"Tod und Bestattungskultur in China" lautet der Untertitel dieses Buchs von Maja Linnemann, die in ihrer Einführung auch auf einen 2012 erschienen wissenschaftlichen Sammelband hinweist, in dem es um aktuelle Bestattungstrends in Japan, Korea und der Volksrepublik China geht, dessen Titel für den heutigen Umgang mit dem Tod symptomatisch ist: Invisible Population: the Place of the Dead in East Asian Megacities. Erinnert hat mich dies auch an ein Gespräch mit einem Bekannten, der mich darauf aufmerksam machte, dass Friedhöfe in der Schweiz schon vor langem an den Stadtrand verlegt worden seien. Wie offenbar auch in China.
Dass der Tod zum Leben gehört, wird heute weltweit immer weniger akzeptiert. Stattdessen hält man ihn für etwas, dem wir tunlichst aus dem Weg gehen, mit dem wir uns lieber nicht auseinandersetzen sollen. Doch das Leben im Nicht-Wahrhaben-Wollen, in Illusionen (die einzige Gewissheit, die wir haben, ist, dass wir alle sterben) hat natürlich seinen Preis – die Angst. Dieses Leben in Angst ist uns meist nicht bewusst, doch im Schlaf holt sie uns alle ein.
Leben bedeutet Wandel und ständige Veränderung, und dies zeigt sich auch auf den Friedhöfen beziehungsweise der Friedhofsgestaltung, die auch vom Zeitgeist (alles muss sich rentieren) geprägt ist. Siehe dazu das Kapitel "Das Geschäft mit dem Tod".
Maja Linnemann hat zwischen 2018 und 2020 an verschiedenen Orten in China Friedhöfe besucht und auch an Beerdigungen teilgenommen. Und sie hat sich viele Fragen gestellt. "Was geschieht mit den rund zehn Millionen Menschen, die jedes Jahr in der VR China sterben? Wo kommen die vielen Toten hin, auf dem Land, in den Kleinstädten und Metropolen? Welche Formen der Bestattung gibt es? Welche Entscheidungen treffen die Angehörigen? Wie sind die Einstellungen zum Tod? Und wie läuft eine 'normale' Trauerfeier ab? Was sind die neuen Trends? Was beinhaltet die Bestattungsreform? Welche gesetzlichen Regelungen bestimmen den Umgang mit den Toten, welche traditionellen Rituale, die zu zerschlagen sich die Bestattungsreform zum Ziel gesetzt hat, haben 'überlebt', sich angepasst oder wurden durch welche neuen Rituale ersetzt? Wie sehen die Friedhöfe aus?"
Es versteht sich: Einige dieser Fragen sind nicht wirklich beantwortbar. Etwa: "Welche Entscheidungen treffen die Angehörigen?" Oder: "Wie sind die Einstellungen zum Tod". Vermutungen anstellen kann man trotzdem, informierte Vermutungen. Maja Linnemann hat nicht nur in China gelebt und gearbeitet, sondern ist auch mit einem Chinesen verheiratet, was ihr Einblicke in "Chinesisches" gibt, die denen, die "nur" Beobachter sind, unmöglich sind. Anlass, sich mit dem Tod und der Bestattungskultur in China zu befassen, war der Tod ihres Schwiegervaters im Jahr 2016.
Der schöne Titel "Kurzer Exkurs in Chinas lange Bestattungsgeschichte" deutet es an – eine alte Kultur zeichnet sich nicht zuletzt durch eine umfassende Bürokratie (die der britische Anthropologe Nigel Barley einmal treffend als "an end in itself" bezeichnete) aus und einer der Zwischentitel bringt es denn auch auf den Punkt: "Über den korrekten Umgang mit dem Tod: Jede Menge Anweisungen."
Letzte Dinge ist ein höchst lehrreiches Werk. So erfahre ich etwa, dass der "Friedhof als ein Ort, wo Menschen, die sich zu Lebzeiten nicht kannten, eine gemeinsame letzte Ruhestätte finden" (ein Augenöffner, diese Charakterisierung), in China, mit Ausnahme von Shanghai, bis zum Eintreffen der Europäer unbekannt war. Und ich lese von Familiengrabstätten wohlhabender Pekinger Bürger, von Gräbern, in denen vor allem Prostituierte begraben wurden, von Märtyrerfriedhöfen und von speziellen Grabstätten für grosse Männer und für einige wenige Frauen (etwa Konfuzius oder die Kaiserinwitwe Cixi, die am 9. November 1909 bestattet wurde, einem Datum, das die Astrologen bestimmt hatten).
Was mich vor allem für Letzte Dinge einnimmt, ist, dass die Autorin den Leser an ihrer persönlichen Entdeckungsreise teilnehmen lässt, indem sie schildert, wie sie vorgegangen ist und was sie dabei erlebt hat. So berichtet sie etwa, dass ein Bild der 'Grabstelle' des Neo-Konfuzianers Zhu Xi, der vor über 800 Jahren starb, sie neugierig machte. "In der Annahme, es handele sich um ein Foto des Originalgrabes aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, fragte ich beim Museum auf der Hardt in Wuppertal an, das die Nachfolge des Missionsmuseums Barmen angetreten hat ...". Die Antwort findet sich auf Seite 174.
Maja Linnemann
Letzte Dinge
Tod und Bestattungskultur in China
Drachenhaus Verlag, Esslingen 2020