Sunday, 14 September 2025

Der geträumte Norden

Der 1968 geborene Adwin de Kluyver, Autor und Historiker, berichtet in diesem Werk von Reisenden und Forschern, von Entdeckern und Träumern. Unter ihnen war auch der Mediziner Olof Rudbeck, Rektor der Universität von Uppsala, der neben Medizin auch Schiffbau und Feuerwerkstechnik unterrichtete. Eine Kombination, die in der heutigen Zeit der Spezialisierung, exotischer kaum wirken könnte.

Am Anfang seines Entdeckerdrangs standen die Atlanten, ganz unterschiedliche, die Adwin de Kluyver vom Norden träumen liessen. Von längst vergessenen Weltbilder erzählt er (und man fragt sich unwillkürlich um kommende Generationen unsere Weltbilder genauso belächeln werden wir wir diejenigen unserer Vorfahren), und von Lady Jane Franklin, die seit Jahren nichts mehr von ihrem Mann, Sir John Franklin gehört hatte und sich weigerte, die Hoffnung aufzugeben, und von seiner eigenen Erfahrung im höchsten Norden, als er eine Beinlänge vor dem Abgrund auf dem Rücken zu liegen kam.

Der geträumte Norden ist ein gelehrtes Werk, im klassischen Sinne: Es stützt sich darauf, was andere (angeblich) uns mitgeteilt haben. Adwin de Kluyver berichtet aus dem Jahre 325 v.Chr. (im damaligen Marseille), als sei er dabei gewesen, ebenso aus Northumbria aus dem Jahre 635 n. Chr. Nicht, dass ich an seinen Ausführungen zweifeln will (er kennt sich aus, ich nicht), doch geht mir immer mal wieder Montaignes Diktum, wir seien bloss les interprètes des interprétations durch den Kopf.

Historiker verfügen über eine reiche Fantasie. Was die Menschen vor langer Zeit beschäftigt hat, können sie natürlich genau so wenig wissen wie wir anderen auch, doch die Gedanken, die sie sich dazu gemacht haben, orientieren sich an verbürgten Fakten, was sie liefern sind educated guesses, und die lohnen sich allemal.

Adwin de Kluyver ist ein begabter Erzähler und weiss auch viel Dramatisches zu berichten. Wie er etwa den Angriff eines Eisbären auf die etwa zwanzig Diamanten-hungrigen Matrosen am 6. September 1595 bei Stateneiland schildert, lässt einen gleichsam das Blut in den Adern gefrieren. Dass er dann allerdings zu wissen vorgibt, was ein Bär empfindet ( "Er spürte alle Kraft aus seinen Muskeln schwinden. Es wurde dunkel."), ist dann jedoch nichts anderes als Projektion. Natürlich weiss das der Autor, schliesslich heisst sein Buch Der geträumte Norden.

Auch den Leser verleitet die Erzählkunst Adwin de Kluyvers zum Träumen, denn dieser nicht zuletzt überaus lehrreiche Text löst ganz wunderbare Bilder in meinem Kopf aus. Und er macht mich auf gar viel aufmerksam, von dem ich keine Ahnung hatte. So wusste ich nicht, dass Grönland die grösste Insel der Welt ist, und dass sie bis vor einer halben Millon Jahren grün war, Genauso neu war mir, dass es im norwegischen bergen pro Jahr nur gerade zehn trockene Tage gibt!

Von Roald Amundsen werden einige schon gehört haben, Doch nicht nur von ihm und seinem Geltungsdrang, den er mit dem Tod bezahlte, erfahren wir, sondern auch vom Journalisten Frans Schiphorst, der auf der Suche nach einem publizistischen Knüller auf Sjef van Dongen stiess und entschlossen war, diesen zum nächsten niederländischen Polhelden zu machen. Dabei wird auch deutlich, dass wir ohne Medienpropaganda von gar vielem überhaupt nichts wüssten.

Der geträumte Norden lehrt uns viel Aufschlussreiches. Etwa, dass der Jesuit Athanasius Kircher (1602-1680) die These vertreten hatte, "dass die Pest durch ein kleines Tierchen (einen Mikroorganismus) im Blutkreislauf hervorgerufen werde." Oder wie die Amerikaner ticken, das Adwin de Kluyver am Beispiel des Journalisten Walter Wellman illustriert. "Dass er keinerlei Erfahrung mit Polreisen hatte, kümmerte ihn nicht. Wir Amerikaner lamentieren nicht, wir packen die Dinge an, war sein Motto. Alles war käuflich, auch das Wissen über Polreisen."

Bücher laden ein zu Kopfreisen. Und Der geträumte Norden ganz besonders.
Unterhaltsame Aufklärung vom Feinsten!

Adwin de Kluyver
Der geträumte Norden
mare, Hamburg 2025

Wednesday, 10 September 2025

Literaturtipps für jeden Tag

Rainer Moritz, geboren 1958, leitete 20 Jahre das Literaturhaus Hamburg, Was er mit Das Jahr in Büchern. Literaturtipps für jeden Tag vorlegt, ist genau das, was der Untertitel verspricht. Dass seine Auswahl eine subjektive ist, versteht sich von selbst; dass sie recht nüchtern geraten ist (viel Begeisterung habe ich jedenfalls nicht herausgespürt), muss kein Nachteil sein. Nicht nur als Orientierungshilfe eignet sich diese Auswahl bestens, sie macht auch neugierig, wenn auch nicht auf Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968 von Peter Handke, dem mit Abstand überflüssigsten Text in diesem Band.

"Die knappen – eine Seite pro Titel – Inhaltsangaben sollen Lust darauf machen, die eigenen Regale wieder einmal abzuschreiten oder Buchhandlungen, Antiquariate und Bibliotheken aufzusuchen." Ein Pädagoge also, der einem auch gleich noch sagt, was man alles tun soll! Ich selber habe mir meine eigenen Regale und mein Gedächtnis vorgenommen.

Richtiggehend entzückt hat mich, dass Autor Moritz auch Elf Freunde müsst ihr sein von Sammy Drechsel in seine 366 Literaturtipps aufgenommen hat, denn das war das allererste Buch, das ich richtiggehend verschlungen habe. Ich war damals fussballverrückt und von den Wilmersdorfern Schülern und ihren fussballerischen Vorbildern richtiggehend hingerissen.

Unter den in diesem Band empfohlenen gibt es etliche Werke, die ich in allerbester Erinnerung habe. Darunter Kleine Dinge wie diese von Claire Keegan, das ausgesprochen sensibel von der Frage handelt, ob man einschreiten oder sich abwenden soll, wenn man mit Unrecht konfrontiert ist. Demon Copperhead von Barbara Kingsolver, einer dieser seltenen Romane, die einen mehr über das (Über)leben lehren, als Schule und Medien zusammen. Ein wenig Leben von Hanya Yanagihara, das eindrücklich die menschliche Tragik in Worte fasst, dass wer andern helfen kann, häufig nicht in der Lage ist, sich selber zu helfen oder helfen zu lassen.

Von ganz vielen, der in diesem Band versammelten Werke kenne ich gerade einmal die Titel oder die Namen der Autorinnen bzw. der Autoren; von anderen hatte ich noch gar nie gehört, darunter auch von Vielleicht die letzte Liebe von Rainer Moritz selber, das auch davon handelt, dass "der tagtägliche Umgang mit dem Tod Bernard nicht zu einem depressiven, sondern zu einem gelassenen Menschen (macht), der mit der konfus gewordenen Welt besser zurechtkommt." Wunderbar! Wer darauf nicht neugierig wird, dem ist nicht zu helfen.

Ganz besonders zugesagt hat mir, dass der Autor sich nicht mit Genre-Grenzen aufgehalten hat, sondern quer durch den Garten Bücher empfiehlt. Von Krimis wie Nobels Testament von Liza Marklund zu Die Lady im See von Raymond Chandler zu Romanen von Richard Yates, Graham Swift sowie GB84, dem aussergewöhnlichen Zeitdokument von David Peace.

Auch Klassiker kommen übrigens nicht zu kurz. Das geht von Winternacht von Joseph von Eichendorff über Nicht nur zur Weihnachtszeit von Heinrich Böll zu Immensee von Theodor Storm. Zu erwähnen gehört aber auch eines meiner nachhaltigsten Leseerlebnisse überhaupt: Trauriger Tiger von Neige Sinno, von dem der Autor treffend schreibt, es sei "ein flammendes, nie um Mitleid heischendes Plädoyer für die Opfer und gegen die Verharmlosung der hemmungslosen Täter."

"Wer (Sarah Bakewells Café der Existenzialisten angenehm berauscht verlässt, fühlt sich klüger als beim Betreten    und gut unterhalten." Das trifft auch für Das Jahr in Büchern zu.

Rainer Moritz
Das Jahr in Büchern
Literaturtipps für jeden Tag
Reclam, Ditzingen 2025

Sunday, 7 September 2025

nietzsche global

 
Das Vorwort bringt es so recht eigentlich auf den Punkt: "Ein anderer Name für Widerspruch ist Nietzsche. Nietzsche widersprach – den Erklärungen, mit denen die Menschen sich die Welt zurechtlegten, und er widersprach sich selbst."

Es gibt ganz viele Sätze in diesem mit grossem Genuss zu lesenden, überaus kenntnisreichen Vorwort, die man sich anstreichen sollte, darunter der wohl wichtigste: "Der Umgang mit Nietzsche, die Zitate, die man vor sich herträgt, sagen entsprechend weniger über diesen selbst als über die jeweiligen Fahnenträger aus." We do not see things as they are, we see things as we are, heisst es im Talmud.

Wunderbar, wie Elmar Schenkel das Wesentliche (zugegeben das für mich Wesentliche herausschält): "Nietzsches Rückführung des Denkens auf das leibliche, seine Bejahung des Lebens gegen alle Schwierigkeiten, sein eigenes, tragisches Leben bewegt Menschen mehr als die Frage, wo genau er in der philosophischen Tradition steht."

nietzsche global ist eine Schatztruhe; sagenhaft, was der Autor da alles zusammengetragen hat. Umso erstaunlicher, dass dieses hier präsentierte umfangreiche Wissen seinen Ausgangspunkt in Elmar Schenkels Museumsdienst gefunden hat. Da ich Museen generell mit Verstaubtem assoziiere und mir begeisterte Museumsbesucher ein Rätsel sind, tun mir diese Ausführungen Welten auf, nicht zuletzt, weil sie deutlich machen, dass sich in Nietzsche ganz offenbar etwas manifestiert hatte, das in vielen von uns schlummert. "Nietzsche spricht in das Innere des Menschen hinein, zu menschlichen Grundbedürfnissen; in diesem Sinne ist er 'spirituell'".

Was dieses Werk auch an zahlreichen Beispielen aufzeigt: Geschmäcker und Einstellungen können sich wandeln. Dazu kommt: kaum eine Bewegung, die nicht versuchte, Nietzsche zu vereinnahmen, von den belgischen anarchistischen Blättern bis zu den Nazis. Nietzsche als Selbstbedienungsladen? Andererseits: Geht es nicht allen so, die sich öffentlich äussern? Wäre Nichtbeachtung womöglich schlimmer? "Nietzsche leidet unter dem Desinteresse der intellektuellen Öffentlichkeit an seinen, wie er meint, bahnbrechenden Werken."

Gestaunt habe ich über die bunte Mischung an Nietzsche-Lesern, die hier zur Sprache kommen. Von Camus' Freundin Maria Casarès, die von der Nietzsche-Lektüre gepackt wurde, zu Osho, der den dionysischen Tanz, das amor fati, die Bejahung des Lebens und der Leiblichkeit hervorstreicht. Mit diesem Satz gehe ich hingegen gar nicht einig: "Obwohl Osho von vielen als Scharlatan wahrgenommen wird, sind seine Aussagen zu Nietzsche doch lesenswert. weil sie den Blickwinkel einer anderen Kultur freilagen." Nein, nicht deswegen, sondern weil Osho das Wesentliche an Nietzsche erfasst hat.

Selten ist mir deutlicher vor Augen geführt worden, dass man so ziemlich alles in einen Text bzw. in einen Menschen hineinlesen kann, Verwunderlich ist das nicht, denn begründen lässt sich bekanntlich alles. Und vielleicht liegt ja darin eines der wesentlichen Probleme unserer Existenz: Dass wir viel zu sehr dem Intellekt vertrauen, obwohl wir doch wissen, dass er uns immer mal wieder in die Irre führt. Doch das wäre eine andere Geschichte und nicht Thema dieses verdienstvollen, weil überaus anregenden Werkes.

Die Verbindungen, die Elmar Schenkel herzustellen weiss, setzt nicht nur eine imponierende Belesenheit, sondern auch ein aussergewöhnliches Talent voraus, zum Teil recht Disparates unter einen Hut zu bringen, schliesslich versammelt er nicht nur Anhänger von Nietzsches Gedankenwelt, sondern auch deren Gegner.

Für mich entpuppte sich nietzsche global als bereichernde Entdeckungsreise, die mich einerseits einige Autoren in neuem Licht sehen liess ((G.K. Chesterton etwa), mich mit etlichen bekannt machte, die ich nicht kannte (ich verzichte auf Beispiele, es wären zu viele) und mir unter vielen anderen auch den mexikanischen Dichter Alfonso Reyes vorstellte, der seinem Freund Ureña aus der Dominikanischen Republik schrieb, "er habe sich zweieinhalb Tage lang der Lektüre von Die Geburt der Tragödie gewidmet, was ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht und seine Gedankenwelt durcheinandergewirbelt habe." So in etwa ist es mit einst mit Also sprach Zarathustra ergangen, das ich jetzt wieder hervorhole ...

Elmar Schenkel
nietzsche global
Im 80 Übermenschen um die Welt
Kröner Verlag, Stuttgart 2025

Wednesday, 3 September 2025

Tausend Worte um ein Bild zu verstehen

 Kaum war Saddam Hussein hingerichtet, waren auch schon Bilder seiner letzten Minuten zu sehen: zuerst die zensurierte Fassung, ohne Ton, im staatlichen irakischen Fernsehen, dann die unzensurierte, mit Ton, im Internet.

Als nach Ausstrahlung der Fernsehversion Stimmen laut wurden, die wissen wollten, es sei bei dieser Hinrichtung alles andere als anständig zugegangen — ganz so als ob der Tod durch den Strang anständig sein könnte — meldete sich der nationale irakische Sicherheitsberater und liess verlauten, Saddam Hussein sei vor, während und nach seiner Hinrichtung respektvoll behandelt worden — ganz so als ob jemanden zu hängen und Respekt so recht eigentlich zusammengehörten. Doch dann tauchten die Bilder, die einer der bei der Hinrichtung Anwesenden mit seinem Video-Handy aufgenommen hatte, im Internet auf und straften die Worte des nationalen irakischen Sicherheitsberaters Lügen, denn auf diesem Video war zu hören, wie Saddam Hussein beschimpft und verhöhnt wurde.

Die Reaktion der politisch Verantwortlichen war vorauszusehen: sie suchten nach demjenigen, der das Video gemacht hatte; die Reaktion der Massenmedien, vertreten durch CNN, war ebenso vorauszusehen: sie interviewten den nationalen irakischen Sicherheitsberater, der, wie ebenfalls vorauszusehen, auf keine der Fragen antwortete, sondern von Versöhnung etcetera schwafelte.

Sah man sich das Handy-Video im Internet an, war schnell einmal klar, dass es bei dieser Hinrichtung darum gegangen, worum es bei einer Hinrichtung immer geht: um Rache. Anders gesagt: hier konnte man sehen und hören, was Politiker und Massenmedien uns fast immer — es sei denn, es liesse sich propagandistisch ausschlachten — vorenthalten.

Die Massenmedien, so wird gemeinhin behauptet, hätten eine "gatekeeper"-Funktion, bestimmten also, was wir zu sehen und zu hören kriegen: unsere gefilterte Mediensicht der Dinge verdanken wir demnach — hoffentlich — verantwortungsbewussten und der Aufklärung verpflichteten Menschen, die in — häufig klimatisierten — Redaktionsstuben auf der ganzen Welt das sogenannte "agenda-setting" betreiben. Mit andern Worten: uns sagen, womit wir uns gefälligst zu befassen hätten. Und die Medienverantwortlichen sind sich einig, was unsere Aufmerksamkeit verdient: auf allen Kanälen werden, weltweit, dieselben Prioritäten gesetzt.

Vor dem Internet und den Handy-Videos galt für die Massenmedien, was der Schweizer Kabarettist César Kaiser einmal am Beispiel der Polizei illustrierte. Die Polizei sei ein enorm "Gruppen förderndes" Organ: entweder es bildeten sich Gruppen, weil sie auftauche oder sie tauche auf, weil sich Gruppen bildeten. Ähnliches liesse sich für die Medien sagen: sie tauchen auf, weil etwas vorgefallen ist oder es wird etwas inszeniert, weil die Medien auftauchen. Das gilt nach wie vor, doch es gilt heutzutage etwas weniger, weil, Dank der Technik, jeder und jede, hier und jetzt, zum Medienproduzenten werden kann. Mit anderen Worten: die "gatekeeper"-Funktion, und damit die Macht der traditionellen Nachrichten-Produzenten, scheint zunehmend in Auflösung begriffen.

Seit es das Internet gibt, können wir sehen, was wir sehen wollen. Also hauptsächlich Pornografie, nach wie vor der Motor des Internets, oder eben die Bilder von Saddams Hinrichtung, die wieder einmal eindrücklich gezeigt haben, wie leicht Bilder ohne Ton zu Propagandazwecken benutzt werden können.

Ein Foto, um verstanden zu werden, muss im Kontext gesehen werden. Wenn ich nicht weiss, wer Saddam Hussein ist, werden mir die paar verwackelten Videobilder nicht viel sagen. Wer ist der Mann also, was ist der Kontext? Nun ja, der Kontext ist immer konstruiert und abhängig davon, was die Menschen glauben: für seine Anhänger ist Saddam ein anderer als für seine Gegner. Jeder baut sich also seinen eigenen Kontext, ganz nach Belieben? Klar doch, obwohl: es gibt Fakten. Und diese sehen, im Falle von Saddams Hinrichtung, so aus, dass er verhöhnt und beschimpft wurde, als ihm der Strick um den Hals gelegt und er zu Tode gebracht wurde.

Pressefotos ohne Bildlegenden können nur schwer verstanden werden und so recht eigentlich ist der Begleittext zum Bild meist wesentlicher als das Bild selbst. Ein Beispiel: ein älterer Mann und eine ältere Frau sitzen sich an einem Tisch in einer Cafeteria gegenüber. Er liest die Zeitung, sie tunkt ein Hörnchen in ihre Kaffeetasse. Die Bildlegende sagt: eheliches Zusammensein nach zwanzig Jahren Verheiratetsein. Manche Verheiratete mögen jetzt denken: Ja, so isses; andere werden sagen: also nein, bei uns ist das überhaupt nicht so; und noch einmal andere werden womöglich einfach grinsen und hoffen, bei ihnen werde es mal nicht so weit kommen. Doch aufgepasst: das Foto zeigt nichts dergleichen, denn ein Foto kann das, was diese Bildlegende suggeriert, gar nicht zeigen. Was unsere Augen wahrnehmen und was der Text zum Bild sagt, dass wir sehen sollen, hat in diesem Fall — und in vielen anderen Fällen — überhaupt nichts miteinander zu tun. Es kann nämlich gut sein, dass der Mann und die Frau gar nicht verheiratet sind, und es kann ebenso gut sein, dass sie gerade bevor (oder nachdem) der Fotograf auf den Auslöser gedrückt hat, miteinander geredet haben. Mit anderen Worten: ein Bild sagt keineswegs mehr als tausend Worte, vielmehr brauchen wir tausend Worte, um überhaupt zu verstehen, was wir eigentlich anschauen — erst dann, wenn wir wissen, was wir vor Augen haben, kann uns ein Bild mehr als tausend Worte sagen.

Was für Fotos gilt, gilt ebenso für Videos — wir können nur sehen, was wir wissen. Weshalb wir denn auch immer auf die Geschichte zu den Bildern angewiesen sind. Und da es fast nie nur eine Geschichte, sondern meist mehrere — und möglicherweise voneinander abweichende — Geschichten zu einem Bild gibt, ist ein wirkliches Bilder-Verstehen nur möglich, wenn wir angemessen — also über verschiedene Kontexte — informiert sind.

Angesichts der Tatsache, dass das digitale Zeitalter, auch die Bildermanipulation, die es schon immer gab, leichter gemacht hat, erstaunt es nicht wenig, wie sehr wir Bildern vertrauen — wir halten Bilder grundsätzlich für wahr, so lange jedenfalls, bis jemand das Gegenteil beweist.

Doch wie kommt es eigentlich, dass wir Bildern mehr zu trauen scheinen als Worten? Möglicherweise, weil wir Lügen eher mit Worten und nicht so sehr mit Sehen verbinden. "Seeing is Believing" heisst es bekanntlich — auch wenn das Gegenteil oft genauso wahr ist, wir also vielfach sehen, was wir sehen wollen — und meint nicht zuletzt: man kann mir viel erzählen, doch glauben werde ich nur, was ich mit eigenen Augen gesehen habe. Dazu kommt, dass fotografische Evidenz bedeutet, dass das, was sich im Augenblick der Aufnahme dem Kameraauge präsentiert hat, auch so existiert hat. Man kann das Foto von einem Bleistift ganz verschieden interpretieren, je nachdem, welche Bedeutung man dem Bleistift beimisst, ob er in einer Kultur mehr oder weniger verbreitet ist, etcetera, etcetera, doch ein solches Foto wird generell als Beweis akzeptiert, dass dieser Bleistift so zur Zeit der Aufnahme existiert hat.

Je mehr die Bilder die Medienwelt dominieren, desto notwendiger wird es, sich mit der Sprache der Bilder beziehungsweise dem Bilder-Lesen auseinanderzusetzen. Das meint: Bilder gehören befragt. So zum Beispiel: Warum hat die kleine Kim Phuc auf dem berühmten Foto von Nick Ut aus dem Vietnamkrieg keine Kleider an? Der Bub neben ihr ist doch angezogen. Und warum rennen die Kinder und die Soldaten hinter ihnen nicht? Was ist überhaupt passiert? Und wo?

Solche Fragen stellen Kontext her und machen ein Bild erst verständlich, denn es sind die Informationen zum Bild (und nicht das Bild), die unsere Wahrnehmung bestimmen. Im Falle des Fotos von Nick Ut: Ein Flugzeug hatte gerade Napalm abgeworfen und der kleinen Kim Phuc die Kleider versengt. Mit dieser Information beginnen wir zu erahnen, was damals vorgefallen ist. Zudem: wenn wir jetzt noch erfahren, dass es sich um einen Akt von "friendly fire" handelte, "sehen" wir bereits wieder ein anderes Bild. Und mit jeder weiteren Frage wieder ein neues Bild beziehungsweise neue Bilder.

Und so gilt denn: Damit ein Bild uns mehr als die berühmten tausend Worte sagen kann, brauchen wir zuerst (fast) tausend Worte, die uns erklären, was wir vor Augen haben.

2007 © Hans Durrer / 2007 © Soundscapes