Wednesday, 29 October 2025

Eine Studie in Scharlachrot

Nachdem Watson im Jahre 1878 an der University of London seinen Abschluss in Medizin machte, war der Zweite Afghanische Krieg ausgebrochen, von dem er verwundet und bei schlechter Gesundheit nach London zurückkehrte, wo er auf der Suche nach einer Wohnung auch mit Sherlock Homes Bekanntschaft machte. Um zu sehen, ob sie sich eine Wohnung teilen könnten, unterziehen sie sich einem gegenseitige Kreuzverhör, das dermassen amüsant und aufschlussreich geschildert wird, dass es eine wahre Freude ist.

"'Das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch', wie Sie wissen", sagt Watson zu dem Assistenzarzt, der ihn und Holmes zusammengebracht hat, worauf dieser erwidert: "Dann müssen Sie ihn studieren", was Watson in der Folge auch tut, mit grösster Aufmerksamkeit und auch immer mal wieder erstaunt, dass Holmes einerseits sehr viel weiss, doch andererseits keine Ahnung von Dingen hat, die Watson für grundlegend hält wie etwa, dass die Erde um die Sonne kreist, was Holmes hingegen vollkommen egal ist. "Sie sagen, wir bewegen uns um die Sonne. Wenn wir uns um den Mond bewegten, würde das für mich oder meine Arbeit nicht den geringsten Unterschied machen."

Holmes ist der Auffassung, dass das Aufnahmevermögen unseres Hirn begrenzt ist, weshalb wir denn auch gut überlegen sollten, welches Wissen uns dienlich ist und welches vollkommen unnütz ist. "Er sagte, er wolle kein Wissen erwerben, das keinen Bezug zu seinem Gegenstand aufweise. Deshalb war all das Wissen, das er besass, so beschaffen, dass es ihm nützlich war."

Zu vieles, ganz unterschiedliches Wissen, so der Autor, ist hinderlich. "Verlassen sie sich darauf, es kommt eine Zeit, in der Sie bei jedem Wissenszuwachs etwas vergessen, das Sie vorher wussten. Deshalb ist es von grösster Bedeutung, dass die nutzlosen Fakten nicht die nützlichen hinausdrängen." Ein überaus nützlicher Gedanke, besonders in der heutigen Zeit der Überflutung mit Informationen.

Holmes' Vorliebe gilt der Beobachtung und der Deduktion, die beide für einen beratenden Detektiv praktikabel sind. Und sie bringen ganz erstaunliche Resultate, wie dieses Buch eindrücklich demonstriert. Was Eine Studie in Scharlachrot zudem ausmacht, ist sein Humor, seine gepflegte Ausdrucksweise sowie eine überaus einleuchtende Demonstration von Watsons 'Das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch'.

Eine Leiche ist aufgefunden worden. Die Polizei bittet Holmes um Mithilfe. Er tippt auf Giftmord, stellt Vermutungen in Bezug auf den Täter an, wird an der Nase herumgeführt, grämt sich darüber jedoch nicht, sondern nimmt es mit Humor. Schliesslich klärt er den Fall auf.

Der zweite Teil der Geschichte führt zu den Mormonen in Utah und dem Gebaren ihrer autoritären Kirche. Das ist (in jeder Hinsicht) zwar arg weit hergeholt, doch spannend erzählt und überaus anregend zu lesen.

Diesem gut geschriebenen, interessanten und unterhaltsamen Band ist ein aufschlussreiches Nachwort von Jürgen Kaube beigegeben, worin er unter anderem darauf hinweist, dass der Augenarzt Conan Doyle der Auffassung huldigte, dem modernen chaotischen Leben sei am besten mit der Devise "Don't think. Observe" beizukommen. Zudem ist Holmes nicht in Motiven unterwegs ist und wird von der Überzeugung geleitet, "dass man fast nichts über die Menschen wissen muss, um ihnen auf die Spur zu kommen," Was im Übrigen, wie neuere Forschungen gezeigt haben, eine Parallele im Verhalten von kleinen Kindern hat, für die die kausale Verantwortung entscheidend ist; erst ältere Kindern und Erwachsene messen der Absicht Bedeutung zu.

Arthur Conan Doyle
Eine Studie in Scharlachrot
Reclam, Ditzingen 2025

Sunday, 26 October 2025

Wo das Eis niemals schmilzt

Ihre Forschung hat die Glaziologin Unni nach Kanada geführt. Warum sie Gletscherforscherin geworden sei?, fragt Jon, der Englisch mit einem skandinavischen Akzent spricht. "Ich will etwas erforschen, das vergeht", antwortete ich. "Warum?" "Weil so wenig Zeit ist. Wir müssen alle Informationen festhalten, die in den Gletschern stecken (...) Eines Tages, in einem kurzen Moment, wird das, was vom Gletscher übrig ist, ins Meer rauschen, und Hunderttausende Jahre Geschichte zerfallen in Moleküle. Wenn man sich das überlegt, kommt einem alles andere ziemlich bedeutungslos vor."

Zugegeben, darüber habe ich noch nie nachgedacht. Und merke jetzt, als ich das lese, das ich das hätte tun sollen, mir das gut getan hätte, weil es die Perspektive verändert, und mir diese neue Perspektive eine weit gesündere scheint als unsere vom Ego getriebene.

Wo das Eis niemals schmilzt handelt einerseits vom Klimawandel, dann aber auch von der Assimilationspolitik in Kanada und Finnland. Nicht zuletzt ist es eine berührende Geschichte ganz unterschiedlicher Beziehungen.

Unni stammt aus Finnland. Als sie noch ein Kind ist, trennen sich ihre Eltern. Der Vater bleibt in Lappland, die Mutter zieht mit der Tochter in ein Dorf bei Helsinki. Auf dem Heimweh von der Schule wird Unni regelmässig von zwei Mitschülern gequält. Sie spricht nicht darüber, lässt aber ihren Vater wissen, sie wolle zurück zu ihm.

Die Handlung springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her. Dass die Vergangenheit nicht vergangen, sondern in der Gegenwart präsent ist, wird hier sehr schön gezeigt.

Doch die Dinge ändern sich, alles ändert sich, andauernd. Das Moor ihrer Kindheit ist verschwunden und einer platten Ebene gewichen, des veränderten Klimas wegen. "Es kommen neue Arten", sagte mein Vater. "Aber wir gewöhnen uns an sie, wir gewöhnen uns an alles." 

Ihre Kindheit verbringt Unni abwechselnd bei ihrer Mutter im Süden und ihrem Vater im Norden, wo sie sich oft in der Natur aufhält, zu der sie einen starken Bezug entwickelt. Wie das Kind die Natur erlebt, ist ganz wunderbar geschildert. Man glaubt nachempfinden zu können, was die Kleine erfährt.

Jon ist ein Indigener aus dem Norden Kanadas, ein verschlossener Typ, dem "etwas schwer zu bestimmendes Trauerartiges" eignet. Er arbeitet im Krankenhaus, kommt auch als Rettungssanitäter zum Einsatz. Er ist adoptiert, sucht im Norden Kanadas nach seinem Vater. Dort trifft er auch auf Unni; Identitäts-Fragen beschäftigen ihn.

Es ist eine berührende Beziehungsgeschichte, die Inkerri Markkula hier erzählt. Nach ein paar Tagen der Leidenschaft, trennen sich Unnis und Jons Wege wieder. In Unnis Worten: "Alles war so schnell vorbei, bald sass ich schon im Flieger und dachte, die grössten Lieben sind die, die enden, bevor sie alltäglich werden." Als sie Jahre darauf nach ihm sucht, ist er zunächst  unauffindbar, doch dann ... 

Dieser Roman erzählt jedoch noch eine ganz andere Geschichte, eine der Naturschilderungen bzw. was für eine Kraft in der Natur liegt. "Wir öffneten das Fenster und liessen den Wind herein. Er stürzte sich auf uns und hätte uns beinahe umgeworfen, fuhr durch die Ecken und brachte Schneeflusen mit, die rotierend auf den Dielenboden schwebten (...) Der Schnee reichte bis zum Fensterrahmen, der Wind schleuderte mir Kristalle in die Augen, machte mich blind, warf mich wieder ins Zimmer." Wer von der ach so wohlwollenden Natur schwafelt, sollte dieses Buch lesen, damit er (oder sie) sich die Ehrfurcht vor den Naturgewalten bewahrt.

Aufschlussreich ist auch, wie die Menschen, die in diesen eisigen Zonen leben, mit Gletschern umgehen. "... dass man leise sein müsse, wenn man durch den Gletscher gehe, denn sonst könne der Gletscher böse werden und den Menschen zermalmen."

Wo das Eis niemals schmilzt ist überaus reich an hilfreichen Einsichten. "Jon ertrug weder Schmerz noch Tod und auch nicht, dass zum Beispiel die Natur, die nach dem Sturm zum Leben erwachte, gleich wieder starb." Man sollte bei solchen Sätzen innehalten, sie auf sich wirken lassen. Weil sie aufrichtig und ehrlich und wahr sind.

Wo das Eis niemals schmilzt gehört zu den seltenen Büchern, die uns dazu anleiten, uns mit der Natur auseinanderzusetzen, anstatt sie zu glorifizieren. Es gilt, sie als das zu nehmen, was sie ist: Unbegreiflich, majestätisch, Angst einflössend, sensationell schön, ein Wunder.

Fazit: Eine überaus lehrreiche, ungemein bereichernde Lektüre.

PS: Wie alle mare-Bücher, die ich kenne, ist auch dieses höchst ansprechend gestaltet: Lesefreundlicher Satzspiegel, Lesebändchen sowie ein Format, das bestens in der Hand liegt.

Inkeri Markkula
Wo das Eis niemals schmilzt
Mare Verlag, Hamburg 2025

Wednesday, 22 October 2025

Das hier ist nicht Miami

Genau so wenig wie Bilder Geschichten erzählen können, kann auch die Wirklichkeit keine Geschichten erzählen. Geschichten werden von der menschlichen Sprache, der Erinnerung erzählt, so Fernanda Melchor in der Vorbemerkung. "Doch die Sprache ist trügerisch (...) Diese Sammlung von Crónicas wurde in der Absicht geschrieben, Geschichten auf die ehrlichste Art zu erzählen, die ich für möglich halte – indem man die stets etwas ausweichende Natur der Sprache akzeptiert und sie sich für die eigene Sache zunutze macht."

Die Geschichten, die hier versammelt sind, sind also geprägt von einer subjektiven Erzählperspektive. "Ich weiss, dass die menschliche Subjektivität womöglich das dem Journalismus fernste Feld ist ...", schreibt die Autorin. Das mag für Mainstream Journalismus gelten, für den Qualitätsjournalismus, wie ich ihn verstehe, hingegen nicht. Man denke etwa an Hunter S. Thompson, James Agee oder Janet Malcolm.

Jedenfalls: Fernanda Melchor hat keine Angst vor Subjektivität. Und genau dies gibt ihren Geschichten, die sich allesamt im mexikanischen Veracruz ereignet haben, etwas universelles. Denn je subjektiver jemand von etwas berichtet, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass ein ganz anderer oder eine ganz andere ähnliche Empfindungen teilt.

Von UFOs und toten Polizisten berichtet sie. Und vom Warendiebstahl als Kunstform, den Gesetzen im Hafen, von ausgemergelten Dominikanern, die sich vor der Einwanderungsbehörde verstecken und glauben, in Miami zu sein. Fernanda Melchor lässt sich vom Schicksal dieser Gestrandeten berühren, weswegen sie es auch überaus eindrücklich versteht, deren Geschichten zu erzählen.

Von der Karnevalskönigin, die zur Mörderin ihrer Kinder wird, lesen wir. Und von Mel Gibson, für den ein Gefängnis leergeräumt wurde, damit er dort drehen kann. Und von einem Lynchmord und einem Teufelshaus. Und und und. Nicht wenige der Geschichten handeln vom Drogengeschäft.

In Das hier ist nicht Miami porträtiert Fernanda Melchor die mexikanische Hafenstadt Veracruz durch die Geschichten, die ihr von den Einwohnern erzählt worden sind. Ja, sie hat klassisch recherchiert, doch was sie erfahren hat, ist wesentlich ihrer Neugier sowie ihrer empathischen Grundhaltung geschuldet.

Wie jede gute Journalistin fragt sie nach, macht sie sich ihre eigenen Gedanken. Und gibt ihnen auch Ausdruck. Sie selber charakterisiert ihre Arbeiten als "Geschichten, die keine klar umrissenen Anekdote wiederzugeben versuchen, sondern den Effekt, den sie auf die Empfindungen derjenigen hatten, die sie erlebt haben."

Crónicas nennt Fernanda Melchor ihr Texte, die zeigen, dass Journalismus noch etwas anderes sein kann, als das, was wir tagtäglich in der Zeitung lesen (könnten). Engagiert, sachlich und mitfühlend.

Fernanda Melchor
Das hier ist nicht Miami
Wagenbach, Berlin 2025

Sunday, 19 October 2025

Godwin

Der charismatische Mark Wolfe („Alle kannten ihn als Wolfe, als wäre er ein Fernsehdetektiv.“), studierter Molekularbiologe, der bei der P4-Group als technischer Redakteur arbeitet, wird von seiner Chefin Lakesha zu einer Aussprache (Kunden hatten sich beschwert) in ein Café gebeten. Er taucht mit seinem Hund auf; seine Hundeerziehungsphilosophie sei, wie er erläuterte, von der benediktinischen Ordensregel inspiriert. „Ein zentraler Punkt dieser Philosophie, sagte er mir, besage, dass Hunde dann am zufriedensten seien, wenn sie keinerlei Zweifel an ihrem untergeordneten Verhältnis zu ihrem Besitzer hätten.“ Mit anderen Worten; Godwin ist ganz vieles – und ausgesprochen witzig.

Mark, ein hoch reflektierter, latent unzufriedener Mann, hat noch Freitage gut, die nimmt er jetzt. Gedanken über die stetig zunehmende Dummheit und das Ende des Menschen auf der Welt gehen ihm durch den Kopf – Godwin ist auch ein philosophischer Roman. Dann erreicht ihn ein Anruf seines Halbbruders Geoff, der seine Hilfe braucht und den er in der Folge in England aufsucht. Wie O'Neill diese Reise schildert, machte mich Tränen lachen, insbesondere Marks Ankunft in London, wo er von einem jungen Weissen abgeholt wird, der sich in einem „englischen Akzent oder Dialekt, den ich nicht verstehe“ äussert und „an jeder Ampel auf die Bremse steigt, als hätte er noch nie ein Rotlicht gesehen."

Geoff vermittelt Fussballer. Dabei ist er auch auf den jungen Afrikaner Godwin gestossen, einer fussballerischen Ausnahmeerscheinung. Geoff benötigt Marks Hilfe, um nicht ausgetrickst zu werden. Er habe selber auch schon einen Agenten ausgetrickst. „So laufe das nun mal in dieser Branche. Sie mache einen zu einem Menschen, der man eigentlich nicht sein wolle.“ Keine Frage, das beschreibt so recht eigentlich jede Branche.

Mark fährt für Geoff mit dem Zug nach Le Mans, um dort den französischen Fussballvermittler Jean-Luc Lefebvre aufzusuchen. Ihm wird zunehmend klar, dass sein Europa-Aufenthalt immer mehr ausser Kontrolle gerät. Seine Frau rät ihm telefonisch, zurückzufliegen. Er weiss zwar, dass er genau das tun sollte, doch glaubt er, seinem Impuls, die Flucht zu ergreifen, widerstehen zu müssen. „Ich habe in meinem Leben zu oft die Flucht ergriffen. Es hat mir nichts gebracht.“ Meisterhaft, wie Joseph O'Neill nachvollziehbar macht, wie wir unser ständiges Zögern rationalisieren. Es gehört zum Schicksal des Menschen, nicht zu tun, was er weiss, dass er zu tun hat.

Godwin handelt einerseits von Fussball und Spielergrössen wie Eusébio von Benfica Lissabon, modernen Umgangsformen und afrikanischen Fussballsitten, sowie andererseits von den Machtkämpfen bei der P4-Group, wo eine Frau namens Edil, deren Charakter es nicht zulässt, dass sie nicht im Mittelpunkt steht, die Atmosphäre vergiftet.

Dann taucht plötzlich Jean-Luc Lefebvre bei Mark in Pittsburgh auf – mit überraschenden Fakten. Dieser aussergewöhnlich begabte Geschichtenerzähler verbreitet sich nicht nur engagiert und ausführlich über die verschiedenen Aspekte des Fussballs, sondern auch über ganz vieles, überaus Instruktives aus Afrika (es ist dies auch die bei weitem nützlichste Afrika-Aufklärung, die ich kenne), Amerika und Europa zum besten gibt. „Theoretisch sah man Algerien und sah den Niger – aber in Wirklichkeit? Ein Gebiet ohne Menschen, ohne Strassen, ohne Wasser, ohne eine Vergangenheit oder Zukunft – konnte man ein solches Gebiet als Staat bezeichnen? Konnte der Mars ein Staat sein?“

Godwin ist ein überaus cleveres, spannend zu lesendes Porträt unserer Zeit, voller schlauer Einsichten, etwa zur Eitelkeit („Eitelkeit verweist auf Leere ...“), Reflexionen über das „Drama der Kontaktierbarkeit“, über den Unterschied von Mensch und Tier („Es ist die Fähigkeit zur Böswilligkeit, die den Menschen vom Tier scheidet.“) sowie Erkenntnissen fundamentaler Natur. „Das menschliche Leben, erzählt er uns, bestehe nicht nur aus untadeligem Verhalten, Verhalten, das erwartet werde. Die grossen Preise fielen nicht denen zu, die sich gemäss den Erwartungen verhielten.“

Praktisch auf jeder Seite gewinnt man nützliche Einsichten („Die Idee ist gut“, sagte ich. „Aber Ideen werden überbewertet. Du hast die Arbeit gemacht.“), die davon zeugen, dass da ein Autor am Werk ist, der zu denken versteht, und deshalb zu Schlüssen kommt, die von praktischer Relevanz sind. „Annie hatte begriffen, dass die Einzelheiten fast nie das eigentliche Problem sind. Das Problem ist vielmehr eine bestimmte Persönlichkeit – der unausgeglichene Mensch, der davon überzeugt ist, dass er unter ungerechten, aber stets verborgenen Mächten zu leiden hat.“

Es versteht sich: Unsere Lektüre ist von unserer Erwartungshaltung beeinflusst. Meine lässt sich so charakterisieren: Ich möchte unterhalten werden, Einsichten gewinnen und auf Gedanken stossen, die ich als hilfreich empfinde. Godwin hat diese Erwartungen nicht nur erfüllt, sondern übertroffen.

Fazit: Grossartig, ein wesentliches Buch! Packend, smart, witzig und weise.

Joseph O'Neill
Godwin
Roman
Rowohlt, Hamburg 2024

Wednesday, 15 October 2025

Der Augenblick & die Fotografie

 Vom Augenblick wissen wir, dass er nicht zu fassen ist, denn er steht ausserhalb der Zeit, zu deren Eigenheiten die Dauer gehört. Albert Einstein war gemäss dem Philosophen Rudolf Carnap offenbar der Ansicht, „es gebe etwas Wesentliches bezüglich des Jetzt, das schlicht ausserhalb des Bereichs der Wissenschaft liege.“ Das liegt daran, dass die Wissenschaft sich am Messen bzw. am Zählen orientiert, von dem Einstein einmal gesagt hat: Nicht alles, was zähle, könne auch gezählt werden, und nicht alles, was gezählt werden könne, zähle auch etwas.

Claude Simon, Nobelpreis für Literatur 1985, macht darauf aufmerksam, dass der Fotographie „eine ziemlich seltsame Macht“ eigne, die ihn immer wieder in Erstaunen setze. „Es ist die Macht, festzuhalten und zu speichern, was unser Gedächtnis selbst zu behalten ausserstande ist, nämlich das Bild von etwas, das nur in einem winzigen Bruchteil der Zeit stattgefunden und existiert hat.“

Dieses Bild habe ich am 22. November 2020 in Château-d’Oex aufgenommen; möglich war dieses Foto nur in einem einzigen Augenblick, dem Moment der Aufnahme, niemals vorher und niemals nachher hat diese Szene genauso ausgesehen.

Fotografie wird oft mit dem Anhalten der Zeit in Verbindung gebracht, doch so recht eigentlich ist das falsch, denn der Augenblick ist keine Kategorie der Zeit, entzieht sich einem Vorher und Nachher. Die Fotografie hält fest, was das Gedächtnis nicht festhalten kann.

Betrachte ich jedoch diese Aufnahme, stellt sich automatisch die Zeit ein, denn ich sehe nicht nur diesen Augenblick, sondern noch ganz viele andere Bilder, die mich an den damaligen Aufenthalt erinnern. Dazu kommen noch ganz ganz viele weitere Bilder, die mit meinem damaligen Aufenthalt überhaupt nichts zu tun haben. Mein Hirn macht eben, was es will; es ist ausgesprochen selbstständig unterwegs und an meinen Hoffnungen und Wünschen offenbar wenig interessiert.

Sunday, 12 October 2025

On Travelling

 I'm not anymore interested in what "my" culture or any other culture is telling me about what is important or what is not. In regards to travelling that means that I'm not doing the sights, I simply expose myself to where I find myself. Very much like a child whose experience of what surrounds it is not yet constrained by knowledge.

However, to try to free myself from lifelong conditionings is far from easy. For instance, to stay indoors when it is sunny outside is difficult to do for the imperative that one should go out in such weather and enjoy it is incredibly strong. 

I'm not making myself knowledgeable for my trips. Before I arrived in Osaka, I had, for instance, not heard of Himeji and its castle, contrary to the many tourists who came specifically to visit the castle.

I prefer to venture into side streets that radiate a calm that is magical. I walk around and take pictures, mostly of flowers. Why I'm registering what I register I do not know. And, as far as I'm concerned, there is no need to know it.

Himeji, Japan, 5 October 2025

Nevertheless, I'm quite automatically drawing comparisons. When walking through the side streets of Osaka and Himeji I'm often reminded of Bangkok. Needless to say my mind has its own ways. 

The emotions and feelings that I'm aware of are the usual mix of joy, sadness and indifference. Although I've largely given up to try to make sense of it, I'm not as successful in this endeavour as I would like to be.

Wednesday, 8 October 2025

The Tottori Sand Dunes

I had read that the Tottori sand dunes extended 16 kilometers and so I imagined what I had experienced in Brazil's North East: Strolling along for hours pretty much by myself. Well, not exactly. Tourist destinations in Asia are rarely a solitary affair. The bus to the dunes was packed with Asians. Probably all Chinese, I joked to the French couple that I had started talking to at the bus station.

Like almost always when travellers meet, they spoke of all the other places they had visited. South Korea, for instance, that they deemed, very much to my surprise, more modern, more advanced than Japan, for my picture of South Korea was that of Japanese friends for whom South Korea was simply a cheaper version of Japan. Also, a young Spanish couple came to mind who had observed that while in Japan hardly anybody speaks English, in South Korea nobody speaks English. 

The elderly French couple says that in Japan they were never spoken to, in Korea however they were always asked lots of questions. My own Japanese experience is completely different. I particularly remember two curious female students, one studied Chinese culture, the other globalisation.
It doesn't cease to baffle me how the mind works, or, more precisely, how "my" mind works for when the bus came to a halt in front of a souvenir shop I automatically felt reminded of my first visit to Japan six years ago when I had penned the following: "When in Oami, I learned that the famous 99-mile-beach was a 30-minute bus ride from the station and that there was also a hotel. I imagined a ride through vast fields to a lonely old hotel sitting on a cliff ... well, it was a ride through a stretch of suburbs and the hotel turned out to be a huge complex that seemed to cater to a variety of Japanese entertainment and shopping needs. My own shopping? Sushi and leechee juice, every day." Needless to say, our expectations are much more in control of our lifes than we imagine.
There was also a sand museum and I briefly wondered what it would exhibit and assumed it would be the usual display of information about how it once was, what it became, and how the future will probably look like. I find the human inclination to hold on to the past increasingly strange for it seems to hinder us to experience what we are experiencing: to be here and there and everywhere very much at the same time.