"Der Fotograf, Lehrer und Soziologe Lewis W. Hine (1874-1940) hat unser Bildgedächtnis von der amerikanischen Arbeitswelt des frühen 20. Jahrhunderts wie kein anderer geprägt", lese ich im Klappentext und frage mich, ob es wohl heutzutage Fotografen (weiblich wie männlich) gibt, von denen Ähnliches zu Recht gesagt werden könnte, denn so fassbar wie die damalige Zeit scheint uns Heutigen so ziemlich gar nichts mehr. Die Deutungshoheit der sogenannten Leitmedien ist weitgehend dahin – und das ist gut so, denn allzu oft haben sie nichts anderes getan als einflussreichen Leuten eine Plattform zu bieten, um noch einflussreicher zu werden –, doch die daraus resultierende Unübersichtlichkeit ist problematisch, weil sie den sozialen Kitt, zu dem die traditionellen Medien eben auch beitrugen, weitgehend zum Verschwinden gebracht hat
Wolkenkratzer-Bauarbeiter auf einem Stahlträger
auf der Baustelle des Empire State Building.
New York City, 1931
Mit Lewis W. Hine assoziiere ich automatisch das Empire State Building und die berühmte Aufnahme der Bauarbeiter, die in luftiger Höhe nebeneinander auf einem Stahlträger sitzen, rauchen und sich unterhalten. Dieses Bild findet sich nicht in diesem Band, doch dafür andere (und überaus eindrückliche) aus der Zeit als dieses Gebäude gebaut wurde – die meisten hatte ich noch nie zuvor gesehen, obwohl mir die Arbeiten des Dokumentaristen Lewis W. Hine nicht unvertraut sind.
Hine verbrachte die ersten Jahre seines Lebens ohne materielle Sorgen (sein Vater betrieb ein Café, seine Mutter arbeitete zeitweise als Lehrerin) in einer Kleinstadt in Wisconsin. Der Unfalltod seines Vaters bedeutet jedoch eine Zäsur, fortan muss er mit schlecht bezahlten Jobs mitverdienen – er kennt also die Bedingungen der Kinderarbeit, die er später dokumentieren sollte, aus eigener Erfahrung.
Er wurde vom Kinderschutzkomitee angeheuert und begann ab 1906, neben seiner Arbeit als Lehrer, die Heimarbeit von Minderjährigen in New York zu dokumentieren. Die Bildlegenden der Aufnahmen von Zeitungsjungen erwähnen meist deren Alter (die manchmal erst 12 Jahre alt waren) sowie den (äusserst mageren) Verdienst.
11 Uhr, Montag, 9. Mai 1910
Zeitungsjungen am Skeeter's Branch, Jefferson, bei Franklin.
Alle haben geraucht.
A moment in time werden Fotografien oft genannt und selten war das treffender als bei der obigen Aufnahme, die heutzutage so wohl nicht mehr vorstellbar wäre.
Es ist eine eindrückliche Zusammenstellung, die Peter Walther mit diesem umfangreichen Band vorlegt, die überzeugend demonstriert, dass die Dokumentarfotografie (bei welcher die Bildlegenden genau so wichtig sind wie die Bilder) entscheidend von der Haltung des Fotografen geprägt ist.
"Die ganze Zeit musste ich dafür sorgen, dass meine Fotografien 100% echt waren – nichts durfte retuschiert, nichts durfte, auf welche Art auch immer, gefälscht werden. Das hatte zur Folge, dass ich bei der Straight Photography blieb, die mir von Anfang an am meisten zugesagt hatte."
Eine typische Gruppe von Botenjungen der Post in
Norfolk, Va. Der Kleinste ganz links, Wilmore Johnson,
ist seit einem Jahre dabei. Er arbeitet nur tagsüber. Die
Jungen bei der Post sind in Norfolk und in anderen
Städten in Virginia bei weiten nicht so klein wie die
jungen bei Western Union.
Der handliche Band zeigt auch Aufnahmen der Einwanderer auf Ellis Island – von 1880 bis 1900 strömten über neun Millionen Neuankömmlinge in die USA, die meisten über Ellis Island – sowie aus Europa, wo er 1918/19 die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs dokumentiert.
"Ich habe zweierlei gewollt", hat Hine seine Arbeit als Fotograf zusammengefasst, "ich wollte die Dinge zeigen, die korrigiert werden müssen. Und ich wollte die Dinge zeigen, die Beachtung verdienen."
Peter Walther
America at Work
Englisch / Deutsch / Französisch
Taschen, Bibliotheca Universalis, Köln 2018