Unsere Corona-Zeiten haben mir wieder einmal vor Augen geführt, wie schlecht wir mit Unsicherheiten umgehen können. Das Unbekannte ist uns generell eher unheimlich, wir versuchen ihm auszuweichen so gut es eben geht. Wir wollen uns nicht verlieren, ganz im Gegenteil, uns ist es um Sicherheit zu tun. Und obwohl wir wissen, dass alles im Leben so recht eigentlich unsicher ist, streben wir trotzdem nach Sicherheit. Kein Drang ist ausgeprägter.
Nicht alle wollen sich ihm einfach so unterwerfen. John Keats etwa fragte sich, was einen Mann bedeutsam mache und kam zum Schluss: "wenn jemand fähig ist, das Ungewisse, die Mysterien, die Zweifel zu ertragen, ohne alles aufgeregte Greifen nach Fakten und Verstandesgründen." Zugegeben, ich bin überhaupt nicht so, doch nichts finde ich als Wegweiser attraktiver.
Für Virginia Woolf war das Sich-Verlieren nicht nur ein leidenschaftlicher Wunsch, sondern eine dringende Notwendigkeit, "niemand und jeder zu werden, die Ketten abzuwerfen, die einen daran erinnern, wer man ist, wer man anderen zufolge ist." In der Gegenwart zu sein, bedeutet sich von seinen Konditionierungen zu befreien. Gemäss Walter Benjamin "bedeutet sich verirrt zu haben, völlig gegenwärtig zu sein, und völlig gegenwärtig zu sein heisst, es auszuhalten im Ungewissen und Unergründlichen.
Rebecca Solnit hat sich mit Outdoorexperten unterhalten, hat sich in der Geschichte kundig gemacht. "Verirrt zu sein, halfen mir meine Gesprächspartner zu verstehen, war hauptsächlich ein Geisteszustand, und das trifft auf all die metaphysischen und metaphorischen Verirrungen genauso zu wie auf das Herumstolpern in irgendwelchen entlegenen Gegenden."
Sokrates meinte übrigens: "Man kenne bereits das, was unbekannt zu sein scheint; man sei bereits hier gewesen, allerdings nur als jemand anderes." Das erinnert mich an Empedokles, der einen universellen Kreislauf der Dinge postuliert, in dem es weder Schöpfung noch Vernichtung gibt." Demnach, dies schliesse ich daraus, wäre alles, restlos alles schon immer dagewesen – wir haben es nur nicht gesehen.
Rebecca Solnit erzählt die Geschichte des spanischen Konquistadoren Cabeza de Vaca, der 1527 von Florida aus das Landesinnere erkundete und in der Autorin den Gedanken weckte, man wäre gut beraten die Fähigkeiten des Spurenlesens, des Jagens, des Sich-Zurechtfindens zu erlernen. Und sie berichtet vom Zusammentreffen mit einem Franziskanerpater, als sie im Great-Basin-Nationalpark im Schatten ihres Pick-ups lag und die 'Göttliche Komödie' las. Und sie beschreibt ihre erste Wüste, die nördlich vom Death Valley liegt, und sie das Schreiben lehrte.
Ihre vielfältigen Assoziationen sind es, die diese Essays für mich faszinierend machen. So bringt sie in 'Das Blau der Ferne' unter anderem die Kartografie ( "... die Selbstzufriedenheit, die die Vorstellung begleitet haben muss, dass die Welt, wie es der englischen Seefahrtsbegiff ausdrückt, 'encompassed' war, das heisst in allen Richtungen der Kompassnadel von Wasser eingefasst, entspricht wohl unserer eigenen Selbstgefälligkeit, die es äusserst unwahrscheinlich erscheinen lässt, dass man auf heutigen Weltkarten die Wörter 'terra incognita' findet.") mit Yves Klein zusammen, der 1957 "mit seinem tiefen, elektrischen Blau einen Globus" bemalte und damit eine Welt schuf, "auf der es keine Trennung zwischen verschiedenen Ländern gab, oder zwischen Wasser und Land, als sei die Erde selbst zum Himmel geworden ...".
Fazit: Horizonterweiternd, anregend und hilfreich.
Rebecca Solnit
Die Kunst, sich zu verlieren
Ein Wegweiser
Matthes & Seitz Berlin 2020