Wednesday, 30 September 2020

Peter Mathis: Schnee

Im November 2019 sass ich im Zug von Innsbruck nach Sankt Anton am Arlberg neben einer Malerin, die ausschliesslich den Schnee malt, der ja in vielerlei Gestalt daherkäme (man denke an die angeblich 70 Worte der Eskimo, die in Tat und Wahrheit etwa ein oder zwei Dutzend sind) – dass der Schnee zudecke, es ganz viele Weiss gäbe und er gewaltig, ja, bedrohlich sei, sagte sie. Seither schaue ich den Schnee mit neuen Augen an. Und wenn ich nun den Bildband von Peter Mathis anschaue, gerade noch einmal anders.

Als ich vor nunmehr zwanzig Jahren begann, mir intensiv Gedanken über die Fotografie zu machen, galt mein Interesse der  Dokumentar- und der Pressefotografie. Mich faszinierte die Kombination von Bild und Wort, genauer: Die Geschichten zum Bild. Heute zieht mich nur mehr die Ästhetik an, frage ich mich nur noch (wenn ich mich denn überhaupt etwas frage und nicht nur geniesse, was meinen Augen präsentiert wird), was die Fotografien bei mir auslösen.

Die Bilder von Peter Mathis erinnern mich an Japan. Ja, ich weiss, sie wurden in den Lechtaler Alpen, den Dolomiten, den Appenzeller Alpen, in Alaska und an weiteren Orten aufgenommen. Trotzdem gehen mir Japan-Gedanken durch den Kopf. Ich  weiss nicht wirklich, weshalb dem so ist. Sicher, ich könnte Vermutungen anstellen, doch mir genügt, dass mich diese Aufnahmen in Erstaunen versetzen, sie in mir Ehrfurchtsgefühle auslösen und sie, was mich anlangt, so recht eigentlich irgendwo hätten aufgenommen werden können. 

Die Essenz der Fotografie ist für mich das Einrahmen. Geht ein Fotograf in die Natur raus, ist alles schon da, er braucht, im Gegensatz zum Maler, nichts zu erschaffen. Verfügt er über ein gutes Auge (das viel mit Intuition zu tun hat), wird er ansprechende Bilder zurückbringen. Die Aufnahmen, die Peter Mathis zurückgebracht hat, machen mir das Wunder der Natur bewusst, da sie meine Augen auf das lenken, was er gesehen hat und mich so aus meinem Autopilot aufwecken. Dass nicht wenige Bilder nahe meinem Wohnort aufgenommen wurden, trägt dazu bei, mein Bewusstsein dafür zu wecken, meine Aufmerksamkeit auf das Naheliegende zu richten.

Ea sind höchst gelungene Kompositionen. Warum Peter Mathis ausgewählt, was er fotografiert hat, beschäftigt mich nicht. Viele Bilder lassen mich ruhig werden, andere zeigen die Bergwelt majestätisch und gelegentlich dramatisch. Die wenig markanten Spuren, die der Mensch hinterlässt. machen deutlich, dass wir keineswegs im Anthropozän angelangt, sondern ein Teil der Natur sind.

"Schnee" ist ein ganz wunderbares Buch, ästhetischer Genuss wie auch Augenöffner, eine Einladung zum meditativen Verweilen und zum Staunen. 

PS: Einblicke finden sich hier

Peter Mathis
Schnee
Prestel, München-London-New York 2020

Wednesday, 23 September 2020

Grönland by Ulrike Crespo

Grönland (Greenland) is a tome in German and English by Ulrike Crespo (1950-2019) whose background in art history, archaeology and psychology seems to have influenced her photographic work. To me at least, the cover and pic number 6, for instance, look as fascinatingly indecipherable as our unconscious.

What attracted me first and foremost to this book is pic number 2. It accompanies me since I first laid eyes on it. How come? I do not know but I can of course guess. It looks like toyland to me – and the colours contribute to that impression. Moreover, it makes me wonder who inhabits these houses, what do the people living there do, think and feel? This book doesn’t give answers, instead it is showing us landscapes and seascapes. In so doing Ulrike Crespo is emphasising what I did not expect – and I’m pleased for it helps me to get out of the prison of my head.

These photos do not need captions, they are invitations to contemplate the magic of planet earth. My daily problems and preoccupations disappear when looking at what Ulrike Crespo had decided to document. I feel entranced and in awe of such beauty. And with no desire to put anything into words, to look and see feels enough. 

For the full review, see here

Wednesday, 16 September 2020

Phil Bergerson: A Retrospective

Canadian photographer and educator Phil Bergerson (b. 1947, Toronto) “found his calling as a photographer in the American social and cultural landscape” in the late 1980s while on a sabbatical from teaching at Ryerson University. “The focus of his work ever since has been the signs, display windows, hand-painted murals and graffiti found in cities and towns throughout the United States,” says the press release and the photographs in this beautifully done tome give testimony of a rich variety of cultural expressions. To my Swiss eyes the creativity displayed looks weird, funny, sad, pathetic, joyous, uplifting – touching expressions of the childlike human nature.

Needless to say, one has to have an especially good eye in order to see what Phil Bergerson saw and documented. Differently put: Not only his outsider view makes him see what many probably don’t, his attitude (“empathetic neighbour”) is equally important. Yet what, in my view, has to be applauded above all is the ingenuity of the folks who came up with all these fascinating and strange things that he photographed.

For the full review, see  here

Wednesday, 9 September 2020

Tomas Espedal: Gehen

 
"Langsam wird mir klar: Du bist glücklich, weil du gehst." Und: "Je älter ich werde, desto mehr freue ich mich über das Leben. Ich habe immer grössere Angst vor dem Tod. Das erstaunt mich. Ich werde mit dem Alter nicht klüger, im Gegenteil ...".  Gleich zu Beginn dieses Buches stolpere ich über diese Sätze. Nicht, dass ich mich mit ihnen identifizieren würde/könnte, doch sie zeigen mir, wie unterschiedlich man die Welt wahrnehmen kann und dass meine eigene Sicht nichts mehr als eine Sicht ist - ein in diesem Moment eigenartig beruhigendes, ja, ein befreiendes Gefühl.

Doch weshalb verlässt ein Mann, der von sich sagt, dass er sich am Leben freut, seine Frau, sein Kind und sein Haus? Er mache sich auf den Weg zu sich selbst, lese ich auf dem Buchumschlag, und frage mich, ob das eine gute Idee ist. Was, wenn ihm dieses Selbst, sollte er es denn finden, nicht gefällt? Wie auch immer, er geht mit Rousseaus 'Bekenntnissen' los, der unter anderem schrieb: "Das Gehen hat etwas, was meine Gedanken erregt und belebt; wenn ich mich nicht bewege, kann ich kaum denken, mein Körper muss gewissermassen in Schwung geraten, um auch meinen Geist zum Schwingen zu bringen."

Einen ersten Anlauf macht er in Wales, einen zweiten in Süddeutschland, beide bricht er nach Kurzem ab, doch aufgeben will er nicht. "Jetzt aber weiss ich, dass es nicht im Handumdrehen getan ist, so zu leben, dass es nicht einfach ist, ein Wandersmann zu werden. Es erfordert Training und Mut, Gewöhnung und Zeit." Fortan übt er das Gehen in Norwegen, im zweiten Teil des Buches dann in Frankreich und Griechenland.

Gehen oder Die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen handelt, wie der Titel suggeriert, nicht allein vom Unterwegssein dieses Wanderers (er ist definitiv kein Spaziergänger), sondern auch von den Leuten, die er trifft. Mit einem Mit-Wanderer unterhält er sich über Shakespeare, zu dem dieser eine dezidierte Meinung hat: "Das Theater ist reine Unterhaltung und nichts als ein Zeitvertreib. Das ist es doch, worüber uns die meisten Stücke Shakespeares etwas erzählen; dass unser Leben zu kurz und flüchtig ist, um es mit Missverständnissen und Schauspielen zu vergeuden."

Kein Schreiben, das nicht in erster Linie Autobiografie wäre. "Ich habe immer anders leben wollen. auf gänzlich andere Art als von meiner Erziehung vorgesehen. Von Kindesbeinen an ein tiefsitzender Widerwillen dagegen, das zu tun, was mir gesagt wurde. Ich habe stets alles schwieriger für mich machen wollen. Nie leichter, nie einfacher, immer nur schwieriger, und immer wider unmöglich für mich selbst. Und wohin hat mich das gebracht?. Es hat mich an keine normalen Orte gebracht; ich habe nie eine Arbeit gehabt, es ist mir nie gelungen, mir ein Heim, eine Familie aufzubauen, ein festes Gehalt zu bekommen."

Da Tomas Espedal anders lebt als die meisten, denkt er auch anders als die meisten. Und davon berichtet dieses Buch, das natürlich auch von anderen, die schreiben handelt, und uns von Walt Whitman erzählt, der sein eigenes Buch 'Leaves of Grass' in drei verschiedenen Publikationen positiv besprochen hatte und in der Folge von Henry David Thoreau aufgesucht wurde, der zu seiner Überraschung einen ausgesprochen häuslichen Büromenschen antraf, der, so Espedal, "in meiner Vorstellung das gesündeste und kraftvollste aller Wandergedichte schreibt, den 'Song of the Open Road'" (der sich auch in diesem Buch findet).

Und auch vom Dichter Olav Nygard erzählt er, der ihm zu Bewusstsein bringt, "dass alles, wonach wir uns sehnen, hier ist, ganz gleich, wo wir sind, direkt vor unseren Augen." Eine Lektion, die er, der nach den idealen äusseren Umständen sucht, wie er weiss, besonders nötig hat und ironisch so kommentiert: "Jeden Tag sass ich am Schreibtisch, starrte in den Raum hinein und freute mich über seine Schönheit, die ich mühevoll aufgebaut hatte; es war ein perfektes Zimmer. Ein perfektes Arbeitszimmer. Ich schrieb nichts in diesem Zimmer."

Leben als Selbsterforschung, zu der auch die Auseinandersetzung mit der Natur und den Ideen von anderen gehört, gelingt eindrücklicher, wenn man in die Welt rausgeht, denn es ist die körperliche Erfahrung, die einen lehrt, Teil der Welt zu sein.

Fazit: Spannend, überzeugend und anregend. 

Thomas Espedal
Gehen oder Die Kunst, ein wildes 
und poetisches Leben zu führen
Matthes & Seitz, Berlin 2020

Wednesday, 2 September 2020

Nachts im Wald

Wer fotografiert, ist gut beraten, ich von einer Idee leiten zu lassen. Der 1985 in Tannesberg in der Oberpfalz geborene und heute mit seiner Familie in Köln lebende Diplom-Geograf Kilian Schönberger, der seit 2012 als freier Landschaftsfotograf sich auf Wald, Berge und Nebel konzentriert, hat sich in diesem Band der nächtlichen Natur verschrieben. Zweifellos eine originelle Idee (und eine solche braucht es heutzutage angeblich, um einen Verlag zu finden), doch funktioniert sie auch? Ja, sie tut es, von den Bildern in Nachts im Wald geht eindeutig etwas Geheimnisvolles, Unwirkliches, Magisches aus.

Der Wald prägte Kilian Schönbergers Kindheit in der Oberpfalz. War er damals Abenteuerspielplatz, wurde er später zu seinem Arbeitsplatz. Den nächtlichen Wald entdeckte er wegen der 'blauen Stunde'. "Dieser Begriff bezeichnet einen je nach Jahreszeit ungefähr eine Stunde langen Zeitraum kurz vor Sonnenaufgang und kurz nach Sonnenuntergang, der durch besondere Lichtstimmungen charakterisiert ist. Nicht nur Fotografen schätzen die Blauen Stunden für das an klaren Tagen aussergewöhnliche Ambiente."
Monduntergang auf der Röhn @ Kilian Schönberger

Nachts im Wald ist ein informatives Buch. So erfahre ich unter anderem, dass ein Drittel von Deutschlands Gesamtfläche von Wald bedeckt ist, die Waldökosysteme ungemein vielfältig sind (mediterran anmutende Eichenwälder hätte ich in der Eifel nicht erwartet – doch was weiss ich schon von der Eifel), der Grund für Berghütten im Hochgebirge auch darin liegt (das hatte ich mir noch nie überlegt), dass nächtliche Auf- und Abstiege oft zu riskant wären.

À propos Eifel: "In der Eifel fand ich ein Äquivalent zu 'meiner' Oberpfalz. Aufregend unspektakulär." Mit anderen Worten: Eine Anregung genau hinzuschauen.

Kilian Schönberger erzählt von seinen Nachttouren und macht mir bewusst, dass nicht nur das Sehen im dunklen Wald gewöhnungsbedürftig ist (er hat immer seine Stirnlampe dabei), sondern des Nachts auch viele Tiere unterwegs und Geräusche von beispielsweise Rotwild, Hirschrudeln und Wildschweinen auszumachen sind.
Gespensterwald an der Ostsee @ Kilian Schönberger 

Forschungen haben gezeigt, dass Bäume sich in der Nacht anders verhalten als am Tag. Bekannt ist auch, dass sie (in unseren Breiten) während der kalten Jahreszeit in eine Art Winterschlaf verfallen. Doch brauchen sie auch Nachtruhe wie wir Menschen? Nachgewiesen hat man jedenfalls, dass Dauerbeleuchtung mit Kunstlicht zum grossflächigen Absterben von Eichen in den USA geführt hat.

Wie jedes Buch, so regt auch dieses zu Gedanken an, die über das Gezeigte und Geschilderte hinausgehen. Als ich lese, dass Schönbergers besonderes Interesse "den spannenden Motiven im Bereich von Wald- und Baumgrenze" gelten, geht mir unvermittelt die Betreiberin des Hotelrestaurants auf dem Flüelapass durch den Kopf, die auf meine Frage, was sich denn in den letzten Jahren auf dieser Höhe vor allem verändert habe, erwiderte, die Baumgrenze habe sich verschoben, der Erwärmung wegen, so weit oben habe sie zuvor keine Lärchen wachsen sehen.

Fazit: Eine willkommene Horizonterweiterung!

Kilian Schönberger
Nachts im Wald
Goldmann, München 2020