Sätzen Funken schlägt.“ Der Mare Verlag scheint sehr angetan von diesem Satz, weshalb er ihn auch immer mal wieder zu Werbezwecken einsetzt; ich selber halte ihn für irreführend, denn er suggeriert ein sprachliches Feuerwerk und ein solches bietet die Autorin nicht. Was ihr Schreiben stattdessen auszeichnet, ist ein ausgeprägtes Rhythmusgefühl, kompositorisches Geschick, Differenziertheit, Witz, Neugier auf die Welt – man versteht bei der Lektüre von „Hundert Tage Amerika“, dass eine Reportage Kunst sein kann:
„10 000 tote Seeleute. Die Zahl ist ungeheuerlich, und wenn man sich nur kurz die eigene Panik vergegenwärtigt, die einen im Wasser befallen kann (die Erinnerung, wer kennt sie nicht: im Schwimmbad eine fremde Kinderhand auf dem Kopf, die einen nach unten drückt und nicht aufhören will zu drücken; diese Angst vor dem Ersticken, das erleichterte Nach-Luft-Schnappen danach, japsend und beschämt), erscheint das tausendfache Ertrinken im kalten Meer noch viel dramatischer. Sable Island ist das, was man einen Schiffsfriedhof nennt, einen der bekanntesten weltweit, rund 350 Schiffe gingen hier unter, oft war der Nebel schuld.“
Zora del Buono
Hundert Tage Amerika
Mare Verlag, Hamburg 2011
www.mareverlag.de