Wednesday, 14 September 2016

Roberto Donetta, Fotograf und Samenhändler

Da ich nicht weiss, wo das Bleniotal liegt, mache ich mich kundig. Und dann fahre ich hin. Mit dem Bus der Autolinee Bleniesi vom Lukmanier hinunter ins Tal nach Olivone. Und von dort weiter nach Biasca. Ich bin nicht der Einzige, der an diesem prächtigen Sommertag des Jahres 2016 auf dieser Strecke unterwegs ist, sie scheint bei Touristen beliebt, ich selber staune, dass mir sämtliche Namen der teils schmucken Dörfer unvertraut sind. Motto, Campo, Campro, Dangio, Dongio ... noch nie gehört, genauso wenig wie Castro, wo Roberto Donettas Vater als Militärbeamter arbeitete. Nach dem Tod des Vaters erbte Roberto dessen Posten ("eine 'sitzende' Arbeit"), gab ihn jedoch weniger als ein Jahr später wieder auf, wie Gian Franco Ragno in "Donetta und seine Zeit" schreibt.
Familienporträt, Bleniotal 
@ Fondazione Archivio Fotografico Roberto Donetta, Corzonesco

Ich betrachte die Porträtaufnahmen mit einer Mischung aus Verwunderung und Rührung. Fotografiert zu werden war damals (Donetta lebte von 1865 bis 1932) offenbar eine ernste Angelegenheit. Niemand lacht, das Sich-In-Szene-Setzen geschah anders als heute, es war wohl dirigiert vom Fotografen.

Auffallend sind die vielen Kinderporträts. Peter Pfrunder ist diesem Phänomen in "Donettas Kinder" nachgegangen. Speziell geht er dabei auf das Porträt eines Kleinkindes ein, das auch mich ganz besonders angesprochen und sehr eigenartig berührt hat. Mir gefällt seine Auseinandersetzung mit der Aufnahme, macht sie doch deutlich, dass Fotografien vor allem dazu einladen, Fragen zu stellen. 

"Obschon es offensichtlich noch kaum in der Lage ist, auf eigenen Beinen zu stehen, erscheint es, aufrecht, ganz allein im Bild. Mit seinem weissen Festtagskleid hebt es sich deutlich ab von der verwitterten Steinmauer im Hintergrund und von einem schwarz drapierten Sockel, der ihm doch irgendwie Halt gibt. Aber warum wirkt das Bild so unheimlich? Bei genauerer Betrachtung erahnt man, dass hinter dem schwarzen Tuch eine Person – wohl die Mutter – steckt, die das Kind mit beiden Händen fest im Griff hat und es von hinten ruhig stellt. Dies erklärt freilich nicht, warum sie sich unter dem Tuch verbirgt. Ihre Unsichtbarkeit, ihre Abwesenheit bei gleichzeitiger Anwesenheit, verleiht der Szene etwas Geheimnisvolles. Wollte die Mutter nicht in Erscheinung treten, um die volle Aufmerksamkeit auf das Kind zu lenken? Ging es darum, die Reinheit des Kleinkindes zu betonen, das den Gefahren des Lebens trotzt, die im dunklen Untergrund lauern? Oder folgte die Mutter den Anweisungen des Fotografen, der sich bei der Komposition von seiner Intuition leiten liess?"
Arbeiterinnen der Schokoladefabrik Cima Norma, Dangio-Torre
@ Fondazione Archivio Fotografico Roberto Donetta, Corzonesco

Roberto Donetta machte jedoch nicht nur Porträts, sondern fotografierte so recht eigentlich das ganze Tal und schuf damit ein aussergewöhnliches sozialhistorisches Dokument, denn "Fotografie war nicht unbedingt das, was man von einem Bewohner des Bleniotals als Brotberuf erwartete", wie Matthias Böni in seinem Beitrag "Spuren eines Sonderlings" schreibt.

Abgesehen von den bereits erwähnten Texten, finden sich in diesem Band noch weitere: Marco Franciollis "Wiedergeburt eines fotografischen Vermächtnisses", David Streiffs "Donetta, der Erzähler" sowie Antonio Marottis "Ein moderner Fotograf?". Es sind anregende und aufschlussreiche Ausführungen, auch wenn sie womöglich mehr über die Autoren als über Roberto Donetta und seine Fotos aussagen.

Schön, dass es dieses Buch gibt!

Roberto Donetta
Fotograf und Samenhändler aus dem Bleniotal
Limmat Verlag, Zürich 2016

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