"Seit geraumer Zeit bildet die wachsende soziale Ungleichheit das Kardinalproblem der Menschheit", leitet Christoph Butterwegge sein Vorwort zu diesem Band ein. Unter denen, die unter die Räder kommen oder bei dem allgegenwärtigen "rat race" ganz einfach nicht mehr mitmachen mögen, wächst weltweit die Zahl der Obdachlosen. "Nach wie vor werden die Obdachlosen in vielen Städten aus dem öffentlichen Raum verdrängt, stören sie doch das lokale Wohlstandsidyll. Auf der Strasse lebende Menschen sind einem rigiden und repressiven Armutsregime ausgesetzt, für das Polizeirazzien, Platzverweise, Aufenthaltsverbote und Schikanen privater Sicherheitsdienste stehen."
Zu den Menschen, die sich dieser Obdachlosen annehmen, gehört der Arzt Gerhard Trabert. Ihm und den Obachlosen ist das fotografische Dokument Arzt der Armen, das Andreas Rees geschaffen hat, gewidmet.
Arztmobilsprechstunde in Bingen
"Andreas Reeg hat uns über zwei Jahre bei unserer sozialarbeiterischen und ärztlichen Beziehungsarbeit mit von Armut betroffenen Menschen, speziell wohnungslosen Menschen, begleitet. Er hat selbst Beziehung im Sinne der Gleichwürdigkeit zu den betroffenen Menschen gelebt", schreibt Gerhard Trabert. 'Gleichwürdigkeit' ist für mich ein neues Wort, jedenfalls habe ich es noch nie bewusst wahrgenommen (zumindest kann ich mich nicht erinnern). Ein Wort, das mich nachdenklich und aufmerksam macht, ein Wort, das mich berührt, mir womöglich hilft, Obdachlose anders und neu zu sehen.
Einige von Andreas Rees' Fotos sind mit Aussagen der Porträtierten ergänzt. Auf die Frage, was sie sich wünsche im Leben, antwortete die 59jährige Ma-Ah-Tee, die seit 21 Jahren wohnungslos ist und der wichtig ist, anderen Wohnungslosen zu helfen. "Haben, was man braucht. Muss nicht der grösste Luxus sein. Was man halt braucht. Sorglos darüber verfügen zu können, was man braucht. Nicht, was man möchte, was man braucht. Und das ist es schon. Und Gesundheit, ganz wichtig."
Prof. Trabert im Gespräch mit Anneliese Schneider
Die Lebensgeschichte von Wolfgang Fahr, 84, der die Hälfte seines Lebens auf der Strasse verbrachte und heute in einem Altersheim lebt, hat Robin Trabert aufgezeichnet. "Ich habe es nie bereut, auf mich selbst zu achten und von der Strasse weggeangen zu sein. Auf einen Schlag, von einem Tag auf den anderen habe ich gesagt, ich höre auf zu trinken, ich lasse es. Als ich dann 2008 in meine Wohnung gezogen bin, hatte ich noch zwei Flaschen Wein. Zwei Wochen später waren sie im Mülleimer, ich wollte nicht mehr trinken, es hatte keinen Sinn. Es liegt an jedem selbst, jeder ist seines Glückes Schmied."
So sehr das stimmt, so sehr stimmt eben auch, worauf Gerhard Trabert aufmerksam macht. "Die Politik fördert privaten Reichtum und nimmt öffentliche Armut (finanzielle Armut der Kommunen) in Kauf. Wieder versteckt man (zum Beispiel die Sozialbürokratie) sich in Deutschland zunehmend hinter Gesetzen und Bestimmungen, legt damit soziale Verantwortung ab und bedenkt nicht, zu was dieses Verhalten bei davon betroffenen Menschen führt."
Diesen Menschen ist Gerhard Trabert verbunden. "Je dichter ich Armut ausgeliefert war, um so näher war ich den Menschen und somit auch meinem eigenen Selbst." Das glaubt man beim Betrachten dieser Bilder zu spüren.
Andreas Reeg
Art der Armen
Kehrer Verlag, Heidelberg 2017