Heutzutage, wo fast alle Gewissheiten meiner Jugend (ich wurde 1953 geboren) – Wissenschaft ist bewundernswert (ihre grössten Kritiker sind selbst Wissenschaftler), Bildung ist nicht nur erstrebenswert, sondern zeichnet einen aus, und die Wahrheit, die gibt es. – von unreflektierten Gefühlen, die meist im Bauch verortet und bedauerlicherweise nicht als Magenverstimmung erkannt werden, hinweggefegt wurden, kann so recht eigentlich nur noch die Satire die Welt akkurat beschreiben. Und Jonathan Guggenberger tut das ausgesprochen gekonnt. "Wo (in einer Kolonie Pariser Künstler) Christian Boltanski den Boden seines Gartenateliers mit verblichenen Fotografien jüdischer Schulkinder gepflastert hatte, um sich für immer daran zu erinnern, dass sein Vater ein Überlebender war."
An der Kunstbiennale in Venedig geht der irische Performancekünstler Aaron Geldof an einem Kreuz in Flammen auf. Für die Freiheit Palästinas. Sein engster Vertrauter und Freund, der Kulturjournalist (die Free Palestine-Aktionen scheinen in der Abteilung Kultur mehr Aufmerksamkeit zu kriegen als in der Sparte Politik) Enzo Bamberger, soll den Vorgang erklären, denn es ist das Wesen der modernen Kunst, dass sie erklärt werden muss.
Enzo Bamberger (eigentlich Lorenz Knüppel, ein Name, so sein Vorgesetzter, mit zu wenig jüdischem Flair) war oft in Israel, wo er als Deutscher (als der er sofort erkannt wird) eher gelitten als geschätzt wurde, erinnert sich an seinen Freund Aaron. Bamberger hat wenig Sympathie für das deutsche "Erinnerungstheater", obwohl ihm der Satz der Kulturstaatsministerin "Kultur ist das Denklabor der Demokratie" gefällt.
Enzo (damals noch Lorenz) hatte Aaron kennengelernt, weil er in seine Schwester Kat verliebt war (sie jedoch hielt ihn für schwul), die Berlin provinziell fand. "Nicht nur, weil man immerzu vom 'Kiez' sprach, überall die gleichen Leute traf oder sich alles nur darum drehte, wer in welcher Beziehung zu wem stand. Nein, für Kat war Berlin provinziell, weil es sich weiterhin weigerte, erwachsen zu werden – es war kleingeistig, eingebildet und dabei noch quälend laut. Berlin war wie ein Barockkönig, eine zu gross geratene narzisstische Putte, die wahlweise den eigenen Nabel oder den eigenen Pimmel bestaunte."
Dann tritt Aaron in Enzos Leben und seine Wut weicht seiner Begeisterungsfähigkeit. "Mit Aaron war alles leicht und klar. Die elendigen Hindernisse verschwanden von selbst. Mein Leben schien mir nicht mehr nur Aufschub zu sein." Sehr schön, diese Beschreibung von Glück.
Der einflussreiche Galerist Michael Kelter, der alles verkörperte, was im Kunstbetrieb falsch war ("Seine sexuellen Aufdringlichkeiten, seine Übergriffe und seine widerwärtigen Machtspiele."), soll gestürzt werden. "Schon nach der ersten Begrüssungsrunde, in der ich einer der wenigen war, die sich mit männlichen Pronomen vorstellten ...".
Aaron outet sich als Jewish, Enzo ist erstaunt. "Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich ja nicht gewusst, dass Aaron einer von ihnen war – Kat eine von ihnen. Nicht mal nachgedacht hatte ich darüber. Warum auch? Solche Dinge wie Herkunft hatten für mich nie eine Rolle gespielt." Sagt der Deutsche, der sich als Jude ausgibt.
So sehr Opferkunst auch die deutsche Kunstszene persifliert, auch viele gesicherte Tatsachen kommen vor, auch wenn die Namen (womöglich aus juristischen Gründen) geändert wurden: "Die Kunstsammlerin und Mäzenin, die mit Hilfe des Nazi-Erbes ihrer Familie, des Zwangsarbeiterkapitals ihres Urgrossvaters, Willi Scherer, ein international renommiertes Kunstimperium errichtet hatte ...".
Und so sehr die Lektüre auch zum Lachen reizt, die Absenz jeglicher Empathie mit den Opfern des 7. Oktober ist verstörend und erschütternd; die zur Schau getragene Unterstützung für die Palästinenser ist billig und soll in erster Linie als Beleg für eine einwandfreie moralische Haltung gelten.
Dass wir in einer Zeit, in der wir mit Informationen zugeschüttet werden, oft nicht mehr so recht wissen, wo wir stehen, was wir denken und glauben sollen, ist verständlich. Dass aber die Kunstenthusiasten nicht begreifen, dass die Terrorangriffe auf die westliche Kultur (in Israel war es ein Musikfestival, in Paris – Bataclan – ein Konzert, in Nizza war es ein Volksfest zum französischen Nationalfeiertag, in Berlin der Weihnachtsmarkt) auch all das zerstören will, was in der westlichen Kunstszene läuft, ist nicht nur peinlich, sondern letztlich auch logisch, denn Narzissten haben selten auch nur einen Schimmer von ihrer eigenen Destruktivität.
Jonathan Guggenberger
Opferkunst
Novelle
Edition Tiamat, Berlin 2024