Wednesday, 27 April 2022

Ein Blick zurück

Mit Irène Hubschmid-Schiesser und Lucette Achermann
in Bad Ragaz, September 2010

Bei Uli, in der Nähe von Santa Cruz do Sul,
November 2009, aufgenommen von Ricardo Schütz

Santa Cruz do Sul, December 2008,
aufgenommen von Edson Daemme

Im Joshua Tree National Park, 2007, 
aufgenommen von Emelle Sonh

In San Francisco, 2007, aufgenommen von Emelle Sonh

In Bangsaen, Thailand, 1988, aufgenommen von Oi

Fotos lösen Bilder im Kopf aus. So wie auf diesen Fotos sehe ich mich selber nie, auch deswegen faszinieren sie mich. Sie zeigen mir, wie andere mich sehen. Und wie ich mich in Pose werfe. Fotografien sind auch das Resultat einer Interaktion, einer Verbindung, die nur gerade für einen Moment so besteht.

Betrachte ich diese Aufnahmen, sehe ich ganz viele, ganz unterschiedliche Filme, die nur teilweise mit dem Zeitpunkt zu tun haben, als diese Fotos gemacht worden sind, grösstenteils jedoch darüber hinausgehen. All that is past is merely a dream, habe ich letzthin gelesen. Und all das, was gerade jetzt passiert, genauso. Jedenfalls kommt es mir manchmal so vor. Strangely unreal.

Wednesday, 20 April 2022

Andere Länder, andere Sprüche

Es gibt Redewendungen, bei denen ich nicht in Versuchung gerate, sie in meine Muttersprache, das Schweizerdeutsche, zu übersetzen, ganz einfach, weil sie im Original für meine Ohren besser klingen. C'est le ton qui fait la musique (Der Ton macht die Musik), zum Beispiel. Dann gibt es welche, die jemand mal gebraucht hat, ich nicht verstanden habe, mir dann habe erklären lassen, und die mir deshalb geblieben sind. Etwa das portugiesische engolir sapos für "eine bittere Pille schlucken".

"Redewendungen in fünf Sprachen" lautet der Untertitel dieses von Daniele Simonelli mit Illustrationen versehenen Werkes, das Redensarten aus diversen Regionen versammelt, die so recht eigentlich gute Ratschläge sind, und von Michela Tartaglia und Marianna Rossi zusammengetragen wurden. Die fünf Sprachen sind: Deutsch. Italienisch, Englisch, Französisch, Spanisch.

Sprichwörter sind Frucht der jeweiligen Lebenswelt, sie lassen sich zumeist nicht wörtlich übersetzen. Doch es gibt einige, die sich sprachlich näher stehen als andere. So heisst "Der Appetit kommt mit dem Essen" im Italienischen L'appetito vien mangiando, im Französischen L'appetit vient en mangeant, im Englischen Appetite comes with eating und im Spanischen Comiendo entra la gana. Die Bedeutung? Hat man einmal etwas angefangen, dann bekommt man auch Lust darauf.

Andere Länder, andere Sprüche lädt zum Sich-Wundern ein. Weshalb "Es giesst wie aus Eimern" eigentlich im Englischen I'ts raining cats and dogs (Es regnet Katzen und Hunde) heisst? Und wie kommt es, dass im Spanischen Llover sapos y culebras (Es regnet Kröten und Schlangen) und im Französischen Il pleut des cordes (Es regnet Seile) benutzt wird?

Dankenswerterweise wartet Michela Tartaglia nicht mit psychologischen, linguistischen oder ethnologischen Erklärungsversuchen auf, denn diese könnten eh nichts anderes als Vermutungen sein, doch ihren Hinweis auf den "Anflug von magischem Realismus", der sich durchs Spanische zieht, fand ich nicht nur nützlich und interessant, sondern ausgesprochen anregend. Nicht zuletzt ihre Erläuterung, dass sapos y culebras nicht nur hinabregnen, sondern in Verbindung mit anderen Verben die Bedeutung wechseln. So heisst etwa echar sapos y culebras "Gift und Galle spucken" und tragar sapos y culebras "in den sauren Apfel beissen".

Andere Länder, andere Sprüche zeigt unterhaltsam, dass mit einer Sprache vertraut zu werden, sich nicht im Vokabeln-Lernen erschöpft, und dass auch kulturelle Faktoren häufig nicht erklären können, weshalb man etwas so und nicht anders sagt, ja, dass Sprache letztlich ein Rätsel ist, ein überaus faszinierendes.

Fazit: Ein Buch zum Schmunzeln und Sich-Wundern.

Michela Tartaglia
Andere Länder, andere Sprüche
Redewendungen in fünf Sprachen
DuMont, Köln 2022

Sunday, 17 April 2022

Port Sudan

"Ich schreibe diese Zeilen, um irgendwie zu überleben. Ich nehme an, es gibt keinen anderen Grund, um zu schreiben. Ich sage, ich schreibe das auf, doch ich weiss nichts darüber: Was weiss man schon?" Diese Sätze deuten es an – Port Sudan ist ein zutiefst philosophisches Buch. 

Der Erzähler von Port Sudan hat viele Jahre Frachtschiffe die afrikanische Küste entlang geführt, bevor er in Port Sudan strandet, der grössten Hafenstadt am Roten Meer, wo er sich mehr schlecht als recht als Hafenmeister durchschlägt, als ihn die Nachricht vom Freitod seines Freundes A., einem Schriftsteller, in Paris erreicht.

Kennengelernt hatten sich die beiden vor rund fünfundzwanzig Jahren. "Damals teilten wir grosse, vage Hoffnungen. In ihnen mischte sich die Vorstellung von einer Veränderung der Welt mit einer Erwartung eines abenteuerlichen Lebens. Ich werde diese Zeiten niemals gering schätzen noch mich denen anschliessen, die darüber lachen." Sie verweigern sich dem Mainstream, wollen ihren Traum nicht verraten. "Wir hatten recht. Es waren schlechte Entscheidungen, Berufe ohne Zukunft. Wir sollten nicht wieder auf die Beine kommen."

Der Mainstream wird repräsentiert durch den Terror der öffentlichen Meinung. Öffentliche Meinung! "Schon der Klang des Wortes weckte unangenehme Erinnerungen von lauwarmem Wasser, gut situierten Eigenheimbesitzern ... von etwas Fadem und Spiessigem." Und genauso wird dieser Mainstream durch die eitle, selbstherrliche, an der Geschäftemacherei sich ausrichtende Kulturszene repräsentiert, deren Vertreter A. als Störenfried begreifen.

Als A. von seiner jungen Freundin verlassen wird, geht es mit ihm bergab. Er zieht sich zurück, beginnt sich dem Leben zu verweigern, kauft nichts mehr, ausser Alkohol. Er sucht Hilfe in einer Klinik. "War Alkoholmissbrauch die Hauptursache für diesen zerrütteten Zustand meines Freundes, oder hatte ihn vielleicht ein früheres Unglück niedergestreckt? Genau darüber diskutierten die psychiatrischen Quacksalber etwas zerstreut bei ihren morgendlichen Besprechungen, zu denen Hurriya freilich nicht zugelassen war, von denen sie aber durch die leitende Krankenpflegerin Wind bekommen hatte. Hurriya hingegen, die Freiheit, dachte viel vernünftiger, wie mir schien, nämlich dass jeder Mensch von Geburt an die möglichen Ursachen seines Verderbens und seiner Glückseligkeit gut gemischt wie in einem Kartenspiel in sich trug."

Port Sudan handelt wesentlich von Verrat, den Olivier Rolin (oder der Erzähler, so man es denn vorzieht) als grausamer begreift als den Tod. Die Ausführungen darüber gehören nicht nur zu den stärksten, sondern auch zu den ungewöhnlichsten dieses schmalen Bandes. Mir jedenfalls war bisher nicht bewusst, wie stark Verrat und Trennungsschmerz, und insbesondere das Verlassenwerden, unser Leben dominieren kann. "Ich weiss, was der Tod bedeutet, man ahnt, dass ich ihm bis zu diesem Punkt meines Lebens mehr als einmal begegnet bin, und ich behaupte, dass er einen innerlich bei Weitem nicht so zerbricht, wie verlassen zu werden."

Sich mit dem Lebensschmerz auseinanderzusetzen, sich ihm zu stellen bzw. sich ihm hinzugeben, kann befreiend sein. Als sich der Erzähler bei Hurriya in der Klinik danach erkundigt, wie A. seinen Tage verbracht hat, erzählt sie ihm auch davon, wie er die Waschzeit, "jene Stunde, die dem Wasser gewidmet ist" (was für eine schöne Formulierung!) erlebt hat: "Dann erfüllte ihn jene Urfreude, die auf den Himmelskörpern beruht, von nichts Menschlichem abhängt, die man schlicht geniessen kann, ohne an irgendetwas zu denken, ohne irgendetwas anderes wahrzunehmen als diesen gewaltigen und sanften Wechsel." Dass er im Anschluss daran die Spatzen, diese flinken und leichten Wesen, mit Butterstückchen füttert, unterstreicht höchst gelungen, des Menschen Aufgehoben-Sein in einem grösseren Ganzen.

Fazit: Sensibel, engagiert, gescheit –  bewusstseinserweiternd.

Olivier Rodin
Port Sudan
liebeskind, München 2021

Wednesday, 13 April 2022

Let's Get Lost

"Der perfekte Augenblick an den schönsten Orten der Welt" verspricht der Untertitel zu diesem Werk, das interessanter ist als es dieser der Werbung und dem Verkauf, den wesentlichen Kennzeichen unserer Zeit, geschuldete Superlativ vermuten lässt. So recht bedacht ist es ja eigentlich klar: Jeder Augenblick ist perfekt und den schönsten Ort, den gibt es nicht – doch das wäre eine andere Geschichte.

Um es gleich vorwegzunehmen: Let's Get Lost ist ein wirklich tolles Buch. Nicht nur der beeindruckenden Fotos wegen, sondern weil es den Prozess des Fotografierens dokumentiert. Konkret: Man erfährt, wie die Fotografinnen und Fotografen zu ihren Bildern gekommen sind. So erzählt etwa Jonathan Gregson, wie er sich um 4:30 mit seinem Guide auf den Weg machte, mit 20 kg Gepäck auf dem Rücken, um die Drei Zinnen, eines der Wahrzeichen der Dolomiten, bei Sonnenaufgang zu fotografieren. "Aus Fotografensicht ist das Zeitfenster bei Sonnenaufgang viel kleiner als bei Sonnenuntergang. Für eine Aufnahme bei Sonnenuntergang kann man früh ankommen, die beste Perspektive wählen und dann warten. Wenn die Sonne untergeht wird das Licht kontinuierlich besser (...) Sonnenaufgänge hingegen erlauben keine Fehler. Normalerweise ist die Wahl der Perspektive, des Objektivs und des Bildaufbaus ein Wettlauf mit der Zeit, bevor die Sonne ihre volle Kraft entfaltet."

Solche Informationen sind selten in einem Fotobuch und mir ein Grund, weshalb ich dieses Werk schätze. Denn Fotos, diese zweidimensionalen Reduktionen einer dreidimensionalen Wirklichkeit, die weder klingen noch riechen, können vieles nicht zeigen. Dazu gehört der heftige Wind, auf den Alex Strohl und sein Wanderpartner auf der Livingstone Range in Montana trafen. "Der Wind trug zu unserem Abenteuer bei und erinnerte uns daran, dass uns Orte wie dieser nur zur Durchreise dienen." Mit diesem Wissen im Kopf, betrachte ich diese Bilder wiederum anders.

Das Buch ist unterteilt in Gebirge, Karge Natur, Küste, Eis & Schnee, Flüsse & Seen und Wälder. Die Fotos zeigen mir einerseits Gegenden, die ich aus eigener Anschauung kenne (Namibia, zum Beispiel), aus einer neuen Perspektive. "Es ist ein seltsames Gefühl, durch das Land zu streifen, ohne auch nur einer Seele zu begegnen  ein Gefühl, das zur einzigartigen Atmosphäre Namibias beiträgt. In den Weiten der Wüste, unter der brennenden Sonne, erfüllt der zitrusartige Duft von Myrrhe die Luft. Voller Ehrfurcht wanderte ich zwischen Baumgerippen durch die sonnenversengte Ebene." (Emilie Ristevski). Andererseits erfahre ich von Gebieten, die mir gänzlich neu sind und nicht nur meine Neugier wecken, sondern auch den Wunsch, mich unverzüglich dorthin aufzumachen. Die Bilder, die Finn Beales von Fogo Island, vor der Nordostküste Neufundlands gelegen, gemacht hat, hatten diesen Effekt auf mich.

Manchmal regten mich besonders die Fotografien an (die Flüsse in Schwedisch-Lappland  Tobias Hägg; die Gipsdünen im Tularose-Becken in New Mexico  Laura Pitchett), dann wieder die jedem Beitrag beigegebene Rubrik "Durch den Sucher". So schreibt etwa Greg Lecoeur (Antarktis): "Denken Sie immer daran: In der Natur sind Sie der Gast, die Tiere sind in ihrem Zuhause. Wildtiermomente sind allgegenwärtig; man muss sich nur die Zeit nehmen, zu beobachten und die Schönheit des Ortes zu verstehen."

Let's Get Lost erinnerte mich auch immer wieder daran, dass Fotos Momentaufnahmen sind, abhängig von einer Vielzahl nicht wirklich berechenbarer Faktoren. "Nebel ist oft recht flüchtig", notiert Mats Peter Iversen, der im Waldgebiet von Hestehave Skow, Dänemark, fotografiert hat und dabei auch die Erfahrung machte: "Sich ein wenig zu verirren, ist oft der beste Weg, neue Orte zu entdecken."

Fazit: Grossartig! Eine inspirierende Einladung, die Welt zu erkunden.

Let's Get Lost
Der perfekte Augenblick
an den schönsten Orten der Welt
Herausgegeben von Finn Beales
Prestel, München-London-New York 2022

Sunday, 10 April 2022

Nicolas Chamfort

Ich wusste nicht, wer Nicolas Chamfort ist, als ich zu diesem Buch griff. Angesprochen hatte mich der Titel Alle Gedanken, Maximen, Reflexionen, denn ich schätze eigenständige Denker. Aus Albert Camus' eher mühsam zu lesenden Vorwort erfahre ich, dass die Handlung am Ende des 18. Jahrhunderts spielt, "in den Kreisen einer Gesellschaft, der es an Kraft, wenn auch nicht an Grazie fehlt und deren einzige Beschäftigung darin zu bestehen scheint, auf Vulkanen zu tanzen." Was man so recht eigentlich, wie ich finde, fast von jeder Gesellschaft sagen kann. Wie Camus hingegen Chamfort charakterisiert ("Chamfort setzt seine Welterfahrung nicht in Formeln um.") hat meine Sympathie und dass er ihn an Stendhal erinnert, verdoppelt sie geradezu.

Was ist ein Philosoph?, fragt Chamfort und antwortet wie folgt: "Ein Mensch, der dem Gesetz die Natur, dem Brauch die Vernunft, der öffentlichen Meinung sein Gewissen und dem Irrtum sein Urteil gegenüberstellt." Er spricht sich also nicht einfach für die  Vernunft aus, denn er weiss um ihre Tragik. "Unsere Vernunft macht uns manchmal ebenso unglücklich wie unsere Leidenschaften, und von dem Menschen, der sich in einer solchen Lage befindet, kann man sagen, dass er ein Kranker ist, den sein Arzt vergiftet hat."

Alle Gedanken, Maximen, Reflexionen ist ein sowohl geistreiches als auch witziges Werk, das unsere Illusionen über uns selber an ihren Platz verweist. "Die Menschen sind so verdorben, dass die blosse Hoffnung oder sogar der blosse Wunsch, sie zu bessern, sie vernünftig und ehrbar zu sehen, eine Absurdität ist, eine überspannte Idee, die man nur der Einfalt der ersten Jugend nachsehen kann." Ganz offenbar sind Selbstverbesserungsvorstellungen keine moderne Erscheinung. Eine besonders nüchterne Auffassung der menschlichen Natur, so lerne ich, ist in Italien heimisch. "Die Italiener sagen: Sotto ombelico nè religione nè verità."

Nicolas Chamfort hat sich zu ganz Unterschiedlichem Gedanken gemacht. "Von der Gesellschaft, den Grossen, den Reichen und den Leuten von Welt" heisst ein Kapitel, ein anderes "Vom Geschmack am zurückgezogenen Leben und von der Würde des Charakters", noch ein anderes "Über Frauen, Liebe, Ehe und Galanterie". Ich überfliege vieles, auch mag ich mich mit Chamforts Verachtung der Frauen nicht befassen, konzentriere mich auf die mir nützlich erscheinenden Ausführungen. "Wir sollen nicht nur verstehen, mit denen zu leben, die uns richtig einschätzen können: solche Eigenliebe wäre zu empfindlich und zu schwer zu befriedigen. Aber unser eigentliches Leben sollten wir nur mit denen teilen, die wissen, wer wir sind. Selbst der Philosoph tadelt nicht eine derartige Eigenliebe."

Speziell aufschlussreich fand ich die Rede, die im Jahre 1767 den Preis der Akademie von Marseille erhalten hat, worin er unter anderem darauf aufmerksam macht, wie verschieden doch die Natur den Menschen gemacht hat. "Welch unermesslicher Abstand besteht zwischen einem plumpen Wilden, der kaum zwei oder drei Vorstellungen miteinander verknüpfen kann, und einem Genie wie Descartes oder Newton!" Und was schliesst er daraus? "Nutzt eure Macht, um das Genie zu beschützen, das eure Macht vergrössern soll; befreit diese friedlichen Gesetzgeber der Vernunft, die nur zugunsten eures Ruhms und für das Glück der Menschheit reden, vom Wüten des Neides und des barbarischen Vorurteils, und erinnert euch daran, dass es nicht in eurer Gewalt steht, eure Untertanen zu zwingen, ihnen den Gehorsam zu versagen."

Fazit: Anregend, provozierend, realistisch.

Nicolas Chamfort
Alle Gedanken, Maximen, Reflexionen
Matthes & Seitz Berlin 2022

Wednesday, 6 April 2022

Der kultivierte Gärtner

Der erste Eindruck: Ein edel gestaltetes Buch, das gut in der Hand liegt, die kunstvoll gestalteten und angeordneten Grafiken, die fast auf jeder Doppelseite anzutreffen sind, eine ästhetische Augenweide, die das Herz jubeln lässt.

Informativ und unterhaltend will der Band sein, so der Autor, und das ist er auch. Überdies machte er mich auch immer mal wieder schmunzeln. "Der Gärtner ist ein freier Mensch, der seine Zeit für die Gestaltung des eigenen Nutz- und Ziergartens und damit für die  Entdeckung seiner selbst entdecken kann. Im heimischen Grün mag er seine Befriedigung finden, die wieder positiv auf seine Umwelt wirkt." Garten-Therapie als ein weiteres Angebot auf dem Markt der Therapien? Unbedingt, und eine für alle Interessierten ausgesprochen nützliche, auch wenn der Ausdruck Therapie sich nicht wirklich aufdrängt, es geht mehr um eine Lebenseinstellung, ja, um eine Lebensphilosophie.

Das zeigt sich etwa im Rat, den Auguste Rodin 1902 dem jungen Rilke gibt, der gerade Frau und Tochter verlassen hatte, "um in Paris zu sich selbst zu finden": Il faut travailler, rien que travailler. Et il faut avoir patience. Dass ohne Anstrengung so ziemlich gar nichts geht, gehört zu den leitenden Gedanken dieses Werkes. Und dass Beharrlichkeit und Disziplin vonnöten sind, so man denn ein erfülltes Leben erfahren will. "Die Pflanze verzeiht keine Pflegefehler."

Stefan Rebenich, Professor für Alte Geschichte und Rezeptionsgeschichte an der Universität Bern, schreibt wie ein strenger, von seiner Mission beseelter Lehrer: "Geniessen kann man die Gaben der Natur jedoch nur dann richtig, wenn die Vielfalt des Möglichen durch planende Voraussicht gestaltet wird: Es braucht individuelle Entwürfe, die nicht von der Stange zu haben sind; sie müssen selbst erarbeitet und umgesetzt werden." Zudem: "Alle Freude aufs Gartenjahr bezweckt dabei nichts, wenn sie nicht mit einem unstillbaren Verwirklichungsdrang einhergeht. Die Lust am Garten muss Sie bereits am frühen Morgen mit den ersten Sonnenstrahlen erfassen, und die Leidenschaft für die Arbeit in Beet darf Sie bis zum Abend nicht verlassen."

Der kultivierte Gärtner vermittelt so recht eigentlich eine Grundanleitung für ein erfülltes Leben. lehrt es uns doch: "Nichtstun ist keine Option. Um einen Garten muss man sich kümmern; und zu bestimmten Zeiten ist selbst in absichtlich verwilderten Gärten ein entschiedenes Eingreifen, ein kräftiger Rückschnitt oder eine mutige Verpflanzung notwendig. Die Pflege des Gartens, und sei er noch so klein, ist eine Übung, individuelle Verantwortung für Umwelt und damit zugleich für die Gesellschaft zu übernehmen."

Gartenarbeit setzt Gestaltungswillen wie auch einem ausgeprägten Sinn für Ordnung und Ästhetik voraus. Gärtner, so scheint mir, werden angetrieben von den Dingen wie sie sein sollen, und nicht wie sie sind. Dies setzt natürlich grosses Natur-Wissen voraus. "Es wird Momente raschen Wandelns und gezielter Erneuerung geben, aber auch Phasen geduldigen Zuwartens und gewünschter Stagnation." Genaues Hinsehen und sensibles Herausspüren, was Not tut, ist nicht nur für den Gartenbau, sondern auch für die eigene Person wesentlich.

Die in diesem Buch versammelten Essays zeichnen sich  nicht zuletzt durch ihre Vielseitigkeit aus. Das geht von nützlichen Hinweisen zur Ratgeberliteratur zu Viren im Garten, von der Bedeutung des Baums in England ("Mit seiner Hilfe inszenierte die englische Elite auf weitläufigen Landgütern ihren gegenwärtigen und zukünftigen Herrschaftsanspruch.") zu erhellenden Ausführungen über Paul Klees abstraktes Gemälde Gartensiedlung ("... Kunst gibt für Klee nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.").

Fazit: Eine unterhaltsame und überaus nützliche Anleitung fürs Leben.

Stefan Rebenich
Der kultivierte Gärtner
Die Welt, die Kunst und die Geschichte im Garten
Klett-Cotta, Stuttgart 2022