Ich gehe Fotos und Fotobücher voreingenommen an. Für Werner Bischof empfinde ich Sympathie. Das hat wesentlich mit einem Japan-Bild von ihm zu tun, das Mönche im Winter vor einem Kloster zeigt und das zu den mich prägendsten Fotos überhaupt gehört. Das liegt vermutlich daran (woran es wirklich liegt, vermag ich nicht zu sagen, mein Unbewusstes ist, wie das Wort sagt, unbewusst), dass mich Klöster als Orte, wo man sich in meiner Vorstellung aufs Wesentliche konzentriert, sehr ansprechen und auch daran, dass mich buddhistische Mönche seit jeher ganz besonders fasziniert haben.
Neben Japan verbinde ich mit Werner Bischof auch Indochina und Peru. Sowie ausschliesslich Aufnahmen in schwarz/weiss. Und genau aus diesen Gründen lohnt sich der vorliegende Band für mich ganz besonders, finde ich doch darin viele mir unbekannte (und auch farbige) Aufnahmen, die mein Bischof-Bild erweitern und mich gelegentlich überraschen, das Bild vom Mailänder Domplatz etwa. Andere hingegen, zum Beispiel das der Frauen auf den Geleisen, finde ich schon fast klassisch-typisch Bischof, obwohl ich mir nach Durchsicht dieses Bandes gar nicht mehr so sicher bin, ob es das von mir imaginierte klassisch-typische Bischof-Bild überhaupt gibt.
Werner Bischof, Piazza del Duomo, Mailand, Oktober 1946.
© 2016 Werner Bischof / Magnum Photos
"Werner Bischofs Nachlass ist von einer grossen Vielfalt geprägt. Neben seinem fotografischen Werk sind da Tagebücher, Skizzen, Vorträge wie auch eine umfangreiche Korrespondenz mit seinen Eltern, mit seiner Frau Rosellina, seinen Freunden und natürlich den frühen Mitgliedern von Magnum Photos. Seine Auseinandersetzung mit der Welt, die Werner Bischof als Fotograf, als Künstler, als Mensch mit all seinen Widersprüchen führt, teilt er offen und schonungslos mit ihnen." So leiten Marco Bischof und Tania Samara Kuhn diesen höchst beeindruckenden Band ein, dem auch ein Essay von Fred Ritchin sowie ein Gespräch zwischen Kristen Lubben und Marco Bischof beigegeben ist. Aus letzterem geht unter anderem hervor, dass es dem Fotojournalisten (der er im wahrsten Sinne des Wortes war) Bischof wichtig war, die Kontrolle darüber zu behalten, wie seine Bilder und Geschichten publiziert wurden. Dass das nicht immer gelang, damit hatte er Mühe.
Es finden sich in diesem Band Aufnahmen aus Europa (1945-1947), Asien (1951-1952) sowie Nord- und Lateinamerika (1953-1954). Ihnen allen, so scheint mir, ist gemeinsam, dass sie von einem mitfühlenden Menschen gemacht worden sind. Das kann man spüren.
Werner Bischof, Barau, Indochina, August 1952.
© 2016 Werner Bischof / Magnum Photos
Was mir diesen Band so wertvoll macht, ist die Tatsache, dass Werner Bischofs Auseinandersetzung mit der Welt nachvollziehbar gemacht wird. Was meine ich damit? Mir werden nicht einfach ästhetische gelungene Aufnahmen gezeigt, sondern ebenso Skizzen, Kontaktabzüge, Briefe sowie Tagebucheinträge. Und dies erlaubt mir, das zu versuchen, worum sich Bischof in Japan bemüht hat: "Ich versuche, mich in die japanische Seele einzuleben und von innen heraus die Verhältnisse zu verstehen." Doch ist das eigentlich möglich, Japan oder Bischof von innen heraus zu verstehen? Ich denke nicht, halte diesen Anspruch für zu hoch (es zu versuchen, lohnt sich trotzdem), doch machen es die vielen unterschiedlichen Dokumente möglich, einen empfindsamen, engagierten, reflektierten, selbstkritischen und kreativen Mann kennen zu lernen.
Am allermeisten angesprochen haben mich die Bild/Text-Kombinationen, denn dass sich Bild und Text aussagekräftig ergänzen, ist im heutigen Fotojournalismus (ich bin nicht einmal sicher, ob es den überhaupt noch gibt) ausgesprochen rar. So lautet etwa der Text zu einer Aufnahme von drei kleinen Kindern vor einer Hauswand, auf der steht "NO ALLA GUERRA", neben einer offenen Haustüre in Genua, Oktober/November 1946: "Hotel Columbia, – das Beste am Platz. Ich schlafe behütet in einem weichen, sauberen Bett, zufrieden körperlich, aber der Geist ist unstet. Unter mir die dreckigen Häuser, voll Not und Elend. Genügt es, zu sagen, es war immer so? Können wir uns zufrieden geben mit der eigenen Zufriedenheit?"
Werner Bischof, USA 1953/54.
© 2016 Werner Bischof / Magnum Photos
Bei vielen der gezeigten Fotos ist mir instinktiv klar, dass der Mann, der sie gemacht hat, ein humanistisch gesinnter Mensch sein musste. Was ich dann in diesem Band über ihn erfuhr, bestätigte diesen Eindruck nicht nur, sondern ergänzte und erweiterte mein Bischof-Bild. Wie jeder wirklich bedeutende Fotograf war er nicht einfach ein begabter visueller Gestalter, sondern einer, der sich mit den Grundfragen des Lebens (und damit auch der Gerechtigkeit) auseinandersetzte. "Er besuchte regelmässig Vorlesungen von Philosophen und Wissenschaftlern, die sich mit den grossen existenziellen Fragen befassten."
Ein singuläres und höchst berührendes Buch!
Werner Bischof
Standpunkt
Scheidegger & Spiess, Zürich 2016