Als biografischer Roman wird Der Wanderfotograf, der von Roberto Donetta erzählt, der im Bleniotal als Samenhändler und Fotograf gelebt hat, bezeichnet. Da Autor Mario Casella nicht erklärt, was er unter einem biografischen Roman versteht, kann man nur raten. Anhand der zur Verfügung stehenden Quellen, so stelle ich mir vor, versucht sich der Biograf in einen Mann hinein zu versetzen, den er nicht persönlich kannte. Dass das nicht unproblematisch ist, weiss er, deshalb nennt er es auch einen Roman. Dass dabei auch ganz viel Projektion vorkommt, versteht sich, ist allerdings kein Argument gegen ein solches Vorhaben, denn so verschieden sind Menschen, die sich einer Sache mit Haut und Haar verschrieben haben, nun einmal nicht.
Das Leben einer Person zu schildern, bedeutet immer auch sein Umfeld und seine Zeit mit einzubeziehen, Die damalige Schweiz hatte mit der heutigen wenig gemein. Da es im Bleniotal nur wenig, dafür harte und schlecht bezahlte Arbeit gab, verdingte sich Roberto zusammen mit anderen aus dem Tal als Marroni-Verkäufer in Italien bis dann die Russische Grippe diese Arbeit unmöglich machte. Einige Jahre später wütete dann die Spanische Grippe.
Der Wanderfotograf nimmt seinen Anfang 1886, als der damals 21jährige Roberto Donetta mittels Worten "die Augenblicke des Glücks und die Augenblicke der Not, von denen alle Tage gefüllt sind, festhält.", denn "Vergangenheit und Gegenwart wollte er nicht wie das Wasser des Flusses Brenno dahingleiten lassen, ohne zu wissen, wohin." Das ist auch, worum es vielen Fotografen geht: den Fluss der Zeit anhalten, zum Stillstand bringen, dem Moment Bedeutung geben.
Für Saulle, den jüngsten Sohn Donettas, war das Fotografieren des Vaters die reinste Zauberei. Und so recht eigentlich ist sie das bis heute, auch weil das, was man durch den Sucher sieht, und das fertige Bild, nie genau dasselbe ist. Zudem geben Fotografien uns die Möglichkeit, uns selber so zu sehen, wie uns andere sehen.
Mein Interesse an diesem Buch gilt der Fotografie, doch lässt sich diese (jedenfalls für mich) nicht separiert von der Persönlichkeit des Fotografen betrachten, und diese nicht losgelöst von seinen Lebensumständen. Das Denken und Sehen wird informiert durch den Charakter und die Art und Weise, wie man lebt. Das karge Leben der Familie Donetta führte dazu, dass seine Frau ihn zusammen mit den Kindern verliess, nur der Jüngste blieb bei ihm zurück.
Roberto Donetta eignete offenbar ein recht schwieriges, einzelgängerisches Wesen. Stur, aufbrausend und rechthaberisch scheint er das Leben als emotionale Achterbahn erlebt zu haben; gleichzeitig war er ein eigenständiger Denker. "Das Leben. Es ist ein Traum, eine Seifenblase, eine Glasscherbe, ein Eisblock, eine Blume, ein Märchen; es ist Heu, Schatten, Asche, es ist ein Punkt, eine Stimme, ein Klang, ein Lufthauch, ein Nichts."
Das Fotografieren zu jener Zeit war eine umständliche und zeitaufwendige Angelegenheit, die von den Abgebildeten viel Geduld verlangte. Donetta bediente sich einer Plattenkamera, mit der er durch das ganze Tal zog. Und er hatte klare Vorstellungen darüber, wie er seine Fotos haben wollte. Die Aufnahmen, die er machte, waren inszeniert; er war Regisseur und Arrangeur in einem. Er bestimmte, was die Fotos zeigen sollten. Umso verwunderlich ist es, dass sie heute als Zeitdokumente gelesen werden.
Der Wanderfotograf enthält auch einige von Donettas Fotos, in verblüffender Qualität. Im Text erfahren wir zudem, wie das, was wir vor Augen haben, entstanden ist. Das ist eher selten und lohnt allein die Lektüre dieses ansprechend gestalteten und aufschlussreichen Buches.
Mario Casella
Der Wanderfotograf
Biografischer Roman
Atlantis Verlag, Zürich 2023