Nachdem Watson im Jahre 1878 an der University of London seinen Abschluss in Medizin machte, war der Zweite Afghanische Krieg ausgebrochen, von dem er verwundet und bei schlechter Gesundheit nach London zurückkehrte, wo er auf der Suche nach einer Wohnung auch mit Sherlock Homes Bekanntschaft machte. Um zu sehen, ob sie sich eine Wohnung teilen könnten, unterziehen sie sich einem gegenseitige Kreuzverhör, das dermassen amüsant und aufschlussreich geschildert wird, dass es eine wahre Freude ist.
"'Das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch', wie Sie wissen", sagt Watson zu dem Assistenzarzt, der ihn und Holmes zusammengebracht hat, worauf dieser erwidert: "Dann müssen Sie ihn studieren", was Watson in der Folge auch tut, mit grösster Aufmerksamkeit und auch immer mal wieder erstaunt, dass Holmes einerseits sehr viel weiss, doch andererseits keine Ahnung von Dingen hat, die Watson für grundlegend hält wie etwa, dass die Erde um die Sonne kreist, was Holmes hingegen vollkommen egal ist. "Sie sagen, wir bewegen uns um die Sonne. Wenn wir uns um den Mond bewegten, würde das für mich oder meine Arbeit nicht den geringsten Unterschied machen."
Holmes ist der Auffassung, dass das Aufnahmevermögen unseres Hirn begrenzt ist, weshalb wir denn auch gut überlegen sollten, welches Wissen uns dienlich ist und welches vollkommen unnütz ist. "Er sagte, er wolle kein Wissen erwerben, das keinen Bezug zu seinem Gegenstand aufweise. Deshalb war all das Wissen, das er besass, so beschaffen, dass es ihm nützlich war."
Zu vieles, ganz unterschiedliches Wissen, so der Autor, ist hinderlich. "Verlassen sie sich darauf, es kommt eine Zeit, in der Sie bei jedem Wissenszuwachs etwas vergessen, das Sie vorher wussten. Deshalb ist es von grösster Bedeutung, dass die nutzlosen Fakten nicht die nützlichen hinausdrängen." Ein überaus nützlicher Gedanke, besonders in der heutigen Zeit der Überflutung mit Informationen.
Holmes' Vorliebe gilt der Beobachtung und der Deduktion, die beide für einen beratenden Detektiv praktikabel sind. Und sie bringen ganz erstaunliche Resultate, wie dieses Buch eindrücklich demonstriert. Was Eine Studie in Scharlachrot zudem ausmacht, ist sein Humor, seine gepflegte Ausdrucksweise sowie eine überaus einleuchtende Demonstration von Watsons 'Das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch'.
Eine Leiche ist aufgefunden worden. Die Polizei bittet Holmes um Mithilfe. Er tippt auf Giftmord, stellt Vermutungen in Bezug auf den Täter an, wird an der Nase herumgeführt, grämt sich darüber jedoch nicht, sondern nimmt es mit Humor. Schliesslich klärt er den Fall auf.
Der zweite Teil der Geschichte führt zu den Mormonen in Utah und dem Gebaren ihrer autoritären Kirche. Das ist (in jeder Hinsicht) zwar arg weit hergeholt, doch spannend erzählt und überaus anregend zu lesen.
Diesem gut geschriebenen, interessanten und unterhaltsamen Band ist ein aufschlussreiches Nachwort von Jürgen Kaube beigegeben, worin er unter anderem darauf hinweist, dass der Augenarzt Conan Doyle der Auffassung huldigte, dem modernen chaotischen Leben sei am besten mit der Devise "Don't think. Observe" beizukommen. Zudem ist Holmes nicht in Motiven unterwegs und wird von der Überzeugung geleitet, "dass man fast nichts über die Menschen wissen muss, um ihnen auf die Spur zu kommen," Was im Übrigen, wie neuere Forschungen gezeigt haben, eine Parallele im Verhalten von kleinen Kindern hat, für die die kausale Verantwortung entscheidend ist; erst ältere Kindern und Erwachsene messen der Absicht Bedeutung zu.
Arthur Conan Doyle
Eine Studie in Scharlachrot
Reclam, Ditzingen 2025


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