Wednesday, 29 May 2013

Sebastião Salgado: Genesis

Als ich zum ersten Mal, einige Jahre ist es her, von Sebastião Salgados Genesis-Projekt las (das war im Guardian), fühlte ich mich wie elektrisiert: Salgado schwebte vor, die Erde in ihrem unberührten Zustand zu zeigen. Was für ein abenteuerliches, kolossales Unterfangen! Nun liegt das Buch vor (im Taschen Verlag) und es ist so spektakulär, wie man sich das von Salgado erwarten darf.
Sebastião Salgado ist im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais zusammen mit sieben Schwestern aufgewachsen, "inmitten einer tropischen Vegetation voller Vögel und wilder Tiere mit fischreichen Flüssen und umgeben von sanften Hügeln, von denen wir unsere Fantasie hinaus in die Welt schweifen liessen." Mitte der 1990er-Jahre hatten Rodungen und Bodenerosion dieses Land in eine leblose Ödnis verwandelt. Salgado und seine Frau Lélia Deluiz Wanick beschlossen, das Ökosystem von Sebastiãos Kindheit wieder aufleben zu lassen. Sie pflanzten über 300 verschiedene Baumarten und die Vögel, Schmetterlinge, Käfer und Pflanzen kehrten zurück. Gut möglich, ja wahrscheinlich, dass damals der Grundstein gelegt wurde für das Projekt Genesis.

Auf mehr als 32 Reisen – in kleinen Propellermaschinen, zu Fuss, per Schiff und Kanu oder im Fesselballon, klimatischen Extremen ausgesetzt und mitunter auf riskanten Pfaden – hat Salgado Bilder gesammelt, die uns die Natur, wilde Tiere und indigene Völker zeigen. Es sind gewaltige Bilder, alle in schwarz/weiss, die eine Welt zeigen, die einen das Staunen und die Ehrfurcht lehren.

Zu sehen sind unter anderem die Vulkanlandschaft der Galapagos-Inseln, Pinguine, Seelöwen, Kormorane und Wale in der Antarktis und im Südatlantik, Alligatoren und Jaguare im brasilianischen Urwald, das Volk der Zo'é im Dschungel Brasiliens, die Korowai in West-Papua, das Nomadenvolk der Dinka im Sudan, die Nenets mit ihren Rentierherden am Polarkreis und die Bewohner der Mentawai-Inseln westlich von Sumatra. Sowie Eisberge, Schluchten, Flussläufe, Gletscher ... eine kaum berührte, seit Jahrtausenden bestehende Welt.
Besucht hat Salgado auch die Halbinsel Kamtschatka am östlichen Rand Russlands, die als Flottenbasis der sowjetischen Atom-U-Boote während des gesamten Kalten Krieges für Ausländer und für die meisten Russen gesperrt war. Besonders vom wilden Inland mit seinen 160 Vulkanen, von denen 29 noch immer aktiv sind, fühlte er sich angezogen. "Vom Boden aus zu fotografieren erwies sich allerdings als schwierig, denn das Gelände ist steil, und die Flüsse sind zu reissend und zu kalt, um sie zu Fuss zu durchqueren." Doch es gibt Menschen, die in der Nordpolarregion leben: die Nenzen, ein Nomadisches Volk im nördlichen Sibirien, zählt etwa 42'000 Angehörige. 

Wenn ich diese grossartigen Bilder auf mich wirken lasse, spüre ich, dass sich meine Sicht der Welt und des Lebens verändert. Es wird mir bewusst, wie klein, schwach und unbedeutend der Mensch ist, gleichzeitig empfinde ich jedoch ein eigenartiges Gefühl der Zugehörigkeit, des Aufgehobenseins und auch der Angst. Es ist ein tiefes Beeindruckt-Sein über die Pracht und das Unbegreifliche des Lebens, das mich ergreift. Es sind Fotos, die mich mit dem Leben auf "unserem" Planeten auf eine ganz grundsätzliche Art und Weise konfrontieren; sie können uns helfen, die Ehrfurcht vor dem Wunder des Lebens zurückzugewinnen. 
Sebastião Salgado
Lélia Wanick Salgado
Genesis
520 Seiten
49.99

Limited Edition
Hardcover. 2 Bände mit Buchständer
46,8 x 70 cm, 704 Seiten
€ 2500

Art Edition
Hardcover. 2 Bände mit Buchständer und Print
46,8 x 70 cm, 704 Seiten
€ 7500

Taschen Verlag, Köln 2013

Wednesday, 22 May 2013

Delhi, Monster Metropolis

The great Indian intellectual U.R. Ananthamurthy once remarked that the Indian writer is luckier than his Western counterpart, for he lives simultaneously in the 12th and 21st centuries, and in every century in between. This is certainly true of Delhi, and it provides the city both with its biggest problems and its greatest boons. The close juxtaposition of different worlds, disjointed in time, may make the city dangerous and violent, but it also gives its beauty, its energy, its fascination, and it makes it what it is.

From: Delhi, Monster Metropolis by William Dalrymple

Wednesday, 15 May 2013

Atlas der Vorurteile

"Mapping Stereotypes" heisst dieses Buch auf Englisch und das beschreibt akkurat, was Yanko Tsvetkov hier vorlegt: Länderkarten von vielen Gegenden der Welt, auf denen wir unsere Vorurteile wiederfinden. Dabei erfahren wir nicht nur einiges über unsere eigenen, sondern auch über die der anderen. Das ist nicht immer überraschend (das sind Stereotypen ja per definitionem nicht) – so wird etwa die Schweiz meist mit Bank, Geld, Schokolade oder Heidi gleichgesetzt –, doch es brachte mich immer mal wieder zum Schmunzeln.

Welches südamerikanische Land nehmen die USA als voll von Drama-Queens wahr? Welches europäische Land ist in den Augen der Briten charakterisiert durch gebräunte Männer mit grauen Haaren? Und wo wähnen sich die Deutschen in einer Gegend mit billigen Hotels? Die Antworten darauf, und auf vieles andere mehr, finden sich in Yanko Tsvetkovs amüsanten Atlas der Vorurteile.

Der Atlas der Vorurteile ist jedoch kein Weltatlas. Etwas schade ist, dass wir zwar die Welt aus der Sicht der alten Chinesen kennenlernen, jedoch fast gar nichts über die heutige asiatische Sicht Europas und Nordamerikas erfahren, und so ziemlich überhaupt gar nichts über die afrikanische Wahrnehmung der Welt. Dafür präsentiert uns der Autor und Illustrator Tsvetkov "Europas Mürrische Oma" und "Europas Grosser Weiberheld".

Übrigens: dass einem Bulgaren bei Island automatisch Björk in den Sinn kommt, sagt vermutlich mehr über den gebürtigen Bulgaren Yanko Tsvetkov aus, als über Island. Schliesslich ist ja so recht eigentlich das Wesen des Stereotyps, dass es mehr über den aussagt, der es verwendet, als über die, welche es zu beschreiben vorgibt.

Yanko Tsvetkov
Atlas der Vorurteile
Knesebeck Verlag, München 2013

Wednesday, 8 May 2013

Oliver Kern: A German View

Looking at these photographs, I've often had the sensation to be present when they were taken. I do not experience that often, so how come? My best guess is that this is the kind of photographs I would take myself – they are unspectacular and capture sometimes rather peculiar aspects of everyday life. And precisely by not appearing to show something special they actually are.
Oliver Kern "travels throughout Germany on the lookout for places connected to German identity", the publisher lets me know. I must admit I'm a bit at a loss as to what these pics could possibly tell me about German identity; I do however very much warm to what Michaela Heissenberger expressed in her brief intro to A German View: "There is something timeless about these pictures: through the event that's occurring, they try to capture something that is always there. An atmosphere, a kind of background noise that surrounds us and determines a large part of our lives: always the same activities, the same situations, the same places. These are the things that have the best claim to general validity, that at least come close to redeeming a promise to tell us something about this life in these places  about everyday life in a country." In English this may sound rather awkward, the German original is much more convincing
Although these pictures show the ordinary, I've often spotted something strangely out of place when spending time with them. The guy with his back to the camera who looks at the two towers (on the second picture shown) for instance. What is he doing there? No idea really and maybe he doesn't know it either. In any case, his presence gives the picture a somewhat surreal quality. In fact, as ordinary as the places pictured are – to me they look unreal in their ordinariness, or maybe because of it. And the out-of-place persons contribute to this impression – and made me think of paintings by Magritte.

Oliver Kern
Die deutsche Aussicht / A German View
Hatje Cantz, Ostfildern 2012
www.hatjecantz.de

Wednesday, 1 May 2013

Rudolf Stumberger: Klassen-Bilder II

In den „Klassen-Bildern“ der Jahre 1945 bis 2000 „spiegeln sich sowohl die wirtschaftliche Prosperität der Nachkriegszeit als auch der Untergang der alten Industrie in den 1980er Jahren und neue Tendenzen der Verarmung gegen Ende des 20. Jahrhunderts wider. Und es mag dabei verblüffen, dass das Soziale als Misere Mitte der 1980er Jahre immer noch ein ähnliches Gesicht aufweist wie rund 150 Jahre zuvor“, schreibt Rudolf Stumberger in seiner Einleitung zu diesem auf vielfältige Art und Weise anregenden Werk. Er illustriert sein Argument mit einer Abbildung von Mary Ellen Mark aus dem Jahre 1987 und einer von Walker Evans aus dem Jahre 1936 (ich kann sie hier leider nicht zeigen) und es ist in der Tat verblüffend, wie ähnlich sie wirken.

Wie bei akademischen Publikationen üblich, wird zuerst einmal definiert: „Sozialdokumentarische Fotografie ist die fotografische Darstellung des Sozialen, oft in gesellschaftskritischer Absicht und über die Tagesaktualität hinausgehend. Im engeren 'klassischen' Sinn geht es dabei um die Dokumentation, Anklage und Beseitigung von sozialen Missständen. In einem weiteren Sinn geht es um die Dokumentation und Analyse des Sozialen.“

Den Stellenwert dieses Werkes im Rahmen einschlägiger akademischer Publikationen mögen Berufenere beurteilen, mir geht es hier darum, auf ein paar Gedanken und Ausführungen hinzuweisen, die mich besonders berührt haben. Dabei gehe ich ganz willkürlich vor, lasse also den Kontext, den der Autor mir vorgibt, weitgehend ausser Acht und mich davon leiten, was ich mir bei der Lektüre angestrichen habe. Etwa diesen Satz hier: „Im Gegensatz zu dem allgemeinen Medienpublikum nehmen die postmodernen Autoren die Inhalte der Massenmedien wirklich ernst.“
Dass die Welt heutzutage vorwiegend medial wahrgenommen werde und zu einem Realitätsschwund führe, sei ein meist ungeprüfter Gemeinplatz, der zudem falsch sei, so Stumberger, denn zu fast 90 Prozent ihres Tages beschäftigen sich die Menschen nachweislich nicht mit den Medien. Zudem: Charles Jonscher hat in „Wired Life“ (1999) darauf hingewiesen, dass im elektronischen Zeitalter aufwachsende Kinder, auch wenn das Pädagogen nicht immer so sehen, sehr wohl zwischen der realen und der medialen Welt zu unterscheiden wissen.

„... zu fragen, ob sich um den Begriff des 'Bildes' herum, ebenso wie um den der 'Kommunikation' in der Kommunikationswissenschaft, überhaupt ein Theorierahmen bauen lässt.“ Fragen kann man sich übrigens auch, wozu ein solcher Theorierahmen, so er denn möglich, gut sein sollte, ausser natürlich zur Arbeitsbeschaffung für Bild- und Kommunikationswissenschaftler. „Ich habe das schon immer für einen Widerspruch gehalten. Medien. Wissenschaften ...“ (Annalena McAfee:
Zeilenkrieg, 2012).

Die sozialdokumentarische Fotografie hatte es immer schwer auf der visuellen Bühne und hätte ohne Zuschüsse des Staates und diverser Organisationen wohl kaum überlebt. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts erfolgte dann die Transformation der Fotografie vom Handwerk zur Kunst. Dies hatte nicht nur Auswirkungen auf die ökonomischen Verhältnisse (einige Fotografen erzielten plötzlich Millionen-Honorare), sondern auch auf die Fotografie selbst: „Der Nimbus der Objektivität und der Authentizität – geboren aus dem physikalischen Zusammenspiel von Licht und lichtempfindlichen Film, bei dem als natürliches Phänomen die Realität der Welt auf Papier, Glas oder Diafilm ihr Sein als materielle Spur einschrieb“ war dahin, Nachbearbeitung sowie Inszenierung wurden die Regel.

Zitiert wird unter anderen auch der Fotograf Tom Hunter, der meint, zu argumentieren, was real sei und was nicht, sei sehr seltsam: „... alle Fotografie ist inszeniert, denn wenn du deine Kamera an das Auge setzt, ist das bereits eine Inszenierung.“ Sicher, strenggenommen schon. Trotzdem ist das Unsinn, denn Inszenierung meint die bewusste, zweckgerichtete Herstellung von Wirklichkeit im Gegensatz zur vorgefundenen Wirklichkeit. Dass theoretische Abgrenzungen schwierig sind, versteht sich, doch wenn der Fotograf die Betrachter darüber informiert, wie das Bild zustande gekommen ist, lässt sich ganz leicht unterscheiden, ob sich das Fotografen-Ego über die Wirklichkeit vor dem Kameraauge erhebt oder sich ihr unterordnet.

PS: Es versteht sich, das Wenige, das ich hier aufnotiert habe, beschreibt weder das Buch, noch wird es ihm gerecht. Deshalb: ich habe „Klassen-Bilder II“ mit Gewinn gelesen und vor allem geschätzt, dass ich den Autor als erfreulich pragmatisch-realistisch und nicht etwa akademisch abgehoben wahrgenommen habe: „So wie der Bereich der 'visual culture' generell, scheint auch der Ansatz des 'Visuellen im Sozialen' alter Wein in neuen Schläuchen zu sein.“

PS1: Auf Seite 207 wird auch „Parrs Kollege in Manchester, Denis Meadows“ erwähnt, der mit seinem Omnibus mehrere Monate durch England tourte und dabei Menschen porträtierte. Für eine allfällige Neuauflage: Der Mann heisst Daniel Meadows und lehrte bis vor kurzem in Cardiff, wo er auch meine Magisterarbeit über dokumentarische Fotografie („Giving the Moment Significance“ in „Ways of Perception: On Visual and Intercultural Communication“, White Lotus Press, Bangkok, 2006) betreute.

Rudolf Stumberger
Klassen-Bilder II
Sozialdokumentarische Fotografie 1945-2000
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2010