Wednesday, 25 September 2019

Von Peking nach Kaschmir

Im  Januar 1935 trifft die Genfer Autorin Ella Maillart im chinesischen Geologischen Institut in Peking auf Pater Teilhard de Chardin, der mit der sogenannten Citroën-Expedition im Jahre 1931 Asien durchquert hat und ihr nun bestätigt, dass die Chancen, die für Ausländer streng abgeriegelte Provinz Sinkiang zu durchqueren, um ins indische Kaschmir zu reisen, gering seien.

"Niemand weiss, was seit vier Jahren in Sinkiang vorgeht, dieser riesigen Provinz, die an Tibet, an Indien, an Afghanistan, an die UdSSR grenzt  und wo die Interessen dieser Länder in geheimem und ständigem Kampf miteinander liegen", notiert Maillart. Sie macht sich kundig, bemüht sich, einen Weg zu finden und teilt, was sie erfahren hat mit Peter Fleming, "einem jungen Schriftsteller, den die Times sich für ein Bombenhonorar gesichert hatte, um die Zustände in Mandschukuo zu erkunden. Fleming war ein grosser Reisender; er hatte schon Brasilien unter den ungewöhnlichsten Umständen durchquert und vor zwei Jahren Südchina auf den Spuren der Kommunisten durchpirscht."

Die zwei tun sich zusammen, obwohl sie verschiedener kaum hätten sein können. Der unterschiedliche Charakter war das Eine, die bevorzugte Reiseform das Andere – er wollte möglichst schnell reisen, da ihn in England Verpflichtungen erwarteten, ihr entsprach das Trödeln, sie hatte alle Zeit der Welt.

Er erzählt unter anderem von Eton, wo er einst Zögling war und seiner Familie, sie blieb ihm nichts schuldig und liess ihn wissen, was sie von der Geschichte Genfs wusste. "Peter erfährt an diesem Tage auch zum erstenmal, dass Bern die Hauptstadt meines Landes ist, aber die Reihe, sich lustig zu machen, ist an ihm, als sich dann herausstellt, dass ich selber nicht einmal weiss, wer der Präsident der Schweiz ist."

In China zu reisen hat seine Tücken. "Unsere Pannen waren ebenso zahlreich wie ärgerlich. Wir blieben im Dreck stecken, wir versanken in einem Fluss, dessen Eisdecke unter unserem Gewicht geborsten war, und ganz gewöhnliche Reifenpannen hielten einen stundenlang auf." Oft schwankten die beiden zwischen Mutlosigkeit und Hoffnung, denn Einfluss auf die chinesischen Gegebenheiten und Ereignisse  auszuüben vermochten sie nicht.

Dazu kam, dass die chinesische und die europäische Mentalität oft weit auseinander lagen. "Bei den Ausländern, die in Sian  leben, Schweden, Deutschen und Engländern, höre ich oft das Wort Ungewissheit. In dieser chinesischen Welt, die der europäischen Pünktlichkeit und Logik so konträr ist, weiss man nie etwas ganz gewiss." Das hat mich unter anderem daran erinnert, wie sich in meiner China-Zeit (fünf Monate im Jahre 2002) ein Australier darüber aufregte, dass immer alles in letzter Minute und ohne jegliche Vorwarnung entschieden wurde ...

Auch die chinesische Überheblichkeit, die sich hinter vermeintlich kulturellen Unterschieden wie "das Gesicht verlieren" (in keiner Kultur steht jemand gerne als Dummkopf da) versteckt, hat sich bis heute gehalten. "In China haben die Weissen seit dem Chaos, seitdem der Krieg die Europäische Solidarität zerstört hat, 'das Gesicht verloren' – und verlieren es von Tag zu Tag mehr. Man fürchtet uns nicht, man macht sich über uns lustig. Was also tun in einem Land, wo die Leute lieber sterben, als 'das Gesicht verlieren'!"

Es durchqueren, würde ich sagen. Was Maillart und Fleming denn auch tun. Unter der Kapitelüberschrift "Karawanenleben" notiert sie: "Tag für Tag verläuft unser Dasein genau nach der unwandelbaren Regel der Jahrhunderte. Vor Tagesanbruch nehmen 250 Kamele, ungefähr 30 Pferde und etwa 45 menschliche Wesen   ohne jegliches Gedränge und unnötigen Lärm   Aufstellung zum Abmarsch."

Ella Maillart
Verbotene Reise
Von Peking nach Kaschmir
Lenos, Basel 2019

Wednesday, 18 September 2019

The Fire Next Time

There's a (North)American obsession with race that I've always thought baffling. Also, I do sense a fanatical streak to it that is beyond my comprehension. It's probably to do with the fact that the vast North-American territory was conquered by puritans who were so morally strict that their fellow Brits could not stand them any longer and kicked them out, as Robertson Davies once remarked.

Many white North-Americans seem not to have understood what their founding fathers stated in the Declaration of Independence: "We hold these Truths to be self-evident, that all Men are created equal ...". And, the Christians among them seem not to have grasped that, according to the Bible, all human beings are made in the image of the divine. 
Copyright@2019 by Steve Shapiro
Trainees sing "We Shall Overcome" in Oxford, Ohio, before boarding a bus in June 1964. Organizers warned trainees about the dangers in Mississippi. People would be beaten, arrested, and sometimes killed, they told the hundreds of Northern students..

James Baldwin's The Fire Next Time was first published in 1963; it is now reprinted with more than 100 photographs from Steve Shapiro who travelled the (North)American South with Baldwin for Life magazine. 

"I'm not better because I'm black, but if you say God is white why shouldn't I say he's black? The question isn't whether you're as good as white people but whether you're a man", Baldwins writes and thus makes clear that America's so-called "Negro problem" goes way beyond skin colour and segregation. 

"Behind what we think of as the Russian menace lies what we do not wish to face, and what white Americans do not face when they regard a Negro: reality – the fact that life is tragic. Life is tragic simply because the earth turns and the sun inexorably rises and sets, and one day, for each of us, the sun will go down for the last, last time. Perhaps the whole root of our trouble, the human trouble, is that we will sacrifice all the beauty of our lives, will imprison ourselves in totems, taboos, crosses, blood sacrifices, steeples, mosques, races, armies, flags nations, in order to deny the fact of death, which is the only fact we have."
Copyright@2019 by Steve Shapiro
A protester laughs before a phalanx of state troopers in Selma. "To me, this is a very symbolic picture," says Shapiro, "it expresses two sides of the coin, two different attitudes."

When debating race one often hears the argument that Blacks or Asians or Latinos should have the same rights and opportunities as white people. To argue like this however presupposes automatically that white people believe, in the words of James Baldwin, that "they are in possession of some intrinsic value that black people need, or want. And this assumption – which, for example, makes the solution of the Negro problem depend on the speed with which Negroes accept and adopt white standards – is revealed in all kinds of striking ways, from Bobby Kennedy's assurance that a Negro can become President in forty years to the unfortunate tone of warm congratulation with which so many liberals address their Negro equals."
Copyright@2019 by Steve Shapiro
Thousands crossed the bridge with King, but not all walked the fifty-four eventful miles to Montgomery.

The Fire Next Time is much less a historic document than an important book for Baldwin's approach to "the race problem" forcefully points out that what we have come to grips with is not the topics we mostly discuss, from skin colour and integration to religion and culture, but our fears and longings.

"Love takes off the masks that we fear we cannot live without and know we cannot live within. I use the word 'love' here not merely in the personal sense but as a state of being, or a state of grace – not in the infantile American sense of being made happy but in the tough and universal sense of quest and daring and growth."

James Baldwin
Steve Shapiro
The Fire Next Time
Taschen, Cologne 2019

Wednesday, 11 September 2019

Desperation Road

Es gibt Bücher, die ich gar nicht besprechen mag – weil sie so gut sind. Genauer: nicht auf eine konventionelle Art besprechen mag, also schildern, worum es geht, wer darin und wie vorkommt etc. etc. Desperation Road von Michael Farris Smith ist so ein Buch, das mich nicht wegen der Geschichte, die da erzählt wird, in seinen Bann schlägt, trotz der cleveren Rahmenhandlung: Zwei ganz unterschiedliche Leben treffen aufeinander; das von Russell Gaines, der elf Jahre im Gefängnis sass, doch nun feststellen muss, dass ihn die Vergangenheit nicht ruhen lassen wird, und das von Mabel, einer jungen Mutter, die gerade einen Deputy erschossen hat. Doch auch wenn ich nicht die Geschichte nacherzählen will, soviel sei verraten: vor allem in der zweiten Hälfte wird es spannend.

Es ist das Atmosphärische, das mich für diesen Roman einnimmt, der mich auf eine Kopfreise in den gewalttätigen Süden der Vereinigten Staaten mitnimmt, einem Amerika, das man nicht findet in den politischen Sendungen einschlägiger Fernsehstationen, einem realistischen Amerika. Schon nach den ersten paar Seiten fühle ich mich vor Ort, tauchen diese ungeheure Weite, die Diners, die Parkplätze vor den Supermärkten, die billigen Motel-Ketten in meinem Kopf auf. Und ein paar Seiten später  bricht sich dann bereits wieder die allüberall in diesem Amerika lauernde Gewalt Bahn. Was für ein brutales Tier ist doch der Mensch!

Desperation Road lese ich langsam. "Aus dem Truck steigen, das .22er Gewehr aus der Halterung hinter dem Sitz nehmen und einen knappen Kilometer weit gehen, bis der Boden weich und sumpfig wird, und dann mit hohen Schritten weiter, um nicht einzusinken, bis zu einem Ein-Mann-Boot, das an einer Weide vertäut ist. Schmutzig bis zu den Knien hineinsteigen und hinauspaddeln in den Sumpf und lauschen und beobachten und spüren, wie man ein Teil des Ganzen wird."

Michael Farris Smith ist ein talentierter Beobachter. "Zwischen ihnen Stille. Aber eine andere Art von Stille. Eine geteilte Stille." Und ein Meister der No-Nonsense Dialoge 
"Ich hab etwas getan, was jeder andere auch getan hätte, 
und es ist vorbei, und das war's auch schon."
"Würdest du es wieder tun?"
"Ich wüsste nicht, warum nicht."
"Dann hör auf, dir einen Kopf zu machen."
"Wir wissen beide, dass es so nicht läuft."

Desperation Road ist  auch ein Roman über Moral. Die christliche Idee der Vergebung stösst Russell auf. "Es war immer wieder die gleiche Geschichte. Ja, ich habe vergewaltigt. Ja, ich habe ein Leben genommen. Ja, ich habe gestohlen. Ja, ich habe eine Faust gegen meinen Mitmenschen erhoben. Aber jetzt habe ich die Liebe Gottes gefunden. Jetzt kann ich das Licht sehen. Ich habe den rechten Weg gefunden und so weiter und so weiter, das Ganze zu zig Amens und Hallelujas und Lobet den Herrn. Er glaubte nicht, dass es so funktionierte, und wenn doch, dann schien irgendwas nicht richtig zu sein."

Nicht zuletzt handelt Desperation Road von der Vergangenheit, die nie wirklich vergangen ist und auch nicht vergeht, sondern immer präsent ist. Seien es die Wut und die Ressentiments, die man nicht verlieren will, sei es die Liebe, der man an- und nachhängt, auch wenn die Beziehungen schon längst in die Brüche gegangen und durch neue ersetzt worden sind.

Die Vorstellung, dass letztlich die Wahrheit obsiegt, ist falsch, denn bestimmend ist, was die Menschen glauben und nicht das, was wirklich geschehen ist. Doch manchmal deckt sich das ja auch.

Michael Farris Smith
Desperation Road,
ars vivendi, Cadolzburg 2018

Sunday, 8 September 2019

Keine Kompromisse

Lee Child, 1954 im englischen Coventry geboren, studierte Jura und arbeitete anschliessend zwanzig Jahre lang beim Fernsehen. 1995 gab er alles auf, zog in die USA und begann seine Jack-Reacher-Thriller zu schreiben, die zu internationalen Bestsellern wurden. Keine Kompromisse ist Buch Nummer 20.

Jack Reacher ist unterwegs nach Chicago. Als der  Zug in einer Kleinstadt namens Mother's Rest anhält, beschliesst er aus einer Laune heraus auszusteigen. Am ansonsten verlassenen Bahnhof spricht ihn die Privatermittlerin Michelle Chang an, die ihn für ihren Arbeitskollegen Keever hält. Doch dieser bleibt verschwunden, nur eine Notiz mit dem Vermerk '200 Tote' hat er hinterlassen. Reacher beschliesst, Michelle Chang bei der Suche nach ihrem Kollegen zu helfen. Auf ihre Frage, weshalb er ihr helfe, antwortet er: "Ich finde, dass alle Leute einander helfen sollten."

Die beiden merken bald, dass sie unerwünscht sind, dass einige Leute in dieser Kleinstadt sie weghaben wollen. Die Hinweise verdichten sich, dass da einiges nicht mit rechten Dingen zugeht, was Chang und Reacher zunehmend motiviert, sich auf diesen Kampf einzulassen. Und zwar gemäss Reachers Philosophie: "Die einzigen Kämpfe, die man wirklich gewinnt, sind die, in die man sich nicht verwickeln lässt." 

Nicht, dass er sich selber immer daran halten würde. "Chang sagte: 'Wenn wir hier lebend rauskommen wollen, sollten wir sie nicht provozieren, glaube ich.' 'Da bin ich anderer Meinung', erwiderte Reacher." Ihre Suche nach Keever bringt sie auch mit dem Wissenschaftsjournalisten Westwood zusammen, von dem beziehungsweise von einer seiner Quellen sie auch vom Deep Web erfahren, in dem sich unter anderem am Selbstmord Interessierte austauschen und Snuff Filme bestellt werden können.

Wie schafft es dieser Lee Child bloss, zwanzig spannende (ich habe nicht alle gelesen, aber doch einige) Jack Reacher-Geschichten zu schreiben? Eine, zwei vielleicht auch drei oder vier,  sicher, das geht, aber zwanzig! Möglicherweise auch deswegen, weil Reacher immer sehr systematisch vorgeht. Und sein Kreator Child ein genauer, ja, ein sehr genauer, sich Fragen stellender Beobachter ist, dem deswegen auch immer Dinge auffallen, die die meisten nie wahrnehmen. 

Hier ein Beispiel: "Der in dem Hardcover Buch liegende Zettel war unbeschriftet bis auf eine einzelne hingekritzelte Zahl 4. Die eine Zahl von bescheidenem technischen Interesse und vor allem dafür bekannt, dass sie die einzige Zahl des Universums darstellte, die im Englischen wie im Deutschen die Zahl ihrer Buchstaben angab: four/vier."

Dass Reacher ein cooler Typ ist, bei dem sich systematisches Vorgehen und Intuition kongenial ergänzen ("Es war besser, sich nicht zu sehr zu konzentrieren und das Unterbewusstsein arbeiten zu lassen."), weiss jeder, der schon mal zu den Büchern von Lee Child gegriffen hat. Und diejenigen, die das bislang noch nicht getan haben, wissen es jetzt auch.

Keine Kompromisse besticht über dies durch seinen immer mal wieder aufschimmernden intelligenten Witz. So werden drei Kerle, die Reacher, Chang und einer dreiköpfigen Familie ans Leder wollen, so beschrieben: "Der Staatsanwalt in Maricopa County würde sie zweifellos als Eindringlinge bezeichnen. Ein bewaffneter Überfall in einer exklusiven, bewachten Wohnanlage im Nordosten der Stadt hat heute Abend ein tragisches Ende genommen. Filmbericht um 23 Uhr. Die Cops würden sie Täter nennen, ihre Anwälte sie als Mandanten bezeichnen, Politiker würden von Abschaum sprechen, Kriminologen von Soziopathen, Soziologen würden sie als missverstanden charakterisieren."

Keine Kompromisse ist nicht nur ein temporeicher, cleverer und informativer Thriller, sondern auch eine Liebesgeschichte. Da war ein Könner am Werk!

Lee Child
Keine Kompromisse,
Blanvalet, München 2019

Wednesday, 4 September 2019

„Am Vorabend des Attentats war ich mit Nina im Theater.“

Am 7. Januar 2015 stürmten zwei maskierte Attentäter in Paris das Gebäude, wo sich die Redaktion von 'Charlie Hebdo' befand und richteten ein Blutbad an. Der Autor Philippe Lançon sass am Redaktionstisch und wurde schwer verletzt.

„Am Vorabend des Attentats war ich mit Nina im Theater.“ Gelungener könnte ein erster Satz gar nicht sein und natürlich bin ich sofort drin, in diesem hoch differenzierten, spannend zu lesenden und höchst persönlichen Buches. 'Was ihr wollt' von Shakespeare wurde an diesem Abend gegeben.

Rückblende: Bagdad vor dem amerikanischen Ultimatum. Der Autor, damals  siebenundzwanzig, ist als Journalist vor Ort. „Mein Sinn für die Geschichte war durch das, was ich sah, begrenzt, mein Respekt für ihre Macher tendierte gegen null – zumindest in dieser männlichen, schnauzbärtigen Region der Welt.“ Eitle Egomanen, mit denen uns die Journalisten, diesen häufig nicht unähnlich, täglich füttern.

Houellebecqs 'Unterwerfung', Hemingways 'Paris, ein Fest fürs Leben', des Autors Bewunderung für Raymond Aron, „der für mich all das repräsentierte, was mir selbst zu fehlen schien: mit Vernunft gepaarte Bildung“, die morgendliche Konferenz bei 'Charlie Hebdo', reich an Humor und Pöbeleien ... Philippe Lançon beschreibt, was ihm so durch den Kopf geht, hin und her, vor und zurück, wie das eben im richtigen Leben, im Kopf und in den Gefühlen so ist. Sehr dicht, der Mut zur Lücke fehlt, er will die Kontrolle über sein Leben wieder gewinnen.

Und er stellt 'Charlie Hebdo' in den „richtigen“ Zusammenhang: „Die Zeitung zählte nur noch für ein paar Getreue, für die Islamisten und für alle möglichen mehr oder weniger zivilisierten Feinde: angefangen bei den Jugendlichen aus der Banlieue, die sie nicht lasen, bis hin zu den ewigen Freunden der Verdammten dieser Welt, die sie gerne als rassistisch titulierten.“

Das Attentat, bei dem ihm der Unterkiefer zerschossen wurde („Die beiden oberen Drittel des Gesichts waren intakt“, sagte die Krankenschwester im Spital), schildert er als etwas gänzlich Unwirkliches. Schüsse und 'Allah Akbar' Rufe sind zu hören. Er liegt am Boden und erkennt in einem Meter Entfernung den Freund und Kollegen Bernard, dessen Gehirn „leicht aus dem Schädel quoll. Bernard ist tot, sagte mir derjenige, der ich war, und ich antwortete, ja, er ist tot, und genau hier wurden wir eins, an jenem Punkt, an dem dieses Gehirn hervorquoll, das ich am liebsten wieder in den Schädel zurückgestopft hätte und von dem ich mich nicht mehr losreissen konnte, denn seinetwegen habe ich in diesem Moment endlich gespürt und begriffen, dass etwas nicht rückgängig zu Machendes geschehen war.“

Er selbst ist getroffen, verletzt, steht unter Schock („ich war in einer anderen und doch in dieser Welt“), will seine Mutter anrufen, kann nicht reden, was er aber nicht wirklich wahrnimmt „Ein paar Zahnstücke schwirrten von rechts nach links und von links nach rechts durch meinen Mund, meine Zunge spielte damit wie mit Krümeln, und ich merkte, dass ich mich möglicherweise undeutlich artikulierte.“ Sanitäter kommen, er will sich nicht von seinem Handy trennen, versucht die Krankenversicherungskarte und seinen Personalausweis herauszunehmen – die müssen doch wissen, wer er ist!

Es mutet beängstigend surreal an, wie Philippe Lançon seine Situation und Wahrnehmung beschreibt, obwohl er instinktiv nichts anderes tut, als sich an Vertrautes zu halten. So will er im Krankenhaus den Air France-Flug nach New York stornieren. Er hält fest: „Ich wäre fast gestorben und will mir von Air France mein Ticket erstatten lassen. Der Kleinbürger überlebt alle.“ Nun ja, mit Kleinbürger hat das wenig zu tun, eher mit Sich Orientieren an dem, was man kennt und in den Griff kriegen kann, da alles andere uns überfordert.

282 Tage bleibt er insgesamt im Krankenhaus gefangen. Er beobachtet, denkt nach, sein Geist wandert, seine Überlegungen entbehren nicht des Humors. Über eine junge Krankenschwester notiert er: „Jemand mit mehr Erfahrung half ihr eine Vene zu finden. Sie war verärgert. Während ich schwer atmend in meinem Bett lag, sah ich ihr zu und fragte mich, ob mein Leben tatsächlich von jemandem abhängen konnte, der derartig stur und, mehr noch, derartig jung war.“

Unter anderen besucht ihn auch Gabriela, die er vorgehabt hatte, in New York zu besuchen. Sie will nicht, dass er sich mit dem Attentat beschäftigt und ermuntert ihn, an etwas Positives zu denken, zum Beispiel an eine Landschaft, die er mag. Doch er funktioniert anders und sucht nach allem, „was nach und nach, ungeordnet und aus unterschiedlichen Gründen leichenartig wieder an die Oberfläche trieb.“

Sein Unterbewusstsein fabriziert dabei einen faszinierenden (immer auch ausgesprochen literarischen – von Balzac, Proust, Queneau zu Gérard de Villiers) Mix und an diesem lässt Philippe Lançon den Leser in „Der Fetzen“ teilhaben. Eine Lektüre, die lohnt!

Philippe Lançon
Der Fetzen
Tropen, Stuttgart 2019

Sunday, 1 September 2019

Sei Shōnagon: Kopfkissenbuch

Sei Shōnagon, geboren um 966; gestorben um 1025, war eine Schriftstellerin und Hofdame am japanischen Kaiserhof. Ihre Impressionen von ihrer Zeit am Hofe hat sie im 'Kopfkissenbuch' niedergeschrieben. Dabei handelt es sich nicht um ein chronologisch angelegtes Tagebuch, wie Herausgeber und Übersetzer Michael Stein im Nachwort schreibt, „sondern um eine lose Aneinanderreihung assoziativ thematisierter Erinnerungen, die überwiegend undatiert sind.“ Hochtrabender kann man sich kaum ausdrücken.

Die Autorin selber schreibt hingegen klar und unprätentiös. Und erfreulich meinungsstark. „Auch wenn zwei Personen genau das Gleiche sagen, kann es je nach Sprecher völlig unterschiedlich klingen: in der Sprache von Priestern, in der Ausdrucksweise von Männern oder in derjenigen von Frauen. Wenn Ungebildete sprechen, machen sie garantiert zu viele Worte.“

Ich war bass erstaunt und freudig überrascht, als ich bereits auf den ersten Seiten las (denn so freimütig hatte ich mir eine Hofdame nicht vorgestellt): „Wenn Eltern ihren geliebten Sohn zum Priester machen, ist dieser wirklich zu bedauern. Und zwar deshalb, weil die Menschen einen Priester leider bestenfalls wie ein Stück Holz oder dergleichen ansehen. Priester essen abscheuliche vegetarische Kost, und darüber, dass sie gern ein Nickerchen halten, wird ebenfalls häufig gelästert. Wie ist es nur möglich, dass junge Männer, die doch sonst immer hinter den Frauen her sind, als Priester plötzlich einen extragrossen Bogen um Damengemächer schlagen und nicht einmal hineinzuspähen versuchen?“

Es ist allgemein üblich, ein Werk, das vor gut 1000 Jahren entstanden ist, aus historischer Perspektive zu betrachten. So weist Herausgeber Stein, der laut Verlagsinformation über die Heinan-Zeit (794-1185), die Epoche also, in der das 'Kopfkissenbuch' entstand, promovierte, im Nachwort darauf hin, dass dieses Werk „in erster Linie als Hommage und Reminiszenz an die verehrte Kaiserin Sadako verfasst worden ist und eine dunkle, ja, man kann wirklich sagen tragische Dimension besitzt, die im Text nur in Andeutungen durchschimmert.“

Mir selber liegt an der historischen wie auch der kulturellen Einstufung wenig, ich bin eher in Sachen „ewiger Wahrheiten“ unterwegs oder, weniger hoch gegriffen, an Weisheiten, die weder an Zeit noch an Ort gebunden sind. Wobei, es müssen auch nicht unbedingt weise Gedanken sein, oft genügen mir auch launisch-treffende Einschätzungen, die einigen immer schon eigen waren. So notiert Sei Shōnagon unter der Überschrift „Was selten gut ausgeht“ unter anderem: „Wenn ein notorischer Lügner eine wichtige Aufgabe mit einer Miene annimmt, als könnte er sie ebenso gut meistern wie andere.“ Oder besser als andere, ist man da, an Donald Trump (D.T.) denkend, versucht anzufügen.

Es ist gleichzeitig wohltuend und beunruhigend zu konstatieren, dass der Mensch seit 1000 Jahren (und mehr) offenbar noch immer dasselbe zu lernen hat – die Bereitschaft, zu staunen. So führt die Autorin zum Thema „Was man sich anschauen sollte“ etwa aus: „Die Schwertlilien, die vom 5. Monat her den Herbst und den ganzen Winter überdauert haben, sind unansehnlich, völlig ausgeblichen und vertrocknet, aber wenn man sie öffnet, ist es wundervoll, dass darin der Duft von einst noch enthalten ist!“

Immer wieder stosse ich bei der Lektüre auch auf Erheiterndes. Zum Thema „Was es leider nur selten gibt“ bemerkt sie unter anderem: „Leute, die überhaupt keine Macken haben.“ Und unter der Überschrift „Was einen trostlosen Anblick bietet“ hält sie etwa fest: „Jemand, der im 6. oder 7. Monat zur Stunde des Pferdes oder des Schafs einherschlurft und einen ausgemergelten Ochsen einen schäbigen Wagen ziehen lässt.“

„Mit ihrem 'Kopfkissenbuch' hat sich die Hofdame Sei Shōnagon dauerhaft in die Herzen ihrer Landsleute, in die japanische Literaturgeschichte und zugleich in die Weltliteratur eingeschrieben“, konstatiert Michael Stein im Nachwort, weist aber auch darauf hin, dass der Beifall für dieses Werk nicht einhellig war. So kritisierte die Schriftstellerin und Zeitgenossin Murasaki Shikibu Sei Shōnagon als eingebildet und oberflächlich. Mit anderen Worten: An der Heinan-Zeit Interessierte werden diesem Werk noch ganz anderes abgewinnen können, als ein historischer Banause wie ich. Dafür hat Herausgeber Michael Stein mit seinen umfangreichen und hoch differenzierten Ausführungen am Schluss dieses schön gemachten Bandes gesorgt.

Sei Shōnagon
Kopfkissenbuch
Manesse Verlag, München 2019