Sunday, 9 March 2025

Das tägliche Gegengift

Herbert Riehl-Heyse hat mehr als drei Jahrzehnte für die Süddeutsche Zeitung das politische und gesellschaftliche Leben in Deutschland beschrieben. Der hier vorliegende, schön gestaltete, von Gernot Sittner herausgegebene Band, versammelt Reportagen und Essays, die in Buchform aufzubewahren sich lohnt.

Sicher, Journalisten schreiben für den Tag, doch gelegentlich weist das für die Tageszeitung Verfasste eben auch über diesen Tag hinaus. Wäre ja auch etwas eigenartig, wenn dem nicht so wäre, denn Kriterium für gutes, unterhaltendes und aufklärendes Schreiben (ob mit Blick auf die Ewigkeit oder auf den folgenden Tag verfasst) kann doch eigentlich nur sein, dass eben dieses Schreiben gut, unterhaltend und aufklärend ist. Und Herbert Riehl-Heyses Schreiben ist dies ganz gewiss.

Die Auswahl, die Gernot Sittner für diesen Band getroffen hat, macht unter anderem deutlich, was für ein breit interessierter Mensch der gelernte Jurist Riehl-Heyse gewesen ist. Da geht es nämlich von Willy Brandt („fast zu viele Stationen für ein Leben“) über ein „Puzzle namens Schmidt“ zur Wohlstandskriminalität („Zugreifen als Breitensport“), von Accessoires in der Jugendkultur („Die Rasierklinge als Bekenntnis“) über Erich Honeckers Verteidigungsrede vor seinen Richtern in Moabit („Gegeben wird der heldenhafte Kommunist“) zum Tatort Fernsehen („Morden auf allen Kanälen“).

Was Herbert Riehl-Heyses Schreiben wesentlich auszeichnet, ist sein Stil – und der ist scheinbar umständlich, fragend, gescheit, witzig, und häufig ironisch. Dazu kommt, dass der Autor in seinen Texten auch selber vorkommt und das ist nicht nur gut so, sondern das ist, wenn man es recht bedenkt, eine der überzeugendsten Formen von Journalismus, denn der Autor macht damit unter anderem deutlich, dass die persönliche, subjektive Seite der Berichterstattung offen gelegt werden soll. Doch ist dieses Sich-Selber-Ins-Spiel-Bringen, wie das Riehl-Heyse gelegentlich vorgeworfen wurde, nicht vor allem eitel? Sicher, eitel ist das auch, doch Eitelkeit ist bei Journalisten (und bei vielen anderen) eine Berufsvoraussetzung und kein Argument. Zudem war Herbert Riehl-Heyse, gemessen an vielen seiner Kollegen, ungewöhnlich zweifelnd und selbstkritisch und wusste sich zurück zu nehmen.

Doch nehmen wir ein Beispiel und zwar „Das verlorene Rezept der Sterneköche“, ein Text von Ende Dezember 1995, der von der Spitzengastronomie in der Krise (so der Untertitel) handelt, doch eben, wie wir gleich sehen werden, nicht nur von dieser, sondern von weit mehr, nämlich vom Leben insgesamt und wie darin alles irgendwie miteinander verknüpft ist. Der Text beginnt so:

„Ohnehin ist die Stimmung nicht übertrieben gut an diesem trüben Wintertag – nicht draussen, wo dem Unbehausten der Nebel unter den Burberry kriecht, und auch drinnen nicht, im altehrwürdigen „Schwarzwälder“, wo in düsteren Räumen 21 Gäste bei Hummercremesuppe und Entenfleischpflanzerl ein wenig verloren wirken. Nebenan im Bistro des Restaurants ist es voller, es wäre dort sogar ziemlich gemütlich – wenn nicht plötzlich der Chef am Tisch stünde, fahl im Gesicht: Ob wir es schon gehört hätten? Wir erschrecken beachtlich: Ist ein Flugzeug abgestürzt, gar Moshammer verblichen? Viel schlimmer: „Der Winkler hat seinen dritten Stern verloren.“ Bedrücktes Schweigen, Otto Koch spendiert ein tröstendes Pils.

Man könnte die Anekdote natürlich auch ganz anders erzählen, ohne jede Ironie, ganz nüchtern. Dann bräuchte man nur kurz zu berichten, dass dem Gastronomen und Koch Heinz Winkler und seinem Etablissement „Residenz“ in Aschau am Chiemsee der dritte Stern im Michelin-Führer aberkannt worden ist, jener Stern, mit dessen Hilfe es zu einem der drei Spitzenrestaurants in Deutschland ausgerufen worden war. Damit könnte man es denn bewenden lassen, weil eine solche Nachricht nun wirklich nur eine der allerkleinsten Katastrophen ist in einer manchmal katastrophalen Welt. Einerseits.

Andererseits – was einer als Katastrophe empfindet, ist vor allem seine Sache und eine Sache der Welt, in der er lebt: In der sehr kleinen Welt der Kochkunst gilt es ja schon als Katastrophe, wenn ein Gast zur Seezunge mit Champagnersauce ein Bier bestellt.“

Na, neugierig geworden? Soviel sei zum Fortgang dieser Geschichte verraten: dieser Text handelt nicht nur von Köchen und Küchen, sondern auch davon, wie in der kulinarischen Provinz Deutschland eine neue Zeit anbrach, und davon, dass man gleichwohl mit ökonomischen Problemen zu tun hat, auch wenn man einem Paar für Essen und Trinken 600 Mark berechnet und und und. Doch vor allem handelt dieser Text …, doch wir lassen dies am besten Riehl-Heyse selber sagen: „Wer erzählen will, was da in einer sehr überschaubaren Szene passiert, erzählt gleichzeitig auch ein wenig vom Lauf der Zeit insgesamt: davon, was sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten entwickelt hat in der Republik und was sich gerade wieder zurückentwickelt und was daran sinnvoll sein könnte, und was nicht.“ Dies gilt nicht nur für diesen Text, es gilt für seine Text generell.

Herbert Riehl-Heyse hat einmal gesagt, es gehe ihm darum, den Leuten (und vermutlich auch sich selber) zu erklären, wie es auf der Welt zugehe. Dass ihm dies ganz hervorragend gelungen ist, zeigt das vorliegende Buch eindrücklich.

Herbert Riehl-Heyse
Das tägliche Gegengift
Reportagen und Essays 1972-2003
Süddeutsche Zeitung Edition, München 2008

Wednesday, 5 March 2025

Typisch China?

 

Damit es gleich gesagt ist: Zwei der in diesem schmalen Band versammelten vier "Essays in global vergleichender Kulturgeschichte" sind bereits in anderen Verlagen erschienen und zwar noch gar nicht so lange zurückliegend: 'Komplexe Kulturen' in 2006 (Bautz), 'China - eine altsäkulare Zivilisation' in 2008 (Romero Haus). Die Texte über 'Chinesisches in europäischen Alphabetschriften' und 'Die Schweiz - ein Studienobjekt interkultureller Politologie' sind in dieser Form noch nicht publiziert worden.

Es sei an der Zeit, über einfache Zweiteilungen wie Osten und Westen, Christentum und Islam, Europa und China hinauszukommen, liest man in der Einleitung. Unterstrichen wird dies mit einem sehr schönen Zitat von Hermann Hesse, der im Dezember 1921 in der NZZ schrieb: "… wir sehen im alten China Hinweisungen auf eine Denkart, welche wir allzusehr vernachlässigt haben; wir sehen dort Kräfte gepflegt und erkannt, um welche wir uns, mit anderem beschäftigt, allzu lange nicht mehr gekümmert haben."

Man müsse sich vor den grossen Vereinfachern hüten, schreibt Holenstein, der selber keiner ist, sondern ein differenziert argumentierender Intellektueller, der sich wohlformuliert und verständlich auszudrücken versteht. Das liest sich dann zum Beispiel so: "Zu keiner Zeit waren die konventionellen Grenzen Europas auf der ganzen Linie zugleich klimatische, ethnische, staatliche, ökonomische, sprachliche, religiöse oder Mentalitätsgrenzen. Selbiges gilt für Südasien (Indien), das von der übrigen asiatischen Landmasse geographisch deutlicher abgegrenzt ist als Europa. Erst recht gilt dies für das "Mittelland" Zhongguo (China) mit seiner unbeständigen Ausdehnung, seinen Aufspaltungen, Sezessionen und Fremdherrschaften, mit seinen freiwilligen und unfreiwilligen Tributstaaten und mehr oder weniger sinisierten, abwechselnd sinophilen und sinophoben Nachbarregionen. Im gleichen Klima gedeihen Raub- und Beutetiere und spalten sich die Menschen in Kriegsbefürworter und Kriegsgegner. Sprecher der gleichen Sprache gehören verschiedenen Religionen an. Anhänger der gleichen Religion pflegen eine unterschiedliche Philosophie, eine rationalistische die einen, eine mystische die anderen. Im gleichen industrialisierten Staat gibt es Kapitalisten und Sozialisten."

Wie kommt das? Warum sind kulturelle Traditionen nicht wirklich homogen? Holenstein lesen, kann man da nur sagen. Gescheite Überlegungen dazu finden sich im Essay 'Komplexe Kulturen'. In 'China - eine altsäkulare Zivilisation' wird dargelegt, dass in China die Trennung von Religion und Moral (die der Autor gewichtiger für eine säkuläre Gesellschaft hält als die formelle Trennung von Kirche und Staat) eine Selbstverständlichkeit ist, und zwar seit bereits zweieinhalbtausend Jahren (am Rande: unter Tausenden von Jahren geht in China gar nichts: jeder Besucher des Landes wird innert kürzester Zeit darauf hingewiesen, dass es sich bei der chinesischen um eine 5'000jährige Kultur handelt). Bemerkenswert ist übrigens, dass diese Trennung kulturkampflos erworben wurde.

Im Essay "Chinesisches in europäischen Alphabetschriften: Ein Versuch in vergleichender Schriftgeschichte" wird im Teil über 'Terminologische Vorabklärungen' darauf hingewiesen, dass wer "über elementare sprachwissenschaftliche und/oder schriftgeschichtliche Kenntnisse" verfüge, diesen Abschnitt "selbstverständlich überspringen" könne. Anders gesagt: der Text setzt ein ziemlich ausgeprägtes einschlägiges Interesse voraus.

Das gilt auch für den vierten und letzten Essay, der sich jedoch nicht mit sprachwissenschaftlichen und schriftgeschichtlichen sondern mit juristischen Fragen auseinandersetzt. Auch hier findet man wieder den Hinweis, dass sich die Kulturen gar nicht so unterscheiden, sondern dass man in der Regel in der einen Kultur etwas in den Vordergrund rückt, was in der anderen im Hintergrund bleibt. So sind zum Beispiel informelle Konfliktlösungen, die in Japan und China prominent vertreten sind, auch der Schweiz nicht fremd (Deutschland hingegen schon, möchte man da sofort beifügen). Worum es dem Autor ganz zentral geht, drückt er im letzten Absatz dieses Essays so aus: "Ein Netzt von typologischen Gemeinsamkeiten kreuz und quer über politische Grenzen, geschichtliche Entwicklungsläufe und geographische Entfernungen hinweg bietet Leitfäden an, denen folgend die politologische Verständigung und die politische Zusammenarbeit eine vielförmige Gestalt gewinnen können."

Noch dies: die offensichtlichen Sympathien, die Holenstein China entgegen bringt, treiben manchmal auch etwas eigenartige Blüten. Als der Dalai Lama im Jahre 2005, anlässlich der Jahrestagung der Society of Neuroscience in Washington D.C., zu einem Vortrag eingeladen wurde, protestierten 500 Neurowissenschaftler, die vorwiegend chinesischer Abstammung und in den USA tätig waren. In Erwägung ziehen könnte man, meint Holenstein, dass der Protest nicht nur, wie die Presse unterstellte, aus Willfährigkeit gegenüber der chinesischen Regierung erfolgte, sondern "auch damit zu tun haben könnte, dass in China in der Vergangenheit die Kritik an der buddhaitischen Religion immer wieder mit dem Obskurantismus und Zelotentum begründet wurde, denen gegenüber buddhaitische Mönche wie Anhänger auch aller anderen grossen Religionen nicht immer immun waren. Religiöses Schwärmertum und von charismatischen Religionslehrern genährte Unruhen sind im allgemeinen Geschichtsbewusstsein in China präsent geblieben und werden von einem Teil der Regierenden gezielt präsent gehalten. Entsprechend ist keineswegs bloss die Regierung möglichen Anfängen in die Richtung überempfindlich auf der Hut." Dass kann schon sein, doch ohne dass dem Leser der Wortlaut dieses Protestes mitgeteilt wird, bleibt dies eine ziemlich obskure Behauptung.

Elmar Holenstein
China ist nicht ganz anders
Essays
Ammann Verlag, Zürich 2009

Sunday, 2 March 2025

Globalisierung

Ich definiere Globalisierung als die Freiheit meines Konzerns, zu investieren, wo er will und wie lange er will, um zu produzieren, was er will, einzukaufen und zu verkaufen, wo er will, wobei er sich so wenig wie möglich durch arbeitsrechtliche Vorschriften und soziale Konventionen in seiner Geschäftstätigkeit einschränken lässt.

Percy Barnevik, ehemaliger Vorstandschef von ABB
zitiert in: Bernard Minier: Schwarzer Schmetterling