Wednesday, 29 January 2020

Eine Geschichte des Gehens

Die 1961 in den USA geborene Rebecca Solnit ist mir vor allem als geistreiche Essayistin ein Begriff. Auf dem Umschlag von Wanderlust wird sie als Kulturtheoretikerin bezeichnet. Vermutlich ist sie beides und noch einiges mehr. Die Erstveröffentlichung erschien vor zwanzig Jahren.

Den Rundweg auf einer Landzunge bei San Francisco, den sie "vor einem Jahrzehnt zu wandern begann, um meine Existenzängste in einem schwierigen Jahr hinter mir zu lassen", kenne ich zwar nicht, doch die Gegend ist mir bekannt und das Wandern als Methode der Angstbewältigung ebenso. Auch ihre Grunderfahrung beim Gehen ist mir vertraut. "Gelegentlich konzentriere ich mich auf den Akt des Gehens, doch meist bleibt es ein unbewusstes Tun, bei dem sich meine Füsse mittels ihrer eigenen Kenntnisse über Geschwindigkeit, das Halten des Gleichgewichts und das Umgehen von Steinen und Spalten fortbewegten. Das verschaffte mir die Freiheit, die Hügellandschaft in der Ferne und den Überfluss an Blumen um mich herum zu betrachten ...".

Beim Gehen gehe es darum, sich draussen aufzuhalten, im öffentlichen Raum. Und dieser ist ihr denn auch Anlass über Atomkraft, Malls, die Landschaft wie auch die Effizienzrhetorik nachzudenken. Von letzterer schreibt sie, dass sie suggeriere, dass nicht wert geschätzt werden könne, was nicht quantifizierbar sei. Ein sehr amerikanischer Gedanke, finde ich.

Zu den Philosophen, die das Wandern schätzten, gehörte auch Thomas Hobbes, der sogar einen Wanderstock mit einem integrierten Tintenfass besass, damit er unterwegs Ideen niederschreiben konnte, und der junge Nietzsche erklärte: "Drei Dinge sind meine Erholungen, aber seltne Erholungen: mein Schopenhauer, Schumann'sche Musik, endlich einsame Spaziergänge." Bei Rousseau und Kierkegaard macht Solnit grosse Ähnlichkeiten aus: "die gesellschaftliche Isolation".

Die meisten der englischen Autoren, die sich übers Wandern ausliessen, seien privilegiert gewesen und "schreiben, als hätte jedermann in Oxford oder Cambridge studiert, und sogar Thoreau war in Harvard", notiert sie. Nun ja, sich die Zeit zum Wandern zu nehmen und anschliessend davon zu berichten, fällt einem körperlich arbeitendem Menschen möglicherweise weniger ein. Auch die Art gelehrten Schreibens, das Wanderlust kennzeichnet, ist wohl eher Privilegierten zugänglich.

Besonders angesprochen haben mich die Ausführungen übers Pilgern, das für viele mit etwas Beschwerlichen verbunden scheint, das es zu erleiden gilt (travel - travail). Mir stehen diese Ausführungen von Allan G. Grapard, den Solnit zitiert, näher: "Je weiter sich Pilger von ihrer gewohnten Welt entfernen, desto näher kommen sie dem Reich des Göttlichen. Wir sollten erwähnen, dass im Japanischen das Wort für 'gehen' zugleich benutzt wird, um die buddhistische Praxis zu bezeichnen; der Praktizierende ist somit zugleich der Gehende, der nirgendwo wohnt, der in Leere verweilt. All dies hängt natürlich mit der Idee des Buddhismus als Weg zusammen: Praktizieren ist ein konkreter Zugang zur Erleuchtung."

Mit "Tausend Meilen konventionelles Empfinden" ist mein Lieblingskapitel überschrieben, worin ausgeführt wird, dass das Wandern für 'Das Reine', 'Das Einfache' und 'Das Ferne' stehe. Apropos 'Das Einfache': Als bei einem Gipfeltreffen zwischen Reagan und Gorbatschow die Verhandlungen ins Stocken kamen, soll Reagan (so die Legende) Gorbatschow zu einem Spaziergang am Genfersee eingeladen haben, bei dem der Engpass erfolgreich überwunden worden sei. So einfach kann das Leben sein, wenn zwei vernünftige Männer zusammen spazieren gehen ...  Nein, das sollen wir nicht glauben, meint Solnit. Nur schon, dass die beiden über keine gemeinsame Sprache verfügt haben, ist ein Detail, das solcher Legendenbildung im Wege steht.

Ich erlebe Solnits Texte als Augenöffner; oft drücken sie aus, was ich selber einmal wahrgenommen, doch nur noch unbewusst in mir trage. So notiert sie übers Stadtwandern in San Francisco: "Wie ein Bücherregal japanische Dichtung, mexikanische Geschichte und russische Romane miteinander in Berührung bringt, enthielten die Gebäude meiner Stadt Zen-Zentren, Kirchen der Pfingstgemeinde, Tätowiersalons, Lebensmittelgeschäfte, Burritoläden, Filmpaläste und Dim-Sum-Restaurants." Und in Paris fällt ihr unter anderem auf, dass die Cafés nicht nur der Strasse zugewandt sind, sondern gleichsam in sie übergehen, "als wäre das Theater der Passanten selbst für die Dauer eines Getränks viel zu interessant, um ihm den Rücken zu kehren."

Wanderlust ist ein enorm vielseitiges und wesentlich philosophisches Buch, das nicht am Stück gelesen werden muss, sondern das man immer wieder zur Hand nehmen, irgendwo aufschlagen kann und Perlen finden wird. "Die Geschichte des Gehens ist, in der Stadt wie auf dem Land, eine Geschichte der Freiheit und der Definition von Vergnügen." Weshalb denn auch das Bergsteigen und "Las Vegas, oder die längste Strecke zwischen zwei Punkten" darin ihren Platz finden. Genauso wie der Versuch, "den Rekord für die langsamste Überquerung eines Bergrückens auf der Insel Skye" aufzustellen sowie die Auffassung des New Yorker Tanzkritikers Edwin Denby, der über junge Römer schrieb: "Ihr Spaziergang ist eine Form der Kommunikation, als wäre er ein Gespräch mit dem Körper."

Fazit: Informativer, vielfältiger und anregender geht kaum.

Rebecca Solnit
Wanderlust
Eine Geschichte des Gehens
Matthes & Seitz Berlin, 2019

Wednesday, 22 January 2020

Alberto Giacometti & Isaku Yanaihara

Ich erwähnte, dass ich niemals einen Chinesen oder Japaner gut gekannt hätte, während er über einige Jahre mit Isaku Yanaihara eng befreundet gewesen war, dem japanischen Professor, der in dieser Zeit für viele Bilder und Skulpturen Modell gesessen hatte. Ich fragte, ob er jemals einen Unterschied zwischen sich und Yanaihara empfunden habe, eine grundlegende Verschiedenheit in ihren instinktiven Verhaltensweisen und Reaktionen, eine Verschiedenheit, die auf die Unterschiede in Herkunft, Nationalität und Rasse hätten zurückgeführt werden können.

"Überhaupt nicht", sagte er. "Er schien genau wie ich. In der Tat begann ich sogar, ihn als Norm und nicht als Ausnahme zu sehen, weil ich so oft mit ihm zusammen war. Wir waren immer zusammen: im Atelier, im Café, im Dôme und im Coupole, in Nachtklubs. Wir waren so oft zusammen, dass ich deshalb eines Tages ein merkwürdiges Erlebnis hatte. Yanaihara sass mir Modell, und plötzlich kam Genet ins Atelier. Ich dachte, er sähe sehr seltsam aus, mit einem so runden, sehr rosigem Gesicht und den vollen Lippen. Aber ich erwähnte nichts davon. Dann kam Diego ins Atelier. Und ich hatte das gleiche Gefühl. Auch sein Gesicht sah sehr rosig und rund aus, und seine Lippen wirkten sehr voll. Dann wurde mir plötzlich klar, dass ich Genet und Diego so sah, wie sie für Yanaihara ausgesehen haben mussten. Ich hatte mich so lange und so hart auf Yanaiharas Gesicht konzentriert, dass es für mich zur Norm geworden war, und für einen kleinen Moment – es war ein Eindruck, der nur kurz anhielt – konnte ich Weisse so sehen, wie sie Nichtweissen erscheinen müssen."

James Lord
Alberto Giacometti. Ein Portrait

Wednesday, 15 January 2020

Changing Times

Photography became prominent in my life while pursuing a Master's degree in Journalism Studies at the age of 46. When writing my thesis on documentary photography, one of the works I warmed to most was 'Let Us Now Praise Famous Men' by James Agee and Walker Evans, a book that, interestingly enough, I had acquired twenty years earlier but had no real recollection of. While my thesis progressed, I also became aware of the fact that as a youngster I had entertained the idea of becoming a photographer — something I had almost completely forgotten. Differently put, quite a lot of things seem to lie dormant for a long time before eventually coming to the surface.

In 1999, the only photography that interested me was documentary. And, especially photojournalism, "pictures with words", that is. This had doubtlessly to do with my enthusiastic and extraordinarily supportive thesis supervisor Daniel Meadows, but also with the fact that I understood documentary to essentially be storytelling which at that time I held very dear. Yet even then, I wasn't a fan of sayings such as "a picture tells more than a thousand words" for I do not think that pictures tell stories, I happen to believe that what we see in pictures we bring to them.

For the full text, see here

Wednesday, 8 January 2020

China 2049

"Wie Europa versagt", heisst der Untertitel von Martin Winters China 2049, und da ich das auch so sehe, jedoch wenig von Politik verstehe (ich begreife sie wesentlich als eitles Imponiergehabe, und ja, ich weiss, dass sie oft gravierende Konsequenzen hat), bin ich gespannt, was ein erfahrener Journalist (Martin Winter hat fast drei Jahrzehnte erst für die 'Frankfurter Rundschau' und dann für die 'Süddeutsche Zeitung' aus Bonn, Washington und Brüssel berichtet) dazu zu sagen hat. 

Die ersten paar Seiten von China 2049 lesen sich so, wie gute Sachbücher sich eben lesen: differenziert und wenig konkret. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass viele gescheite Leute viele gescheite Studien und Analysen zu China (und vielem anderen) verfassen, die folgenlos bleiben. Was so recht eigentlich die Regel ist, denn der Mensch ist so – seinen Einsichten folgt er erst, wenn es ums eigene Überleben geht. Und selbst dann nicht immer (man denke an Süchtige).

Es ist anregend und konventionell (in der Art von gut verdienenden Mitarbeitern von Think Tanks), wie der bestens unterrichtete Martin Winter sich die künftige Weltlage vorstellt, denn er geht davon aus, dass Politiker Politik machen und strategische Überlegungen anstellen, wohin die Reise gehen soll. Natürlich weiss auch Herr Winter, dass das niemand wissen kann, doch Planspiele sind reizvoll, besonders natürlich die, welche auf einer möglichst nüchternen Analyse gründen.

Das geopolitische Wissen des Autors ist beeindruckend, besonders natürlich für die, welche es nicht wirklich beurteilen können – also für mich. Doch so spannend sich China 2049 auch liest, dass Weltpolitik von strategischen Überlegungen geleitet wird, bezweifle ich. Das meint nicht, dass strategisches Denken irrelevant ist, es meint, dass der Mensch meist erst im Nachhinein erkennt, was er eigentlich tut.

"Die Europäer haben den Aufstieg Chinas zur Weltmacht verschlafen", konstatiert Martin Winter und zeigt auf, dass die Europäer in Kommissionen und Denkfabriken zwar viel Papier produziert haben, doch das war's dann auch schon. Dass China sich immer mehr ausbreitete, so möchte man anfügen, war auch denen klar, die sich nicht gross für Politik interessieren – chinesisches Geld kauft laufend westliche Firmen auf und bemächtigt sich afrikanischer Rohstoffe.

Mir gefällt an diesem Buch, dass es mich auf eine spannende geopolitische Reise mitnimmt, mich stören hingegen Sätze wie diese: "Das europäische Modell aus Freiheit des Einzelnen, Liberalität in der Wirtschaft und Vielfalt in der Politik, für das Europäer jahrhundertelang gestritten und oft auch gelitten haben." Von Freiheit spüren die Europäer wenig, hingegen viel vom Eingespanntsein in einen Überlebenskampf (wie übrigens auch die Chinesen), die sogenannte liberale Wirtschaftsordnung zwingt alle in ihr Tätigen zu spuren (auch das ist in China ähnlich) und was die Vielfalt in der Politik angeht   gimme a break!

Was China vom Rest der Welt unterscheidet, ist, dass es eine Diktatur ist und sich einer Diplomatie bedient, die das hervorragend verschleiert. Martin Winter behauptet, die Chinesen hätten "das Ziel, die Idee der freiheitlichen Demokratie durch die des chinesischen Weges zu ersetzen." Zweifellos hat er damit (dem Ideologie-Wettstreit) Recht, doch die Machthaber in Peking sind mindestens genauso intensiv damit beschäftigt, dass ihr System nicht auseinander bricht.

"Wenn Europa nicht von China verspeist werden will, muss es geostrategisch denken und handeln. Das bedeutet einen Mentalitätswechsel, denn das Selbstverständnis einer Macht, die von sich aus lenkend in die Ordnung der Welt eingreift, gehört nicht zur DNA der Europäischen Union." Das Problem ist nur, dass die Mentalität sich, wenn überhaupt, nur sehr schwer ändern lässt.

Martin Winter
China 2049
Wie Europa versagt
Süddeutsche Zeitung Edition, München 2019

Wednesday, 1 January 2020

Dao De Jing

Als Gymnasiast gehörte der Besitz dieses Werkes zu denen, die mich auszeichneten. Jedenfalls in meiner Vorstellung. Ob ich es gelesen beziehungsweise verstanden habe, weiss ich nicht mehr, doch ich erinnere mich, dass meine Ausgabe "Tao Te King" hiess und von Laotse verfasst worden war. Offenbar gibt es ganz unterschiedliche Ausgaben dieses Textes und, dies entnehme ich dem Vorwort von "Dao De Jing", erhebt jede, auch die vorliegende, "den Anspruch, eine singuläre inhaltliche Neuinterpretation des jahrtausendealten Werkes zu sein und es unserem heutigen Verständnis auf bisher noch nicht dagewesene Art und Weise aufzuschlüsseln."

Übersetzer Michael Hammes, der den Text auch "umfassend erläutert", macht im Vorwort klar, wie aussergewöhnlich befähigt er ist, die hier vorliegende Neuinterpretation vorzunehmen. Soviel Selbstherrlichkeit ist schwer erträglich und so recht eigentlich mit dem Geist dieses Werkes nicht vereinbar. So meint er etwa. dass "solange die Verstrickung in eigene und fremde kulturelle Kontexte noch nicht aufgelöst ist", man dem Dao De Jing nicht auf den Grund dringen kann (er selber glaubt offenbar, diese Auflösung bewerkstelligt zu haben). Weise Menschen sind bescheidener.

Doch zum Positiven: Was der Mann vorlegt, ist mir nicht nur sympathisch, sondern halte ich für hilfreich, notwendig und wahr. "Jahrtausende bevor Technologie zum gesellschaftlichen Allheilmittel und Rationalismus zur Ersatzreligion des sich aufgeklärt wähnenden modernen Menschen wurde, formulierte das DAO DE JING eine radikale Gegenposition."

Die Sinnsprüche des Dao De Jing gründen auf Prinzipien, die immer und überall gelten. "Das Reich zu regieren, zügelloses Verhalten zu disziplinieren und den menschlichen Leib zu heilen, alles folgt identischen Prinzipien." Und: "Mit dem Konzept des DAO und der Kraft der Tugend kann der Mensch wieder lernen, sich selbst ins Gleichgewicht zu bringen und zum Wohl der ganzen Welt beizutragen. So könnte eine Untertitel zum DAO DE JING lauten: Über die Freilegung des wahren Selbst."

Dieses wahre Selbst entzieht sich unseren gewohnten Denkkategorien, kann nicht in Worte gefasst, sondern nur erfahren werden. Voraussetzung dieses Erfahrens ist Absichtslosigkeit sowie die Bereitschaft, "Zeuge des Wirkens der höchsten ordnenden Instanz zu werden." Es geht ums Zulassen und Loslösen können

Dieser exquisit gestaltete Band enthält einundachtzig Eröffnungen, die jeweils von einer Erläuterung und einer Auslegung sowie einer praktischen Folgerung ergänzt werden. Die eleganten und unprätentiösen Ausführungen überzeugen nicht zuletzt, weil sie Grundlegendes in einfache Worte zu fassen wissen – eine seltene Kunst. Ein Beispiel: "Daher: Wenn du keinen Widerstand bietest, vermagst du alles zu durchdringen. Widerstand entsteht durch Anhaftung an Absichten und Argumente."

Die am Schluss dieses Bandes aufgeführten Kernbotschaften machen unter anderem klar, dass der hier skizzierte Weg nicht auf dem heutzutage dominierenden Konkurrenzdenken, sondern der Selbstmeisterung gründet. "Selbstmeisterung genügt, um die Welt zu meistern." 

Laut Herausgeber Michael Hammes gehört dieser "Leitfaden der Hygiene für Geist und Seele" sowohl "in die Hand aufgeschlossener Angehöriger der Heilberufe wie unter das Kopfkissen geplagter Patienten, die mehr als den Zauber von  Pille, Skalpell und Spritze erfahren wollen." Treffender kann man es kaum sagen. 

Zwei meiner Lieblingssätze will ich doch noch anführen: 
"Hüte dich vor allen Arten der Selbsttäuschung. Das ist die grosse Gesundheit, die auch andere vor Ansteckung mit Krankheit bewahrt."
"Bedenke  die grosse Ordnung kannst du nicht erzwingen, aber wenn du das beste Beispiel für sie abgibst, können andere sich daran ausrichten."

Lao Zi
Dao De Jing
Manesse, München 2019