Wednesday, 26 July 2023

Rache

Da ich einen Thriller zum Thema Rache geschrieben habe, ist mein Interesse an diesem Band entsprechend gross; als ich dann aber lese, diese kulturgeschichtliche Untersuchung sei aus einer Dissertation hervorgegangen, entschieden weniger. Doch dann erinnerte ich mich an ein Werk, das ebenfalls aus einer Dissertation hervorgegangen war und mich begeistert hatte, und so beschloss ich to keep an open mind .... was mir jedoch nicht wirklich gelang. Kurz und gut: Ich gebe hier nur wieder, was die (zugegeben, recht summarische) Durchsicht bei mir ausgelöst hat.

Mit Rache verbindet man gemeinhin etwas Primitives, Anti- bzw. Vor-Zivilisatorisches. 'Wo Rache war, da wurde Recht' lautet deshalb auch das Selbstverständnis der Moderne. Wer daraus jedoch den Schluss zieht, die Rache sei damit überwunden, irrt. Und zwar gewaltig, der Autor macht dies mehr als deutlich, an vielen Beispielen, die er differenziert (das darf man bei einer Dissertation erwarten) behandelt.

Rache ist so recht eigentlich ein dirty word; wird einer eines persönlichen Rachefeldzugs beschuldigt, hat er gute Chancen, dass seine Argumente von nicht wenigen gar nicht mehr gehört werden wollen. Und auch mittels der Sprache wird versucht, der Rache beizukommen. "In den in englischer Sprache geführten Debatten rund ums Strafrecht wird anstelle von 'revenge oder 'vengeance' meist von 'retribution' gesprochen. Ein Ausdruck, der, wie Jacoby bemerkt, vor allem von Befürworterinnen einer rigideren Strafpraxis verwendet wird, um das harscher anmutende 'revenge' zu vermeiden."

Nun ist es ja nicht nur bei der Rache so, dass man die Dinge nicht beim Namen nennt, schliesslich basiert "unsere" ganze Kultur auf Heuchelei bzw. dem Verdrängen. Und gerade die Engländer tun sich beim konkreten Benennen von was auch immer ganz besonders schwer. 

Ein Beispiel: Die konservative britische Regierung plant illegale Asylbewerber nach Ruanda auszufliegen und dort deren Aussichten auf britisches Asyl prüfen zu lassen. Auf Sky-News wird ein Befürworter und ein Gegner dieses Vorhabens eingeladen. Als der Gegner sagt, das würde nicht funktionieren und sei „like pissing in the wind“, wird er von der Moderatorin darauf hingewiesen, dass eine solche Ausdrucksweise auf Sky-News nicht toleriert werde. Was mich an einen britischen Komiker erinnerte, der die New York Times wissen liess, dass es in Grossbritannien nicht möglich sei, jemanden als Lügner zu bezeichnen, stattdessen sei „ein ökonomischer Umgang mit der Wahrheit“ üblich.

Es handle sich bei diesem Werk um "die Vermessung eines unzulässigen Gefühls" (Gefühle können vermessen werden? Echt jetzt?), lese ich auf der vierten Umschlagseite, und Fabian Bernhardt zeige, "dass auch unter dem dünnen Firnis unserer aufgeklärten Zivilisation das Bedürfnis nach Rache weiter pulsiert und nach oben drängt." Ich habe keine Zweifel, dass dem so ist, doch wundert das wirklich jemand? Höchstens die, welche ernsthaft glauben, dass sie aufgeklärt und zivilisiert sind.

Beeindruckende Spielzeuge und Instrumente haben wir entwickelt, den materiellen Lebensstandard gesteigert, des Menschen Erfindungen und Entdeckungen sind atemberaubend. Emotional sind wird jedoch stehengeblieben, haben wir so ziemlich gar nichts im Griff. Der zivilisierte Mensch ist ein  Mythos, unsere Triebe sind noch dieselben wie die des Urmenschen.

Von Aristoteles lese ich. Und von Marianne Bachmeier. Von Sloterdijk und Dagobert Duck. Die akademische Welt gibt sich grenzüberschreitend hip und unkonventionell. So scheint es. Doch es ist das Übliche: Begriffe werden bestimmt, Differenzierungen vorgenommen, sogenannt anerkannte Grössen zitiert. Der Autor führt vor, dass er seine Hausaufgaben gemacht, sich seinen Doktorhut verdient hat. "Anstatt die Rache zu verdrängen und zum schlechten Anderen zu erklären, täte die Moderne folglich gut daran, sich klar zu machen, in welchem Masse ihr eigenes Fühlen und Handeln von rächerischen Affekten bestimmt  wird und welchen Raum diese Affekte nicht nur in ihrer Imagination, sondern auch in ihren Institutionen einnehmen."

Ein angemessene Schlussfolgerung für eine Dissertation, an Harmlosigkeit kaum zu überbieten. Ich selber finde Rache oft eine gute Sache, vor allem dann, wenn sie von der Mehrheit als ausgleichende Gerechtigkeit verstanden wird. Nein, nicht den Ehrenmord, natürlich nicht, sondern Robin Hood! Doch wie gesagt: Rache ist ein akademisches Buch, sollte es von praktischer Relevanz sein, so hat sich mir dies nicht erschlossen, ausser als (immer wieder notwendige) Bewusstmachung, dass und wie wir uns selbst belügen.

Fabian Bernhardt
Rache
Über einen blinden Fleck der Moderne
Matthes & Seitz Berlin 2021

Wednesday, 19 July 2023

When looking at photographs of myself (2)



These pictures were taken by Blazenka Kostolna on 5 December 2022 in Adliswil, 6 days before I was to embark on my yearly flight to Porto Alegre. It was a cold day, all grey in grey; the gallery, where some of Blazenka's art work was exhibited, was also cold and so we moved to a nearby Migros restaurant to have coffee. I do not remember much of this day, except that we engaged in intense talks, as usual.

When Blazenka sent me the photos, I felt surprised. I've never had seen myself that way, and Blazenka had never photographed me this way. Or so it seemed. On the other hand: I had only then been the person that I was in that very moment, and I will never be again the person that I then was.

Wednesday, 12 July 2023

Am Fusse des Kavulungan


"Kind", sagte er ruhig, ohne sich im Geringsten von meiner Ungeduld bewegen zu lassen, "auf dieser Welt gibt es nicht nur eine Art von Sehen." Er schaute mir in die Augen, so durchdringend und vergebend, so tiefgründig und warmherzig, dass es schien, als könne es auf dieser Welt doch einen Ort geben, weit weg und jenseits von allem, was richtig und falsch ist.

Dieser Passus ist dem ersten Kapitel dieser philosophischen Reise vorangestellt. Da ich schon lange zu wissen glaube, dass die allgemein herrschende Denkensart nicht viel mehr als eine Gewohnheit zu denken darstellt (eine für mich unbefriedigende), fühle ich mich davon ganz unbedingt angesprochen.

Ich habe einige Jahre in Südostasien verbracht und fühle mich bei der Lektüre von Am Fusse des Kavulungan daran erinnert – vermutlich, weil mich damals ähnliche Fragen umtrieben. Wobei: So recht eigentlich hat sich das nicht geändert – meine Fragen und gelegentlichen Antworten sind nach wie vor dieselben.

Die Protagonistin dieses Werkes kommt nicht zur Ruhe und sucht Rat bei einem Meister. "Deine körperliche und seelische Unruhe, deine Müdigkeit, die kommen daher, dass du dein Selbst viel zu wichtig nimmst. Du siehst nur deine eigene Existenz", erklärt ihr dieser, worauf sie bemerkt, bei ihrem Meister sei es stets erlaubt gewesen zu widersprechen (wunderbar, dieser feine Humor!): "Wer kann denn irgendwas ausserhalb seiner eigenen Existenz wahrnehmen?" Indem man sich bewusst macht, dass der Mensch lediglich eine Art unter zehntausenden Spezies ist, mit seiner eigenen Art der Wahrnehmung. Wenn man nur sich selber sehe, so der Meister, sei man wie ein Zimmer ohne Fenster.

Am Fusse des Kavulungan ist eine Auseinandersetzung mit grundsätzlichen Lebensfragen anhand ganz verschiedener Episoden, die im Süden Taiwans angesiedelt sind, wo die Protagonistin, eine Schriftstellerin, in der von einem Gutsherrn geführten 'Pension der Einsamkeit' Aufnahme findet. Der Gutsherr ist abergläubisch und liest zum Ausgleich den 'Scientific American'. Die Schriftstellerin erkundet die Gegend, trifft auf unterschiedliche Leute, unter anderen auch auf die junge Yijun. "Ihre Haut war kakaofarben, offensichtlich war sie Angehörige einer indigenen Volksgruppen Taiwans. Ich sah sie bewundernd an und dachte im Stillen: 'Dieses Mädchen ist umwerfend schön – fast wie ein Covermodel'."

Ein paar Wochen später trifft die Schriftstellerin von Neuem auf Yijun, die in der Psychiatrie untergebracht ist, wo sie sich in einen jüngeren Mitpatienten verliebt hat. Das ist sehr einfühlsam geschildert, Die Autorin versteht es ausgezeichnet, sich vom Leben in seinen verschiedenen Formen berühren zu lassen.

Auch auf eine 14Jährige, die über so ziemlich alles Bescheid zu wissen scheint, trifft die Schriftstellerin. "Aus einem Grund, den ich selbst nicht kannte, hatte ich beschlossen, das rationale Denken hintanzustellen und einfach zu akzeptieren, was die altkluge Vierzehnjährige mir erzählte."

Die 14Jährige stellte sich die Art von Fragen, die Darwin sich gestellt hatte, als er begann, das Verhalten von Regenwürmern zu erforschen. "Warum kamen die Regenwürmer ausgerechnet nach dem Regen heraus? Hörten sie, wie der Regen auf den Boden trommelte? Verfügten sie über einen Gehörsinn? Hatten sie Ohren?" Nein, hatten sie nicht, sie regierten auf Vibrationen.

"Nur weil du keinen Wind wahrgenommen hast, heisst das nicht, dass kein Wind da war. Es heisst nur, dass deine Sinneswahrnehmung nicht sensibel genug ist, um einen sehr feinen Windhauch zu spüren." Dabei geht mir Schopenhauer durch den Kopf, der die Auffassung vertrat, wir Menschen seien unterentwickelte Tiere, da diesen feinere und andere Sensoren eignen als uns. So ist etwa, wie die 14Jährige ausführt, der Blickwinkel einer Katze 25 Grad weiter als der menschliche.

Wie wir die Welt wahrnehmen, hängt wesentlich davon ab, ob wir zum Sehen bereit sind. "Ich sehe, du liest. Du verwendest deinen Verstand, ordnest die Dinge zeitlich ein, strukturierst sie. Ich dagegen benutze meine Augen; ich bin wie eine Kamera, die alles auf einmal aufnimmt. Was ich sehe, kannst du nicht sehen, weil du nur liest, aber nicht siehst." Die Kamera lehre sie das Sehen, sagte Dorothea Lange einmal; ein brasilianischer Zen-Buddhist formulierte es so: Não pense, veja (denk nicht, schau).

Fazit: Eine überaus gelungene und anregende Wahrnehmungsschulung – Horizont-erweiternd. Nicht zuletzt solch weiser Einsichten wegen, die unser Herz erreichen. "Wenn du eines Tages in die letzte, endgültige Dunkelheit eintrittst und aus dieser an den Ort des Lichts zurückschaust, wirst du feststellen, dass unser aller Schicksal flüchtig, unsere Liebe tief ist."

Lung Ying-Tai
Am Fusse des Kavulungan
Eine philosophische Reise
Drachenhaus Verlag, Esslingen 2023

Wednesday, 5 July 2023

Das Mädchen mit der Leica

Kein Genre, das ich problematischer erachte als die Biografie, abgesehen vielleicht von der Autobiografie, denn anzunehmen, ein Leben erfassen zu können, ist nachgerade grotesk, da dies implizit behauptet, zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden zu können und es eine Folgerichtigkeit gebe, obwohl man doch nicht einmal zu sagen vermöchte, was einem vor drei Minuten durch den Kopf gegangen ist. Vermutlich, weil es nicht wichtig war, wird der eine oder die andere schmunzeln.

Die Biografie, so Janet Malcolm in ihrem Buch über Sylvia Plath, sei das Medium, mit welchem die verbliebenen Geheimnisse einer berühmten Person ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt würden und der Biograf, der auch eine Sie sein kann, sei nichts anderes als ein professioneller Einbrecher, der heimlich die Schubladen ausgeräumt habe. Kurz und gut: Der Biograf (das Englische unterscheidet nicht zwischen Frau und Mann) ist so recht eigentlich ein Voyeur (eine Voyeuse?).

Helena Janeczek wird sich ihre eigenen Gedanken dazu gemacht haben, als sie ihr Porträt, der mit 27 Jahren bei einem Unfall im Krieg verstorbenen Gerda Taro, einen Roman nannte. Ein kluger Entscheid, wie ich finde.

Der Einstieg ist genial: Wie die Autorin diese Fotos kommentiert, ist gescheit und einfühlsam, denn sie schaut hin. Und macht mir auch den von mir wenig geschätzten Robert Capa sympathisch. Dabei erfahre ich übrigens auch, dass Gerda Taro eigentlich Gerda Pohorylle hiess. 

Übrigens: Auf dieses Buch aufmerksam geworden bin ich, als ich las, dass Zehntausende sie in Paris zu Grabe trugen, darunter Alberto Giacometti und Pablo Neruda. Wie konnte das bloss sein? Lesen Sie dieses Buch!

Helena Janeczek schildert Gerda Taro durch die Augen von drei Personen. Willy Chardack, unsterblich in sie verliebt, blieb ihm nur die Rolle als Freund; Georg Kuritzkes, mit dem sie ein heftiges Verhältnis verband; Ruth Cerf, ihre Jugendfreundin aus Stuttgart. Eine überaus überzeugende Herangehensweise, denn wenn auch jede der drei Personen eine jeweils andere Gerda kennenlernt, was sie wesentlich auszumachen schien, war ihre Eigenwilligkeit sowie ihr Lachen, mit dem es ihr oft gelang, "dem Unglück die Schwere zu nehmen."

Was hat Helena Janeczek bewogen, sich Taro und Capa anzunehmen und sich in deren Leben zu vertiefen? "Meine Mutter, die Gerdas dickköpfige coquetterie besass, hätte ihre kleine Cousine sein können. Mein Vater, ein grosser Geschichtenerzähler wie Capa, sein jüngerer Bruder."

Mein eigenes Interesse an diesem Buch hat mit der Fotografie zu tun, und besonders dem eigenartigen Kultstatus, den einige Fotografen geniessen, denn ein gutes Foto hat häufiger mit Glück bzw. mit zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein als mit Talent zu tun. Natürlich sehen das die meisten, die sich mit Fotografie auseinandersetzen, nicht so. "Wenn deine Bilder nicht gut genug sind, dann warst du nicht nah genug dran", soll Capa bekanntlich gesagt haben. Ein viel dümmerer Satz kann einem Kriegsfotografen wahrlich nicht einfallen.

Die damals legendäre Picture Post veröffentlichte unter dem Titel The Greatest War Photographer in the World ein Porträt von Capa. Gerda Taro hat dieses Foto gemacht. "konzentriert, unerschrocken, das Profil an die Filmkamera geschmiegt, die wie ein metallenes Horn mit Nachtfalterflügeln aus seinem Brauenbogen hervorwächst. Der grösste Kriegsfotograf ohne Fotoapparat." Zugegeben, das ist schon reichlich absurd, doch noch fast absurder bzw. befremdlicher finde ich die Bezeichnung Der grösste Kriegsfotograf.

Helena Janeczek
Das Mädchen mit der Leica
Piper, München 2022