"Ich schreibe diese Zeilen, um irgendwie zu überleben. Ich nehme an, es gibt keinen anderen Grund, um zu schreiben. Ich sage, ich schreibe das auf, doch ich weiss nichts darüber: Was weiss man schon?" Diese Sätze deuten es an – Port Sudan ist ein zutiefst philosophisches Buch.
Der Erzähler von Port Sudan hat viele Jahre Frachtschiffe die afrikanische Küste entlang geführt, bevor er in Port Sudan strandet, der grössten Hafenstadt am Roten Meer, wo er sich mehr schlecht als recht als Hafenmeister durchschlägt, als ihn die Nachricht vom Freitod seines Freundes A., einem Schriftsteller, in Paris erreicht.
Kennengelernt hatten sich die beiden vor rund fünfundzwanzig Jahren. "Damals teilten wir grosse, vage Hoffnungen. In ihnen mischte sich die Vorstellung von einer Veränderung der Welt mit einer Erwartung eines abenteuerlichen Lebens. Ich werde diese Zeiten niemals gering schätzen noch mich denen anschliessen, die darüber lachen." Sie verweigern sich dem Mainstream, wollen ihren Traum nicht verraten. "Wir hatten recht. Es waren schlechte Entscheidungen, Berufe ohne Zukunft. Wir sollten nicht wieder auf die Beine kommen."
Der Mainstream wird repräsentiert durch den Terror der öffentlichen Meinung. Öffentliche Meinung! "Schon der Klang des Wortes weckte unangenehme Erinnerungen von lauwarmem Wasser, gut situierten Eigenheimbesitzern ... von etwas Fadem und Spiessigem." Und genauso wird dieser Mainstream durch die eitle, selbstherrliche, an der Geschäftemacherei sich ausrichtende Kulturszene repräsentiert, deren Vertreter A. als Störenfried begreifen.
Als A. von seiner jungen Freundin verlassen wird, geht es mit ihm bergab. Er zieht sich zurück, beginnt sich dem Leben zu verweigern, kauft nichts mehr, ausser Alkohol. Er sucht Hilfe in einer Klinik. "War Alkoholmissbrauch die Hauptursache für diesen zerrütteten Zustand meines Freundes, oder hatte ihn vielleicht ein früheres Unglück niedergestreckt? Genau darüber diskutierten die psychiatrischen Quacksalber etwas zerstreut bei ihren morgendlichen Besprechungen, zu denen Hurriya freilich nicht zugelassen war, von denen sie aber durch die leitende Krankenpflegerin Wind bekommen hatte. Hurriya hingegen, die Freiheit, dachte viel vernünftiger, wie mir schien, nämlich dass jeder Mensch von Geburt an die möglichen Ursachen seines Verderbens und seiner Glückseligkeit gut gemischt wie in einem Kartenspiel in sich trug."
Port Sudan handelt wesentlich von Verrat, den Olivier Rolin (oder der Erzähler, so man es denn vorzieht) als grausamer begreift als den Tod. Die Ausführungen darüber gehören nicht nur zu den stärksten, sondern auch zu den ungewöhnlichsten dieses schmalen Bandes. Mir jedenfalls war bisher nicht bewusst, wie stark Verrat und Trennungsschmerz, und insbesondere das Verlassenwerden, unser Leben dominieren kann. "Ich weiss, was der Tod bedeutet, man ahnt, dass ich ihm bis zu diesem Punkt meines Lebens mehr als einmal begegnet bin, und ich behaupte, dass er einen innerlich bei Weitem nicht so zerbricht, wie verlassen zu werden."
Sich mit dem Lebensschmerz auseinanderzusetzen, sich ihm zu stellen bzw. sich ihm hinzugeben, kann befreiend sein. Als sich der Erzähler bei Hurriya in der Klinik danach erkundigt, wie A. seinen Tage verbracht hat, erzählt sie ihm auch davon, wie er die Waschzeit, "jene Stunde, die dem Wasser gewidmet ist" (was für eine schöne Formulierung!) erlebt hat: "Dann erfüllte ihn jene Urfreude, die auf den Himmelskörpern beruht, von nichts Menschlichem abhängt, die man schlicht geniessen kann, ohne an irgendetwas zu denken, ohne irgendetwas anderes wahrzunehmen als diesen gewaltigen und sanften Wechsel." Dass er im Anschluss daran die Spatzen, diese flinken und leichten Wesen, mit Butterstückchen füttert, unterstreicht höchst gelungen, des Menschen Aufgehoben-Sein in einem grösseren Ganzen.
Fazit: Sensibel, engagiert, gescheit – bewusstseinserweiternd.
Olivier Rodin
Port Sudan
liebeskind, München 2021