Wednesday, 28 September 2022

At 69 years of age

How does it feel to turn 69? 
Not much different from the days and weeks before my birthday. 
Yet what I have come to realise while getting older is that I'm feeling 
increasingly bored with pretty much everything that used to interest me, 
from the media, things intercultural, linguistics as well as behaviour change.

It's time to try something new, something I haven't done, and so I've decided that Dainin Katagiri's advice should from now on guide me. If you really want to please yourself, just forget your longing and attend to your daily life. In this we find goldenness.

Wednesday, 21 September 2022

In der Plattformfalle

"Wir wollten die Pandemie nutzen, um uns auszuruhen und weiterzukommen. Das ist nicht gelungen. Die Bequemlichkeit des ewig Gleichen erwies sich als zu stark“, lese ich in der Einleitung. Und: „Wir gaben unsere Machtlosigkeit zu – dass unser Leben unbeherrschbar geworden war.“ Dass jemand den ersten der zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker zitiert, um damit unsere Internet-Befindlichkeit zu diagnostizieren, ist ein erfreulicher Ansatz, denn daraus folgt, dass die Art und Weise wie viele das Internet benutzen, nichts anderes als eine Sucht ist. Gefragt müsste dann eigentlich: Wie kommen wir davon los? Autor Geert Lovink geht es jedoch um etwas anderes: Wie kriegen wir etwas, dass klar aus dem Ruder gelaufen ist, wieder in unsere Gewalt. Er plädiert also für kontrolliertes Internetnutzen, oder wenn wir beim Alkohol bleiben: für kontrolliertes Trinken.

In Sachen Alkohol ist das ein Ansatz, der meist nur Nicht-Alkoholikern möglich ist. Und beim Internetnutzen? Da wir fast schon dazu gezwungen werden, das Internet zu nutzen, bleibt uns kaum was anderes übrig, als der überlegte Gebrauch. Geert Lovink sagt viele gescheite Sachen, zitiert viele differenziert argumentierende Leute – mir kam es manchmal so vor, als ob man mit dem Verstand zudecken würde, dass wir uns weder ändern wollen noch können. Grundsätzlich meine ich. Ein bisschen geht schon, als Alibi.

Das Leben vor dem Bildschirm laugt uns aus, erschöpft uns. Warum ist das so?, fragt Geert Lovink und führt viele erhellende Meinungen an, aber auch ausgesprochen Banales. „Wie Caroline Cowles Richards sagt: 'Was nicht geheilt werden kann, muss ertragen werden.'“. Da ich nicht wusste, wer Caroline Cowles Richards ist, habe ich sie gegoogelt: Sie lebte von 1842-1913 und war ein Civil War Civilian and Diarist. Autor Lovink zeigt also, wie gebildet er ist. Er tut das übrigens etwas gar oft. „Das Internet ist der Friedhof der Seele. In Anlehnung an einen Satz von Cioran könnte man sagen, dass niemand in den Sozialen Medien das findet, was im Leben verloren gegangen ist.“ Das wissen die meisten wohl auch ohne Cioran.

Die Bezugnahme auf Berühmtheiten wie Fernando Pessoa und Walt Whitman, die lange vor der Internet-Zeit lebten, weist auch darauf hin, dass die grundsätzlichen Phänomene unseres Zeitalters sich nicht von früheren Zeiten unterscheiden, da sie in der conditio humana begründet sind. Dazu gehört das Frankenstein-Phänomen, das sich auch als Internet-Phänomen zeigt: Wir schaffen etwas, das eine Eigendynamik entwickelt und uns entgleitet.

Dass die Digitalisierung unser aller Leben verändert, ist allen klar. Detailliert und anhand vieler Beispiele bringt Geert Lovink die zahlreichen Gedanken einschlägig damit Befasster auf den neuesten Stand. Das ist gut geschrieben, ansprechend dargestellt, auch wenn die Antwort auf die Kernfrage „Und jetzt, was sollen wir tun?“ dieselbe ist, die das kontrollierte Trinken der Abstinenz vorzieht: „Vorsicht vor der Falle der europäischen Offline-Romantik. Lasst uns stattdessen virtuelle Meetings wieder zur Ausnahme machen. Zuerst sollten wir virtuelle Konferenzen zum Gegenstand der Debatte und des globalen Dialogs machen.“ So klingen Pädagogen und Politiker.

Trotzdem: In der Plattformfalle lohnt, weil es die verschiedenen Denkansätze, die sich mit Plattformen und dem Internet auseinandersetzen, sehr schön aufzeigt. Dann aber auch, weil die vielfältigen und zumeist anregenden Erwägungen sich an der Lebenswirklichkeit orientieren. „Hightech kann nicht einfach nur existieren, sondern steht immer kurz vor dem 'Nichtfunktionieren' – der Akku stirbt, die Internetverbindung fällt aus, das Software-as-a-Service-Abonnement fällt aus.“

In der Plattformfalle ist auch ein erfreuliches no-nonsense Buch, das einleuchtend für die Zerschlagung von Monopolplattformen und den Ausschluss von Google, Facebook und anderen Unternehmen aus Internetgovernance-Gremien plädiert. Nur eben: „Dopamingesteuerte, impulsive Nutzer:innen sind dafür bekannt, dass sie die von Habermas aufgestellten Regeln nicht kennen und nicht mit langen Stunden belästigt werden können, die eine Vollversammlung dauert, um einen Konsens zu erreichen.“ Es ist nicht zuletzt diese erfrischend realistisch nüchterne Sicht der Dinge, die dieses Buch auszeichnet.

Geert Lovink

In der Plattformfalle
Plädoyer für die Rückeroberung des Internets
transcript Verlag, Bielefeld 2022.

Wednesday, 14 September 2022

Wandern mit Nietzsche

Natürlich liest man dieses Buch anders, wenn man die Gegend, in der Nietzsche gewandert ist, aus eigener Anschauung kennt. Corvatsch, Bernina, das Fextal sind mir einigermassen vertraut, und so stellen sich beim Lesen ganz automatisch Bilder im Kopf ein. Überdies weiss ich. dass Bad Ragaz nicht an der Grenze zu Liechtenstein liegt, dass es in Splügen keinen Bahnhof gibt und ein Luzernersee existiert auch nicht (es handelt sich um den Vierwaldstättersee, auf Englisch Lake Lucerne). Doch das sind Details, die einem Nicht-Schweizer wohl kaum auffallen werden.

Zweimal ist der Autor, Philosophieprofessor an der University of Massachusetts, auf Nietzsches Spuren in der Schweiz (mit Schmunzeln nahm ich zur Kenntnis, dass der Autor Basel wie Zürich als vollkommen geistlose Städte beschreibt, auch wenn mir schleierhaft ist, was geistvolle Städte sein könnten) gewandert, als 19- und als 36Jähriger. Und natürlich bedeutet ihm Nietzsche beide Male etwas Anderes, wenn auch der Kern unverändert geblieben war: Der zu werden, der man ist.

Wandern mit Nietzsche gehört zu den Büchern, die ich ausgesprochen schätze. Zum Einen, weil ich viel über Nietzsche erfahre, das ich nicht wusste, zum Andern, weil es Nietzsches Leben mit dem Leben des Autors zusammenbringt, denn nur eine Philosophie, die sich praktisch auswirkt, finde ich von Nutzen.

Nietzsche erlangte seine subjektive Wahrheit durch Anschauung. Sein Lehrmeister war das Leben, wozu auch die körperliche Anstrengung, die das Wandern ist, gehört.  "Nietzsche, zugleich Therapeut und Patient", wusste um die Begrenztheit der Selbsterkenntnis ("Jeder ist sich selbst der Fernste.") und verstand weit mehr von der menschlichen Natur als die sich gemeinhin selbst überschätzenden einschlägig Diplomierten.

Aufrichtigkeit bildet die Grundlage für ein lebenswertes Leben. Es ist diese Aufrichtigkeit, die Nietzsche (und auch seinen Biografen Kaag) dazu bewegt, sich neu zu positionieren, sobald sich etwas erschöpft hat und/oder neue Erkenntnisse dies gebieten. "Nietzsche behauptete, dass nur die ästhetische Erfahrung die Existenz rechtfertigen könne und dass sich der Wert des Lebens  in einer Empfindsamkeit für die hohen Töne des Lebens und die Einstimmung darauf, aber auch für seine leisen Tonschwankungen erweise. Bevor er in die Berge um Sils-Maria floh, kam er zum Schluss, dass Wagner dieses Feingefühl und die Sorgfalt fehlten und dass sehr wenig seiner vorgeblichen Kunstfertigkeit tatsächlich ästhetisch ansprechend war."

Wandern mit Nietzsche ist auch eine erfreulich persönlich gehaltene Einführung in Nietzsches Leben und Werk. Zentral dabei ist die "Umwertung aller Werte", deren Grundlage die Frage ist, woher unsere Werte eigentlich herkommen. Es sind die metaphysischen Fiktionen Religion und Ideologie, die das menschliche Leben über weite Strecken dominiert haben. Ohne diese beiden Krücken ist der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen. "Es gibt in der Welt einen einzigen Weg, auf welchem niemand gehen kann, ausser dir: Wohin er führt? Frage nicht?, lehrt uns Nietzsche, "gehe ihn."

Auch von Kant ist die Rede. Einerseits, weil Nietzsche mit ihm so ziemlich gar nichts anfangen konnte, andererseits, weil John Kaags Frau Carol eine Kantianerin ist, aus gutem Grund, denn seine Idee, "dass alle aufgrund ihres Vernunftvermögens gleich seien, war ein Axiom, dass man gar nicht erst lang und breit wissenschaftlich beweisen musste. Es besass eine fraglose, praktische Evidenz, es war ein mächtiger Glaube, der sie aus der Fernfahrerkneipe herausgeführt und den kanadischen Egalitarismus bestärkt hatte, der ihr vieles in ihrem Leben ermöglicht hatte." Besser kann man kaum illustrieren, dass wir glauben, was uns nützt und gut tut.

So sehr dieses Buch vom Wandern mit Nietzsche handelt und man dabei viel Nützliches über Nietzsche lernt, so recht eigentlich geht es darüber hinaus und befasst sich anhand von philosophischen Einsichten mit der Frage, was die angemessene Form zu leben sein soll. Dass die Antwort darauf je nach Temperament unterschiedlich ausfällt, versteht sich, dass philosophisch interessierte Menschen mit denselben Alltagsproblemen zu kämpfen haben wie alle anderen auch, ebenso, doch dass ein Philosophieprofessor (und seine Frau, ebenfalls Philosophieprofessorin) sich trauen, ihre diesbezüglichen Fragen und Zweifel offen darzulegen, ist nicht nur erfreulich, sondern hilfreich – nicht zuletzt als Einladung zur Identifikation.

Es geschieht ausgesprochen selten, dass ein Buch mich motiviert, den nächsten Zug zu nehmen und mir die darin beschriebenen Gegenden von Neuem anzuschauen. Mit Nietzsches Gedanken im Kopf, zu denen auch gehört, was Zarathustra lehrt: Im richtigen Moment zu sterben. Aber auch: Dass die Moral der Herren und der Sklaven eine gänzlich andere ist. Und: Die Liebe zum Schicksal. Dieses Buch ist eine wahre Schatztruhe an Gedanken, mit denen sich auseinanderzusetzen lohnt.

Fazit: Wunderbar inspirierend.

John Kaag
Wandern mit Nietzsche
Wie man wird, wer man ist
btb, München 2022

Wednesday, 7 September 2022

Der Flug der Stare

Die Formation der Stare auf dem Umschlagbild dieses Buches, auf dem sie die Form eines Löffels (voller Zucker?) annehmen, macht mich mehr als nur staunen: Es führt mir vor Augen, wie wenig unser übliches Denken, das in Kategorien von Ursache und Wirkung funktioniert, das Wunder der Existenz zu erklären vermag. Zugegeben, unser gewohntes Denken hat Erstaunliches begreifbar gemacht und bringt tagtäglich Staunenswertes hervor, doch wie will man sich das Verhalten der Stare erklären? Giorgio Parisi, Nobelpreisträger für Physik 2021, versucht es mit den Mitteln der Physik.

Vor Jahrhunderten verbrachten Stare die warmen Monate in Nordeuropa und überwinterten in Nordafrika. Mittlerweile haben sich die Temperaturen verändert, einerseits wegen des Klimawandels, andererseits haben sich die Städte, ihrer Grösse sowie der Wärmequellen wie Haushalte und Verkehr wegen, aufgeheizt.

Wissenschaft beginnt mit genauem Hinschauen; faszinierend, was es da zu sehen gibt. "Als soziale Tiere sind Stare ein Leben in Gemeinschaft gewohnt: Wenn sie sich auf einem Feld niedergelassen haben, gibt sich eine Hälfte in Ruhe dem Picken hin, während die andere an den Rändern nach anfliegenden Fressfeinden Ausschau hält. Die Rollen werden getauscht, wenn sie über das nächste Feld herfallen."

Theoretische Physiker beschäftigen sich mit abstrakten Konzepten. Die Bewegung der Stare zu studieren ist jedoch ein reales Problem, das von unzähligen Variablen wie zum Beispiel der Auflösung und Brennweite der Kameraobjektive und der optimalen Aufstellung der Geräte abhängt. Die erste Herausforderung bestand darin, ein dreidimensionales Bild des Schwarms und seiner Gestalt zu erstellen.

Die Beobachtung der Vögel zeigte, dass der Schwarm seine Form rasant verändert. "Am Himmel bewegen sich vielfältig geformte Objekte, die sich abrupt zusammenziehen, sich enger zusammendrängen, wieder auseinanderstreben, in der die Formen umschlagen, fast unsichtbar und dann dunkler werden. Ihre Gestalt und Dichte schwankt gewaltig."

Doch was hat die Erforschung dieser Vogelschwärme gebracht? Sie hat das bislang geltende Paradigma, gemäss dem die Interaktion von der Entfernung abhänge, vollständig verändert. "Seit unserer Arbeit ist dagegen zu berücksichtigen, dass sie immer zwischen Nachbarn stattfindet."

Das für mich Eindrücklichste: Die Formationen zeichnen sich dadurch aus, dass die Vögel am Rand enger beieinander fliegen als im Zentrum. Diese dichten Ränder funktionieren als Schutzmechanismus gegen die Angriffe der Wanderfalken.

Der grösste Teil des Buches handelt allerdings nicht von Staren, sondern von Parisis Leben als Wissenschaftler und seiner Forschung. Reminiszenzen an die Studienjahre in Rom, die in die Zeit der Achtundsechziger fielen, erhellende (und mir sehr sympathische) Ausführungen über den kulturellen Wert der Wissenschaft, spannende Fragen beim Beobachten "normaler" Phänomene wie etwa: Warum beginnt Wasser bei einer Temperatur von 100 Grad Celsius zu sieden?

Wir wissen meist nicht so genau, weshalb wir tun, was wir tun. Und warum wir plötzlich etwas begreifen, was uns zuvor unverständlich schien. Zuweilen, so Giorgio Parisi, genügt eine winzige Information, um einen Durchbruch zu erzielen. "So berichtete Einstein beispielsweise, er habe 1907 viel über die Gravitation nachgedacht und eines Tages die 'glücklichste Intuition seines Lebens' gehabt: Wenn wir im freien Fall in die Tiefe stürzen, spüren wir keine Schwerkraft mehr. Die Gravitation löst sich um uns herum auf. Die Schwerkraft hängt vom Bezugssystem ab, so dass sie sich, zumindest lokal, aufheben lässt, wenn wir ein geeignetes System wählen."

Fazit: Faszinierend und horizonterweiternd.

Giorgio Parisi
Der Flug der Stare
Das Wunder komplexer Systeme
S. Fischer, Frankfurt am Main 2022