Er wusste, was er wollte, manipulierte auch, machte Dinge, die heute nicht mehr möglich wären, doch es ging ihm um die Sache, nicht um sich, und das ist selten, total selten. Mit diesen Worten (ich zitiere aus dem Gedächtnis) des Herausgebers Markus Schürpf im Kopf betrachte ich die Bilder in diesem Buch. Mit Wohlwollen also, denn mir gefällt, wenn es jemandem um die Sache und nicht, wie es heutzutage 'normal' scheint, dauernd und so recht eigentlich ausschliesslich um sich selbst geht.
Siegfried Kuhn hat 2005 mit der Arbeit an diesem Band begonnen und landete nach zahlreichen Absagen 2017 im Fotobüro Bern, wie ich von Markus Schürpf erfuhr. Um die 5000 Aufnahmen wurden digitalisiert, Texte zusammengestellt; 911 Fotos gelangten dann schlussendlich ins Buch. Eine Herkulesarbeit, die viel Kreativität erfordert und weder im Alleingang bewältigt werden kann noch soll. Die zahlreichen Mitarbeiter an diesem eindrücklichen Band finden sich im Impressum aufgeführt.
Dieses über 400 Seiten dicke Werk ist nicht so sehr ein Buch über die Arbeiten des 1931 geborenen Siegfried Kuhn und seiner Frau Maja (wobei es das selbstverständlich auch ist), sondern vor allem ein Schweizer Geschichtsbuch durch die Augen der Verantwortlichen des Verlagshauses Ringier, das bekannt dafür ist, sogenannt volksnahe Politiker prominent zu machen. Es ist dies ein Blickwinkel, der sich davon leiten lässt, was gekauft werden könnte. Mit anderen Worten: Die Schweiz, wie sie gesehen werden soll.
Doch Siegfried Kuhn war nicht nur ein Ringier-Angestellter, sondern auch ein eigenwilliger und kreativer Mann, der schon als Bub (seine Eltern führten in Lyss ein Fotogeschäft) von der Fotografie begeistert war und davon "träumte als Reporter zu arbeiten und die Welt zu erobern." Nicht wenige seiner frühen Arbeiten machten mich schmunzeln. Zum Beispiel darüber, dass es ihm gelang, "aus dem Moment heraus eine spezielle Situation zu arrangieren" (einen Händedruck zwischen Sophia Loren und der Radgrösse Fausto Coppi) oder über diese schöne Ironie (von der ich allerdings nicht weiss, ob sie intendiert war): "Einmal war ich dabei, als der Zürcher Regierungsrat Hans Meierhans die neue Blindlandepiste einweihte."
Medien bilden die Welt nicht ab, sondern kreieren eine Medienwelt, die wesentlich der Stabilisierung der Gesellschaft dient, weshalb denn auch ganz viel über Sport und das Militär, diese Organisationen des sozialen Zusammenhalts, berichtet wird. Dass die höheren Armeemitglieder ins Bild gesetzt wurden wie das 1981 im "Gelben Heft" geschah, wirkt heute wie Folklore. Am Rande: Bilder zu lesen, bedeutet immer auch, sich zu fragen, was einem nicht gezeigt wird.
Das meint beileibe nicht, dass in diesem Band eine reine Schönwetterschweiz zu finden ist, denn da werden nicht nur Prominente abgelichtet, sondern auch viele andere, die auf die eine oder andere Art speziell sind. Etwa der 1911 geborene Jakob Ingold, der in einem selbst erbauten Wohnhaus ohne Strom und Wasser am Ufer des Burgäschisees lebt. Oder der Bauer Brülisauer, dem Siegfried Kuhn mehr als eine Stunde hinterher lief, "bis sich der richtige Moment ergab und sich das Bild so präsentierte, wie ich es im Kopf hatte." Treffender kann man (Foto)Journalismus kaum beschreiben.
Wie das bei Pressefotos so ist: Viele sind Schnappschüsse, bei denen weniger die Kunst des Einrahmens im Vordergrund steht, sondern dass man zur rechten Zeit am rechten Ort ist. Als Brigitte Bardot und Gunter Sachs in Gstaad auf der Strasse unterwegs waren, zum Beispiel. Die bösen Blicke des Letzteren trieben dann den Fotografen in die Flucht, wie er berichtete. Fotografisch besonders interessant finde ich die inszenierten Aufnahmen. Etwa vom Schweizer Skispringer Hans Schmid oder vom Hornussen. Bei beiden ist eine Serie und nicht nur ein Einzelbild zu sehen, was dazu beiträgt, dass man das Gefühl hat, vor Ort mit dabei zu sein.
Fotografien wirken, weil sie Gefühle transportieren. Er lügt wie ein Augenzeuge, sagt ein russisches Sprichwort, und das meint unter anderem: Wir sehen in Bildern, was wir sehen wollen. Unser Sehen ist individuell sehr verschieden und hängt wesentlich davon ab, mit welchem Vorwissen bzw. mit welcher Einstellung wir ein Bild betrachten. Als einer, der viele Jahre im Ausland verbracht und noch nie viel Interesse am öffentlich zelebrierten Geschehen in der Schweiz hatte, wirken viele der Aufnahmen in diesem Band exotisch und unwirklich auf mich – was mir zusagt.
Nicht bewusst war mir auch, dass das Sich-zur-Schau-Stellen der Politiker (der eine zeigt sich auf den Knien beim Gärtnern, der andere macht einen Kopfstand, noch ein anderer hält – allerdings wenig begeistert, Siegfried Kuhn hatte ihn überrumpelt – ein Schweizerfähnchen in der Hand) schon damals gang und gäbe war, und einige von der öffentlichen Zuneigung offenbar gar nicht genug kriegen konnten. Für mich ist das allerdings eher Werbung mit der unsäglichen Tendenz zum Personenkult (eine Journalistenkrankheit) als Fotojournalismus (die Grenze war schon damals fliessend, heute ist sie fast gar nicht mehr auszumachen).
Im Gegensatz zu den Fotografen, die ihre Arbeit als Kunst verstehen, die selbsterklärend sein soll, ist für die Pressefotografie kennzeichnend, dass sie ein Zusammenspiel von Bild und Text ist. Die Geschichten, die Siegfried Kuhn zu den Bildern erzählt, tragen nicht nur dazu bei, dass man weiss, was man vor sich hat, sie liefern auch immer wieder nützliche und interessante Hintergrundinformationen. So etwa zu einer Aufnahme von einer Geiselnahme in der polnischen Botschaft in Bern, wo fälschlicherweise Reto Hügin als Fotograf angegeben war. "Dabei verbrachte er besagten Moment schlafend in einem Berner Hotel."
Es kann gar nicht genug betont werden, weshalb ich mich denn auch wiederhole: Siegfried Kuhn ging es um die Sache und nicht um sich selber. Damit ist er eine Ausnahme unter den Fotografen. Überdies macht er auch immer wieder klar, dass seine Arbeit zusammen mit seiner Frau Maja entstanden ist. ("Immer erschienen ihre Bilder unter meinem Namen, ohne dass jemand auch nur das Geringste bemerkt oder bemängelt hätte."). Die beiden waren ein Team, dieses Buch ist auch ein Dokument ihres gemeinsamen Schaffens.
Fazit: Eine überaus faszinierende Zeitreise, reich an spannenden Details; ein beeindruckendes Porträt, das der Vielfalt der Schweiz ein gelungenes Denkmal setzt.
Siegfried Kuhn
Pressefotograf 1959-1995
Scheidegger & Spiess, Zürich 2022