Es sei dies ein Buch "über Einzelpersonen und kleine Gruppen, denen es ebenso um das grosse Ganze wie um Details ging und die sich oft um den Transfer oder die 'Übertragung' bestimmter Ideen und Praktiker von einer Disziplin zur anderen bemühten", schreibt Peter Burke in seinem Vorwort.
Mich haben Universalgelehrte immer schon fasziniert. Das hat auch damit zu tun, dass mir die einzelnen Disziplinen zu künstlich und willkürlich sind, ich mich mit Abgrenzungen schwer tue und nicht so recht erkennen kann, worin denn ihr Sinn bestehen könnte. Die Beschränkung auf Überschaubares? Die Möglichkeit, sich als Experte zu profilieren?
Doch was ist eigentlich ein Universalgelehrter? Ich verstehe darunter einen breit gebildeten, höchst neugierigen und überaus kreativen Menschen. Leonardo da Vinci kommt mir in den Sinn. Und James Lovelock. Und Goethe. Dazu zählen würde ich auch die als Astronominnen bekannt gewordenen Maria Mitchell und Mary Somerville. Doch was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem aussergewöhnlichen Menschen und einem Universalgenie?
Gemäss der "Polymath Discussion Group" ist ein Universalgelehrter jemand, "der sich für viele Themen interessiert und viel über sie erfahren will." Peter Burke konzentriert sich hingegen auf Akademiker mit enzyklopädischen Interessen oder, anders gesagt, auf Gelehrsamkeit. Und so kriegt meine Lektüre bereits den ersten Dämpfer, denn akademisches Wissen finde ich eigentlich nur akademisch, also nicht von praktischem Nutzen. Umso erstaunter bin ich dann, dass sich der Autor auch mit Aldous Huxley und Jorge Luis Borges auseinandersetzt. Der Grund? Sie haben auch nicht-belletristische Literatur hervorgebracht. Genauso wie Vladimir Nabokov und Umberto Eco.
"Das Buch konzentriert sich auf Europa und Nord- und Südamerika in der Zeit vom 15. bis zum 21. Jahrhundert." Wobei: Die Debatte über den Wert des Wissens ist seit den Griechen immer die gleiche geblieben: Breite versus Tiefe. Bei der zunehmend ausufernden Erfindung von immer neuen Disziplinen, die meines Erachtens weniger von der Sache als von der Jobbeschaffung geleitet werden, tritt die Neugierde für breites Wissen leider immer mehr in den Hintergrund. Und das ist einer der Gründe, weshalb sich die Lektüre dieses Werkes lohnt.
Giganten der Gelehrsamkeit ist kein Buch, das man von Anfang bis Ende durchliest, dazu ist das geballte Wissen, das da auf einen einprasselt zu umfangreich. Klar doch, ich spreche von mir (von wem auch sonst?). Zum ersten Mal so richtig hängen bleibe ich bei Leonardo, der ein denkbar untypischer Renaissance-Mensch war. Es mangelte ihm an humanistischer Bildung, er hatte vermutlich nie eine Schule besucht, auch Latein konnte er nur mit Schwierigkeiten lesen.
Giganten der Gelehrsamkeit bringt mir auch viele Frauen näher, von denen ich noch nie gehört hatte. Etwa die Französin Marie de Gourney, die 1584 Montaignes 'Essais' für sich entdeckte. "Deren Lektüre versetzte sie in einen solchen Erregungszustand, dass ihre Mutter sie mit Medikamenten ruhigstellen wollte. Später lernte sie Montaigne persönlich kennen, wurde eine Art Tochter für ihn ...". Natürlich nahm ich unverzüglich mein Reclam-Bändchen aus dem Regal.
Viele, die in diesem Buch erwähnt werden, waren mir gänzlich unbekannt. Und ich kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, als ich vom deutschen Jesuit Athanasius Kircher las, er "studierte medizinische Chemie, beobachtete Eklipsen und versuchte, Codes zu dechiffrieren und die ägyptischen Hieroglyphen zu entziffern." Zudem: "Er schrieb in Latein, Italienisch, Spanisch, Deutsch, Holländisch, Griechisch, Hebräisch, Armenisch, Arabisch und Koptisch und konnte in vielen weiteren lesen." Ein Buch über China kam auch noch dazu, das von Leibniz bewundert wurde, der jedoch zu Kirchers ägyptischen Studien befand: "Er versteht nichts."
Wie alles andere auch, so unterliegen auch die Einschätzungen von Universalgelehrten dem stetigen Wandel, denn die allgemeine Weltsicht wandelt sich nun mal mit den jeweiligen neuen Einsichten sowie den Denkmoden, Giganten der Gelehrsamkeit zeigt das an konkreten Personen wie auch an Ausprägungen der Zeit wie etwa den Bibliotheken. "Plinius hatte Zugriff auf zweitausend Bücher, wohingegen im 9. Jahrhundert die Klosterbibliotheken von Reichenau und St. Gallen – seinerzeit bedeutende geistige Zentren – über jeweils nicht mehr als vierhundert Bücher verfügten."
Peter Burke lässt mich auch Vieles neu sehen. So war mir zwar Joseph Needham als Vermittler östlichen Denkens bekannt, doch hatte ich keine Ahnung, dass er auch Professor für Biochemie und für die 'Needham-Question' berühmt war: "Warum fand die Wissenschaftliche Revolution in Europa und nicht in China statt?" Auch wäre mir nie in den Sinn gekommen, Susan Sontag als Universalgelehrte zu sehen. Nicht bekannt war mir überdies, wie vielfältig Gregory Bateson, den ich hauptsächlich mit Anthropologie und Systemtheorie in Verbindung bringe, unterwegs gewesen war. Und verblüfft konstatierte ich, dass Aldous Huxley und Jorge Luis Borges die 'Encyclopaedia Britannica' lasen und nicht etwa nur konsultierten.
Universalgelehrte sind Generalisten (und im besten Sinne des Wortes Amateure – sie liebten, was sie taten) und damit eine Bedrohung für die Spezialisten, die ihnen denn auch immer wieder Ungenauigkeiten und unzulässiges Pauschalisieren vorwerfen. Nur eben: Wer die grösseren Zusammenhänge nicht kennt, verpasst das Wesentliche. In den Worten von Isaac Barrow im 17. Jahrhundert: Die "Verbindung der Dinge untereinander und die Bedingtheit von Gedanken"..
Fazit: Ein sehr gelehrtes und überaus anregendes Werk.
Peter Burke
Giganten der Gelehrsamkeit
Die Geschichte der Universalgenies
Wagenbach, Berlin 2021