"Wir halten es nicht mit Stefan Zweigs Bemerkung, der sagte: 'Nichts ist so sehr typisch für den Brasilianer, als dass er ein geschichtsloser Mensch oder zum mindesten einer mit einer kurzen Geschichte ist.' Im Gegenteil, 515 Jahre sind eine lange Geschichte", schreiben Ursula Prutsch und Enrique Rodrigues-Moura im Vorwort zu "Brasilien. Eine Kulturgeschichte". Und sie halten fest: "Wir wissen, dass Brasilien vor 1498 nicht geschichtslos war; doch würden wir uns mit der Geschichte davor auf ein Terrain begeben, für dessen Analyse uns die Kompetenzen fehlen."
Mit anderen Worten: Um die kulturelle Vielschichtigkeit Brasiliens von 1498 bis 2013 beurteilen zu können. halten sich die beiden für kompetent. Und das sind sie nach gängiger Auffassung durchaus. Ursula Prutsch (Prof. Dr.) und Enrique Rodrigues-Moura (Prof. Dr.) haben lange Jahre darüber geforscht und publiziert.
Ich selber finde Stefan Zweigs Bemerkung sehr befreiend. Endlich mal ein Land, deren Menschen nicht andauernd mit Hinweisen auf Geschichte, Traditionen, Kultur etc. gegängelt und an der kurzen Leine gehalten werden. Dass Zweig das Land, "in Anbetracht der acht Monate, die er dort verbrachte, wenig kannte" und deswegen für die beiden Autoren nicht so recht qualifiziert scheint, sich dazu zu äussern, halte ich für einen Irrtum. Die Lebenserfahrung lehrt, dass je länger man sich mit einem Land befasst, je weniger man davon versteht.
Dass Menschen, die Geschichte lehren, das anders sehen und anders sehen müssen (argumentiert nicht jeder und jede letztendlich für den Erhalt und die Wichtigkeit seines Fachs/Jobs und Einkommens?), versteht sich. Und wenn dabei ein Werk entsteht, das auch "den Avantgarden in Wissenschaft, Kunst und Kultur Rechnung" trägt, wie es im Vorwort heisst, ist das nur zu begrüssen.
Da mich Wissenschaft und Kultur mehr interessieren als Politik und Ökonomie, gehe ich die Lektüre einigermassen erwartungsfroh an, bin dann aber recht schnell ziemlich ernüchtert, denn "das Kulturelle" erschöpft sich häufig im reinen Aufzählen und wird etwas arg summarisch abgehandelt. So heisst es etwa über Clarice Lispector, sie verorte "ihre introspektiven Texte hauptsächlich in urbanen Welten. Anspielungsreich werden die Wahrnehmungen der äusseren Welt aus der Person des Ich-Erzählers gestaltet, in vieldeutiger Weise." So korrekt und richtig das sein mag, nichtssagender geht es kaum.
Die Fülle an Informationen, die die beiden Autoren vorlegen, ist beeindruckend. Das geht vom Goldrausch in Minas Gerais um 1700 zur Abschaffung der Sklaverei im Jahre 1888, vom Einfluss der Telenovelas zu den Indio-Welten und der Ressource Natur, speziell im Amazonasraum. Und und und ...
"Brasilien. Eine Kulturgeschichte" ist vor allem eine eindrückliche Fleissarbeit, eine spannende Lektüre ist das Buch nicht. Interessante Aufklärung und (jedenfalls mich) immer wieder verblüffende Details liefern die beiden Autoren gleichwohl. Und nicht zuwenig. Etwa, dass Brasilien 1917 als einziges Land Lateinamerikas dem Deutschen Reich den Krieg erklärte. Oder, dass während des Zweiten Weltkrieges Japaner (auf Betreiben der Amerikaner) und Deutsche (darunter der spätere Autor und Kulturvermittler Curt Meyer-Clason) interniert wurden. Oder, dass Henry Kissinger informell beim brasilianischen Aussenminister vorstellig wurde, weil die New York Cosmos Pelé unter Vertrag nehmen wollten.
Des Weiteren erfährt man, dass im Juli 1819 Schweizer Bauern und Handwerker die ersten waren, "die das riskante Experiment der Brasilienwanderung wagten." Und dass Manaus um 1900 mehr Theater als Rio de Janeiro hatte und Christoph Schlingensief im dortigen "Teatro Amazonas im Rahmen des Festivals Amazonas de Opera den 'Fliegenden Holländer' von Richard Wagner als fantasmagorisches Gesamtkunstwerk mit einer Menge von Brasilien-Klischees, um sie nicht alle zu brechen" (was auch immer das heissen mag) inszenierte.
Eines der langlebigen Klischees ist die "Rassendemokratie", die Überzeugung vom "konfliktfreien Schmelztiegel indianischer, afrikanischer und europäischer Elemente", halten die beiden Autoren zu Recht für einen Mythos. Weil es sie, bedenkt man, wie der Menscfh nun einmal ist, wohl gar nicht geben kann. Aber auch deswegen, weil Demokratie (das beste Argument dagegen, so Churchill, sei ein fünfminütiges Gespräch mit einem Durchschnittswähler) als Ideal und als Praxis allüberall weit auseinanderklaffen. Doch das ist eine andere Geschichte ...
"Brasilien. Eine Kulturgeschichte" bietet ganz viel solide Information der traditionellen Art, in der etwa einzelnen Politikern ein Einfluss beziehungsweise eine Macht zugeschrieben wird, die Männer und Frauen in politischen Ämtern schlicht nicht haben können, denn gegen die mächtigen bürokratischen Einrichtungen kommen auch noch so fähige Einzelne kaum an. Schmunzeln machten mich etwa Formulierungen wie diese, die Universitätslehrern eine Bedeutung geben, die sie im akademischen Leben haben mögen, aber eben höchstens da: "Cardoso bezeichnete Brasilien zu Recht viel mehr als ungerechtes denn als unterentwickeltes Land. Als Soziologe, der bei Florestan Fernandes studiert hatte, wusste er genau, wie sehr sozialer Aufstieg und Hautfarbe miteinander verknüpft sind." Für solche Erkenntnissse braucht man nicht Soziologie studiert zu haben, sie sind jedem klar.
Ursula Prutsch / Enrique Rodrigues-Moura
Brasilien. Eine Kulturgeschichte
Transcript Verlag, Bielefeld 2013
Da mich Wissenschaft und Kultur mehr interessieren als Politik und Ökonomie, gehe ich die Lektüre einigermassen erwartungsfroh an, bin dann aber recht schnell ziemlich ernüchtert, denn "das Kulturelle" erschöpft sich häufig im reinen Aufzählen und wird etwas arg summarisch abgehandelt. So heisst es etwa über Clarice Lispector, sie verorte "ihre introspektiven Texte hauptsächlich in urbanen Welten. Anspielungsreich werden die Wahrnehmungen der äusseren Welt aus der Person des Ich-Erzählers gestaltet, in vieldeutiger Weise." So korrekt und richtig das sein mag, nichtssagender geht es kaum.
Die Fülle an Informationen, die die beiden Autoren vorlegen, ist beeindruckend. Das geht vom Goldrausch in Minas Gerais um 1700 zur Abschaffung der Sklaverei im Jahre 1888, vom Einfluss der Telenovelas zu den Indio-Welten und der Ressource Natur, speziell im Amazonasraum. Und und und ...
"Brasilien. Eine Kulturgeschichte" ist vor allem eine eindrückliche Fleissarbeit, eine spannende Lektüre ist das Buch nicht. Interessante Aufklärung und (jedenfalls mich) immer wieder verblüffende Details liefern die beiden Autoren gleichwohl. Und nicht zuwenig. Etwa, dass Brasilien 1917 als einziges Land Lateinamerikas dem Deutschen Reich den Krieg erklärte. Oder, dass während des Zweiten Weltkrieges Japaner (auf Betreiben der Amerikaner) und Deutsche (darunter der spätere Autor und Kulturvermittler Curt Meyer-Clason) interniert wurden. Oder, dass Henry Kissinger informell beim brasilianischen Aussenminister vorstellig wurde, weil die New York Cosmos Pelé unter Vertrag nehmen wollten.
Des Weiteren erfährt man, dass im Juli 1819 Schweizer Bauern und Handwerker die ersten waren, "die das riskante Experiment der Brasilienwanderung wagten." Und dass Manaus um 1900 mehr Theater als Rio de Janeiro hatte und Christoph Schlingensief im dortigen "Teatro Amazonas im Rahmen des Festivals Amazonas de Opera den 'Fliegenden Holländer' von Richard Wagner als fantasmagorisches Gesamtkunstwerk mit einer Menge von Brasilien-Klischees, um sie nicht alle zu brechen" (was auch immer das heissen mag) inszenierte.
Eines der langlebigen Klischees ist die "Rassendemokratie", die Überzeugung vom "konfliktfreien Schmelztiegel indianischer, afrikanischer und europäischer Elemente", halten die beiden Autoren zu Recht für einen Mythos. Weil es sie, bedenkt man, wie der Menscfh nun einmal ist, wohl gar nicht geben kann. Aber auch deswegen, weil Demokratie (das beste Argument dagegen, so Churchill, sei ein fünfminütiges Gespräch mit einem Durchschnittswähler) als Ideal und als Praxis allüberall weit auseinanderklaffen. Doch das ist eine andere Geschichte ...
"Brasilien. Eine Kulturgeschichte" bietet ganz viel solide Information der traditionellen Art, in der etwa einzelnen Politikern ein Einfluss beziehungsweise eine Macht zugeschrieben wird, die Männer und Frauen in politischen Ämtern schlicht nicht haben können, denn gegen die mächtigen bürokratischen Einrichtungen kommen auch noch so fähige Einzelne kaum an. Schmunzeln machten mich etwa Formulierungen wie diese, die Universitätslehrern eine Bedeutung geben, die sie im akademischen Leben haben mögen, aber eben höchstens da: "Cardoso bezeichnete Brasilien zu Recht viel mehr als ungerechtes denn als unterentwickeltes Land. Als Soziologe, der bei Florestan Fernandes studiert hatte, wusste er genau, wie sehr sozialer Aufstieg und Hautfarbe miteinander verknüpft sind." Für solche Erkenntnissse braucht man nicht Soziologie studiert zu haben, sie sind jedem klar.
Ursula Prutsch / Enrique Rodrigues-Moura
Brasilien. Eine Kulturgeschichte
Transcript Verlag, Bielefeld 2013
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