Ob es die Zeit wirklich gibt, ist zumindest fraglich. Die Indianer Nordamerikas jedenfalls halten sie für eine Illusion, Schweizer Uhrenmacher hingegen haben darauf ein Geschäftsmodell gegründet und uns Alltagsmenschen ist sie selbstverständlich, auch wenn der Zeitbegriff variiert, Schweizer Zeit und, zum Beispiel, thailändische nicht unbedingt deckungsgleich sind.
Zu den Eigenarten der Fotografie gehört es, dass sie imstande ist, die Zeit anzuhalten bzw. das Verstreichen der Zeit abzubilden. Fotografien bezeugen nicht nur, wie das, was aufgenommen worden ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgesehen hat, sondern auch, dass es existiert hat. Mit anderen Worten: Fotos sind visuelle Zeugnisse.
"Schlieren ist überall", lese ich in der Einleitung. "Schlieren ist kein Einzelfall, Vielmehr stehen die in diesem Buch gezeigten baulichen Entwicklungen und Veränderungen des stadträumlichen Gefüges stellvertretend für viele andere Gegenden der Schweiz." Ich habe keine Zweifel. dass dem so ist, auch wenn ich Bilder von Gegenden, die mir vertraut sind, anders betrachte als die von Gegenden, zu denen ich keinen persönlichen Bezug habe. Doch: Stadträumliches Gefüge?!
Die Dokumentation erfolgte "durch klar definierte, regelmässig wiederholte Übersichtsaufnahmen an 63 Standorten und durch Aufnahmen von Einzelobjekten, die für Nutzung und Atmosphäre städtischer Räume charakteristisch sind. Damit steht die Langzeitbeobachtung in einer Tradition der künstlerischen Auseinandersetzung zum Umgang des Menschen mit Landschaften, Stadträumen und ihrer Veränderung mit den Mitteln der Fotografie, die in der europäischen und nordamerikanischen Fotografiegeschichte massgebliche Beiträge hervorgebracht hat." Langzeitbeobachtung als künstlerische Auseinandersetzung?! Meine Vorstellung von
Fotografie
und Kunst ist definitiv eine andere.
Nach dem ersten Durchblättern beginne ich in die Texte hineinzulesen, gebe aber recht schnell auf, da sie mich weder sprachlich noch inhaltlich ansprechen. Wobei: So pauschal gilt das nicht; ich erlebte auch immer mal wieder Momente des Innehaltens, sei es wegen eines Zwischentitels wie "Vom einfühlenden Sehen zum aufmerksamkeitsoffenen Erleben" (das sich allerdings nicht auf die Fotografien, sondern auf die Architektur der neuen, transformierten Räume bezieht), sei es wegen der Methode der "Rephotography", von der ich erfahre, dass es sich um das "'Wiederfotografieren' bestehender Aufnahmen unter möglichst identischen Bedingungen" handelt.
Doch zu den Bildern: Zeit mit diesem Aufnahmen zu verbringen erlebte ich als überaus faszinierend und der Titel Stadtwerdung im Zeitraffer bringt hervorragend auf den Punkt, was wir hier vor Augen haben: Eine Entwicklung, bei der man sich immer mal wieder fragen kann, ob sich dabei eigentlich jemand überhaupt etwas gedacht hat (abgesehen von ökonomischen Überlegungen natürlich). Ästhetische Vorstellungen sind mir jedenfalls nicht aufgefallen.
Fotografien sind nichts anderes als Trigger. Was sie und warum triggern ist etwas für Akademiker; mir ist allein wichtig, was sie bei mir auslösen. Stadtwerdung im Zeitraffer ist aufgeteilt in zwei Bände; der Band "Archiv, 69 Standorte" zeigt auf jeder Doppelseite fast immer acht, manchmal auch nur sechs Fotos eines Strassenabschnitts, von 2005 bis 2019. Darauf sieht man, wie sich dieser Abschnitt der Strasse im Laufe von 15 Jahren verändert hat. Einige sind praktisch gleich geblieben, andere gar nicht mehr zu erkennen. Das löst ganz Unterschiedliches bei mir aus, vor allem Staunen, dass ich da, je länger ich hinschaue, immer wieder Neues entdecke. Deutlich wird dabei auch, dass Veränderung der Normalzustand ist.
Band zwei zeigt die Entwicklung einiger Stadtteile sowie Quartiere und Strassenzüge, die sich von 2005 bis 2020 überhaupt nicht verändert haben. "Dies gilt sowohl für Gebiete, die hauptsächlich durch Landwirtschaft oder als Naherholungszonen genutzt werden, wie auch für einen Grossteil der bestehenden Wohnquartiere."
Obwohl mich weder Raumplanung noch Architektur gross interessieren, habe ich die Beschäftigung mit diesem Projekt bereichernd gefunden, wenn auch vermutlich kaum der Gründe wegen, die den Herausgebern, Autoren und Fotografen (weiblich wie männlich) wichtig waren. Mir war das Mich-Einlassen auf das Vergehen der Zeit zentral. Besonders anregend erlebte ich die Erfahrung, dass auch wenn sich visuell kaum etwas verändert, das Wissen um den Zeitablauf die Wahrnehmung trotzdem beeinflusst.
Da wir in Bildern das sehen, was wir zu ihnen bringen bzw. wir nur er-kennen können, was wir kennen, bin ich mir gewiss, dass Menschen mit einem Schlieremer Hintergrund dieses Werk auf eine Art und Weise zu schätzen imstande sind, die mir verwehrt ist.
Meret Wandeler, Ulrich Görlich, Caspar Schärer (Hg.)
Stadtwerdung im Zeitraffer
Die Fotografische Langzeitbeobachtung Schlieren 2005-2020 zeigt,
wie sich das Schweizer Mittelland entwickelt
Scheidegger & Spiess, Zürich 2023