Wednesday, 31 July 2013

Lucien Clergue: Brasília

In seinem Nachruf auf Oscar Niemeyer schreibt Lucien Clergue, "dass Oscar aufs Fliegen stets allergisch reagierte." Als er einmal einen Unfall hatte, musste er unverzüglich per Hubschrauber in eine Klinik überführt werden. Das ging jedoch erst, nachdem er mit einem Schlag ausser Gefecht gesetzt worden war.
Ebenfalls aus dem Nachruf erfährt man, dass Niemeyer Clergues Aktfotos sehr mochte. "In seinem Büro an der Copacabana hängt noch jenes Foto mit den drei Frauenakten am Strand, das er all seinen Besuchern zeigte. Sie sind seither die Hüterinnen des Tempels."
Lucien Clergue, geboren 1934, ist Fotograf, Autor und Filmemacher und hat 1968 zusammen mit Michel Tournier in Arles die "Rencontres Internationales de la Photographie" (heute "les Recontres d'Arles") begründet. Unter dem Titel "Die Vision von Schönheit und Harmonie" schreibt die Kunsthistorikerin Eva-Monika Turck: "Clergue, der in Arles durch enge, verwinkelte Gassen, die den Himmel und die Sonne abschirmen, von der Arena zu seinem Wohnhaus hinaufsteigen muss, ist geblendet vom weiten grenzenlosen Raum Brasílias." Man glaubt das zu spüren, wenn man diese Fotos betrachtet.
Es sei immer "die innerste Triebfeder der Leidenschaft von Clergue, verborgene Strukturen und Formen zu erkennen, sichtbar zu machen und zum Sprechen zu bringen", so Eva-Maria Turck. Im Falle von Brasília liegen die Strukturen und Formen allerdings keineswegs verborgen, sondern offen da. Es ist der Blickwinkel, unter dem Lucien Clergue diese Strukturen und Formen zeigt, der bestechend ist. Der Mann hat ein aussergewöhnliches Auge für Komposition.
Speziell interessant fand ich, dass ein Kapitel mit "Architektur inspiriert Fotografie" und ein anderes mit "Fotografie inspiriert Architektur" überschrieben ist, denn dieses Wechselspiel meint man in diesen Bildern in der Tat ganz ausgeprägt wahrzunehmen.

Die in diesem Band versammelten Fotos stammen aus den 1960er-Jahren. Neben Ansichten des fast leeren und surreal anmutenden Busbahnhofs, der geschwungenen Bögen des Palácio da Alvorada, der ganz wunderbar in Szene gesetzten Plastik As Banhistas von Alfredo Ceschiatti, der Präsidentenkapelle, der Kathedrale, Wohnhäusern der oberen Mittelschicht etc. etc., finden sich auch ein paar Aufnahmen des Anti-Brasília der Armen.

Brasília gemahnt an Science Fiction; als die Stadt am 21. April 1960 eingeweiht wurde, ist "diese Vision der fortschrittsgläubigen Moderne" Wirklichkeit geworden.

Lucien Clergue
Brasília
Hatje Cantz, Ostfildern 2013

Wednesday, 24 July 2013

Mario Sorrenti

stern Fotografie Nr 72 presents fashion photographer Mario Sorrenti, the accompanying Talent Booklet 5 shows the work of Pari Dukovic.
Sorrenti's pictures of Kate Moss, the book claims, "changed fashion photography. Because Mario Sorrenti removed the frontier between in front of and behind the camera." Since I'm at a complete loss as to what that could possibly mean ... I've decided to simply observe what Sorrenti's photographs did to me. And, I feel his shots of Kate Moss are just great, especially the one on the cover to which my eyes return again and again and again.
Copyright @ Mario Sorrenti/art Partner

Of the other pics in this tome I often did not know what to make. Did I like the ones I liked because they were good photographs or because I was simply fond of the looks of the model? Why would I want to look at a pregnant woman, her face painted like a clown, in a bathtub? Or at a human skull placed on a folding chair? Or at a guy dressed in leather whose head is wrapped in a transparent plastic bag? No idea, really ...
Copyright @ Mario Sorrenti/art Partner

Sometimes, when I do not know what to think of certain photographs, I turn to people more knowledgeable than I am. Jochen Siemens writes: "The intangible element in Sorrenti's style indicates, at the same time, the quality of his work: free of any ideology and, in the best sense of the word, eclectic." I can't say that this is helpful but Siemens then quotes Sorrenti and I now start to understand his obsession with images: "I was obsessed by looking at pictures. I looked for elements from Robert Frank, examined photos by Helmut Newton and Bruce Weber. I was fascinated by reportage photography. From all this I wanted to develop my own style." Well, he certainly did.
Copyright @ Mario Sorrenti/art Partner

Sorrenti seems to be driven, a maniac. Siemens explains: "The speed at which Sorrenti works is consistent with an observation by Jean Baudrillard: 'When something wants to be photographed, the reason is, of all things, that it doesn't want to disclose its meaning or reflect on itself.'" Apply that to the celebrities Sorrenti "day and night, without delay" photographs and you will begin to understand that a picture is just a picture is just a picture, and nothing more.

Mario Sorrenti
stern Fotografie Nr 72

Wednesday, 17 July 2013

Slow Travel

Zuallererst: "Slow Travel" ist ein schön gemachtes Buch: es liegt gut in der Hand, weist einen leserfreundlichen Satzspiegel auf und ist in einer ansprechenden Schrift gesetzt.

Das Leitmotiv hat der 1975 geborene Dan Kieran, der für die britischen Renommier-Blätter Guardian, Telegraph, Observer und Times schreibt, Lao-tse entlehnt: "Der wahre Reisende hat keinen festgelegten Weg, noch will er an ein Ziel."

Der müssige Reisende ähnle einem Kleinkind, meint Kieran, "er schlendert hinaus in die Welt und lässt sich dabei von seiner Neugier treiben, er sucht nach Erkenntnis und folgt unterwegs jenen Impulsen, die seine Abenteuerlust wecken." Das Beispiel mit dem Kleinkind überzeugt auch deswegen, weil es einen einmal in diese, dann wieder in eine andere Richtung dirigiert und wir dadurch auf Sachen stossen, die uns selber, so wir denn nur unseren eigenen Vorstellungen folgen, entgangen wären.

Tom Hodgkinson weist in seinem Vorwort darauf hin, dass das heutige Reisen darauf angelegt sei, "jegliches Denken zu vermeiden." Und dabei sollte Reisen doch so recht eigentlich genau das Gegenteil tun: die Welt spüren, wahrnehmen, was ist, Reflexion fördern. "Welch vielfältige Anblicke bieten sich mir dar, und wie viel Denken kann ich dabei erledigen!"

Der Gedanke, dass Reisen der Reflexion förderlich ist oder jedenfalls sein kann, gefällt mir nicht zuletzt deswegen, weil ich diese Erfahrung schon oft gemacht habe. Zudem erinnert es mich an die Worte von Nietzsche: "So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern."

Dan Kierans Erlebnisse und Gedanken von unterwegs, sei es mit dem Zug, der U-Bahn oder zu Fuss, sind gut erzählt und inspirierend, und für mich auf ganz unerwartete Weise: So liess seine Zugfahrt von London nach Marbella in mir Bilder aufkommen vom eigenen langsamen Reisen in Frankreich, Spanien und Portugal. Auch stellte ich mit Genugtuung fest, dass seine Reflexionen über Sprache sich mit meinen decken: "Wir sind abhängig von den Vorstellungen, die unsere Sprache ausdrücken kann." Von Zedaka (das sowohl Wohltätigkeit als auch Gerechtigkeit bedeutet) und invatarru (das zugleich für Zukunft und Vergangenheit steht) hatte ich bislang noch nie gehört.

Ganz besonders angesprochen hat mich das Kapitel "Sei dein eigener Reiseführer"", nicht etwa, weil Kieran von Reiseführern generell nichts halten würde (er ist voll des Lobes für die originale Baedeker-Reihe), sondern weil man überall auf freundliche Menschen treffe, die einem gerne helfen würden, wenn es nötig sei. Das heisst nicht etwa, dass man ohne Bücher reisen sollte. Ganz im Gegenteil. So hat Kieran Paris in Begleitung von Frederick Forsyths "Schakal" aussergewöhnlich intensiv erlebt: "Durch Forsyths Worte verbanden sich meine Fantasie und die Wirklichkeit auf eine Weise miteinander, wie es kein herkömmlicher Reiseführer jemals möglich gemacht hätte. Dennoch war es wie eine Führung durch Paris, die ich niemals vergessen werde." Für Nachtzüge empfiehlt er übrigens John le Carré; neugierig gemacht hat er mich überdies auf Stefan Zweigs "Reisen oder Gereist-Werden".

In "Slow Travel" finden sich auch ganz viele wunderbare Zitate. Dieses hier von Paul Theroux (aus: Der alte Patagonien-Express) zum Beispiel: "Ein guter Flug wird durch Negative definiert: Man wurde nicht entführt, man ist nicht abgestürzt, man hat sich nicht übergeben, hatte keine Verspätung, fand das Essen nicht ekelerregend. Also ist man dankbar." Oder dieses hier von Henry David Thoreau (aus: Walden oder Leben in den Wäldern): "Wenn jemand mit seinen Gefährten nicht Schritt hält, so tut er es vielleicht deshalb nicht, weil er einen anderen Trommler hört. Lasst ihn zu der Musik marschieren, die er hört, wie auch ihr Takt und wie fern sie auch selbst sei." Es spricht übrigens sehr für Kieran, dass die philosophischen Weisheiten, die er zitiert, in ihren realen Kontext setzt. So hält er zu Thoreaus eben zitierten Gedanken fest: "Solche edlen und weisen Worte verlieren etwas von ihrer Wirkung, wenn man erfährt, dass ihm in seinem ländlichen Idyll viele der täglichen Haushaltspflichten von seiner Mutter abgenommen wurden."

"Ich sehnte mich wieder danach, unterwegs zu sein, mich anders zu fühlen und einen anderen Teil meines 'Ichs' kennenzulernen." Genau dieses Gefühl hatte ich nach der Lektüre von "Slow Travel" ebenfalls.

Dan Kieran
Slow Travel
Die Kunst des Reisens
Rogner & Bernhard, Berlin 2013

Wednesday, 10 July 2013

Why Do Photography Critics Hate Photography?

Susie Linfield teaches at New York University. In 2010, she published The Cruel Radiance, in 2013, the University of Chicago Press excerpted from it A Little History of Photography Criticism; or, Why Do Photography Critics Hate Photography? for the Chicago Shorts series.

 For Charles Baudelaire and his American contemporary, Margaret Fuller, "the critic's emotional connection to an artist, or to a work of art, or to a genre, is the sine qua non, the ground zero, of criticism", Susie Linfield contends and I wondered whether there was anybody out there to dispute that or, differently put, why would anybody bother to criticise the work of an artist if there was no emotional connection? Well, according to Linfield, photography critics "view emotional responses – if they have any – not as something to be experienced and understood but, rather, as an enemy to be vigilantly guarded against."

Susan Sontag, for instance, described photographs as "a sublimated murder – a soft murder" and ... No, I won't go there anymore, see here; Allan Sekula decried photography as "primitive, infantile, aggressive" and then there was Bertolt Brecht who famously stated that "a photograph of the Krupp works or the AEG tells us next to nothing about these institutions.". Needless to say, Brecht is right. On the one hand, that is. But, Linfield argues, photographs also do something that no other form of art or journalism offer: "an inmediate, viscerally emotional connection to the world." I love that, it is a real heart-opener!

The good thing about Linfield's text is that she presents an alternative: How she describes what she sees in the picture of two boys by the Iraqi dentist Ahmed Dhiya, what feelings and thoughts this pic aroused in her, is enough reason to read this Little History of Photography Criticism.

A Little History of Photography Criticism;
or, Why Do Photography Critics Hate Photography?
Chicago Shorts
University of Chicago Press, Chicago 2013

Wednesday, 3 July 2013

Swiss Press Photo 13

Es ist erfreulich, dass es dieses Heft gibt, denn so viele prächtige Pressefotos zusammen in einem Band zu finden, kommt so oft eben nicht vor, oder genauer: nur einmal im Jahr. Unbefriedigend ist hingegen, dass einem nicht erläutert wird, weshalb ein Foto oder eine Bildserie einen Preis gewinnt. Der Betrachter (oder die Betrachterin) ist also darauf angewiesen, der Kompetenz der Jury zu trauen. Weshalb man das tun sollte, worin sich die Kompetenz der Jury-Mitglieder zeigt, wird einem nicht gesagt. Man ist deshalb gut beraten, die in diesem Band versammelten Fotos einfach auf sich wirken zu lassen und sich seine eigenen Gedanken dazu zu machen.
Copyright @ Valérie Chételat / Der Bund

Der Band ist viersprachig (Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch, wobei mir unerfindlich ist, weshalb ein Schweizer Pressefotograf Englisch/Deutsch "Swiss Press Fotograf" beziehungsweise Französisch/Englisch "Photographe Swiss Press" und Italienisch/Englisch "Fotografo Swiss Press" genannt wird) und zeichnet die Pressefotografen des Jahres 2012 aus, und zwar in den Kategorien Aktualität, Alltag und Umwelt, Porträt, Sport, Kunst und Kultur, Ausland.
Copyright @ Valérie Chételat / Der Bund

Dass ich hier die Fotos von Valérie Chételat, der Gewinnerin in der Kategorie Kunst und Kultur, zeige, liegt daran, dass sie mich sofort angesprochen haben: ein nüchternes und deshalb gelungenes Visualisieren von Verlassenheit, von Leere, von etwas, das einmal gewesen und jetzt nicht mehr ist.

 Hier die Informationen zu diesen drei Aufnahmen:
"Ausgetanzt: Die Zeit ist in diesem Haus an der Viktoriastrasse 63 in Bern stehen geblieben. Ein nostalgischer Rückblick drängt sich auf. Emmy Sauerbeck (1894-1974) hat hier vor 82 Jahren ihre Bewegungsschule gegründet. Die Tanzpädagogin Ursula Blatter-Aeberhard übernahm die Nachfolge. Im Juni 2012 tritt sie in den Ruhestand. Die Tanzräume werden für immer geschlossen."
Copyright @ Valérie Chételat / Der Bund

Gute Pressebilder zeichnen sich nicht zuletzt dadurch aus, dass der Fotograf eine gute Idee hatte. In diese Kategorie gehört für mich etwa Philippe Maeders (24 Heures) Dokumentation des Erdbebens, das am 20. Mai 2012 die Emilia-Romagna erschütterte. Er zeigt ein zusammengestürztes Käselager: Tausende Parmesan-Käseleiber der Familie Caretti in San Giovanni in Persiceto mussten mit Verlust weiterverkauft werden. Oder das Porträt von Donna Leon anlässlich ihres 70sten Geburtstags von Remo Nägeli (Schweizer Illustrierte): Ihr Gesicht gedankenvoll erscheinen und deswegen teilweise im Dunkeln zu lassen, scheint mir einer Krimiautorin wunderbar angemessen.

Swiss Press Photo 2013 ist ein auf vielfältige Art und Weise anregender und deswegen sehr zu empfehlender Band.

Swiss Press Photo 2013
Benteli Verlag, Sulgen 2013