Im Januar 1935 trifft die Genfer Autorin Ella Maillart im chinesischen Geologischen Institut in Peking auf Pater Teilhard de Chardin, der mit der sogenannten Citroën-Expedition im Jahre 1931 Asien durchquert hat und ihr nun bestätigt, dass die Chancen, die für Ausländer streng abgeriegelte Provinz Sinkiang zu durchqueren, um ins indische Kaschmir zu reisen, gering seien.
"Niemand weiss, was seit vier Jahren in Sinkiang vorgeht, dieser riesigen Provinz, die an Tibet, an Indien, an Afghanistan, an die UdSSR grenzt und wo die Interessen dieser Länder in geheimem und ständigem Kampf miteinander liegen", notiert Maillart. Sie macht sich kundig, bemüht sich, einen Weg zu finden und teilt, was sie erfahren hat mit Peter Fleming, "einem jungen Schriftsteller, den die Times sich für ein Bombenhonorar gesichert hatte, um die Zustände in Mandschukuo zu erkunden. Fleming war ein grosser Reisender; er hatte schon Brasilien unter den ungewöhnlichsten Umständen durchquert und vor zwei Jahren Südchina auf den Spuren der Kommunisten durchpirscht."
Die zwei tun sich zusammen, obwohl sie verschiedener kaum hätten sein können. Der unterschiedliche Charakter war das Eine, die bevorzugte Reiseform das Andere – er wollte möglichst schnell reisen, da ihn in England Verpflichtungen erwarteten, ihr entsprach das Trödeln, sie hatte alle Zeit der Welt.
Er erzählt unter anderem von Eton, wo er einst Zögling war und seiner Familie, sie blieb ihm nichts schuldig und liess ihn wissen, was sie von der Geschichte Genfs wusste. "Peter erfährt an diesem Tage auch zum erstenmal, dass Bern die Hauptstadt meines Landes ist, aber die Reihe, sich lustig zu machen, ist an ihm, als sich dann herausstellt, dass ich selber nicht einmal weiss, wer der Präsident der Schweiz ist."
In China zu reisen hat seine Tücken. "Unsere Pannen waren ebenso zahlreich wie ärgerlich. Wir blieben im Dreck stecken, wir versanken in einem Fluss, dessen Eisdecke unter unserem Gewicht geborsten war, und ganz gewöhnliche Reifenpannen hielten einen stundenlang auf." Oft schwankten die beiden zwischen Mutlosigkeit und Hoffnung, denn Einfluss auf die chinesischen Gegebenheiten und Ereignisse auszuüben vermochten sie nicht.
Dazu kam, dass die chinesische und die europäische Mentalität oft weit auseinander lagen. "Bei den Ausländern, die in Sian leben, Schweden, Deutschen und Engländern, höre ich oft das Wort Ungewissheit. In dieser chinesischen Welt, die der europäischen Pünktlichkeit und Logik so konträr ist, weiss man nie etwas ganz gewiss." Das hat mich unter anderem daran erinnert, wie sich in meiner China-Zeit (fünf Monate im Jahre 2002) ein Australier darüber aufregte, dass immer alles in letzter Minute und ohne jegliche Vorwarnung entschieden wurde ...
Auch die chinesische Überheblichkeit, die sich hinter vermeintlich kulturellen Unterschieden wie "das Gesicht verlieren" (in keiner Kultur steht jemand gerne als Dummkopf da) versteckt, hat sich bis heute gehalten. "In China haben die Weissen seit dem Chaos, seitdem der Krieg die Europäische Solidarität zerstört hat, 'das Gesicht verloren' – und verlieren es von Tag zu Tag mehr. Man fürchtet uns nicht, man macht sich über uns lustig. Was also tun in einem Land, wo die Leute lieber sterben, als 'das Gesicht verlieren'!"
Es durchqueren, würde ich sagen. Was Maillart und Fleming denn auch tun. Unter der Kapitelüberschrift "Karawanenleben" notiert sie: "Tag für Tag verläuft unser Dasein genau nach der unwandelbaren Regel der Jahrhunderte. Vor Tagesanbruch nehmen 250 Kamele, ungefähr 30 Pferde und etwa 45 menschliche Wesen – ohne jegliches Gedränge und unnötigen Lärm – Aufstellung zum Abmarsch."
Ella Maillart
Verbotene Reise
Von Peking nach Kaschmir
Lenos, Basel 2019