Wednesday, 29 May 2019

Miguel Rio Branco: Maldicidade

 
"Es geht darum ... unseren Blick mit Lichtsplittern zu öffnen, die Sehnsucht des Anderen im eigenen Auge gespiegelt zu sehen, mit dem Fokus zu streicheln, durch das Loch der Seele zu schauen, kritische Fotos zu schiessen, wegzugehen, Schmerz zu lindern, das Grausame einzuhegen, die Trockenheit des Hinterlandes einzuatmen, aus der Kamera einen Rennwagen machen (...) Seelen im Nichts zu befestigen, die Archäologie des Imaginären zu leugnen, Vergessen in die Dokumente zu bringen, sich an die Unmöglichkeit des Vergessens zu erinnern, die Revolte zu verkörpern, das Fleisch zu entblössen, in lebendiges Fleisch zu schneiden, die schwarze Sonne zu erleuchten, das Sichtbare im Untergehen zu lieben, auszuwählen, das Leben zu leben, das für diese Fotografie notwendig ist, den Fotofeind zu beruhigen, den Sonnenphobiker heimzusuchen, das Auge hungern zu lassen und den Rausch des Sehens zu erschliessen, denn wir fotografieren aus der Not heraus."

So liest sich der Anfang und der Schluss des Textes von Paulo Herkenhoff, der im Juli 2006 geschrieben wurde unter Mitwirkung von Oswald de Andrade, Roland Barthes, Pierre Bourdieu, Victor Burgin, Camilo Castelo Branco, Lygia Clark, Vilém Flusser, Ferreira Gullar, Rosalind Krauss, Clarice Lispector, Arlindo Machado, João Cabral de Melo Neto, Christan Metz, Hélio Oiticia, Mário Pedrosa, João Guimarães Rosa, Nise da Silveira, Susan Sontag, Tunga und Gianni Vattimo.

Viele der hier Aufgeführten sind mir nicht bekannt, von anderen habe ich Texte gelesen, die ich teils höchst anregend (Barthes, Burgin, Lispector, Sontag), teils als nicht wirklich zugänglich empfand (Bourdieu, Flusser). In jedem Fall: Diese überaus bunte Autorenmischung entspricht der überaus bunten Bildermischung in diesem Band.
Für Maldicidade hat Miguel Rio Branco Fotografien aus mehr als vier Jahrzehnten zusammengestellt, in Schwarz/Weiss und in Farbe. "Seine Bilder zeigen eine Welt in Auflösung, in der alte Vorstellungen von Urbanität ihre Gültigkeit verloren haben", lese ich im deutschen Klappentext

Kann man eine Welt in Auflösung zeigen? Möglicherweise, doch im englischen, französischen und portugiesischen Klappentext ist davon nicht die Rede, letzterer formuliert anders und genauer: "Abstendo-se de locais emblemáticos e de ideais ambiciosos, Rio Branco volta suas lentes para as lutas cotidianas nas grandes cidades do mundo. Maldicidade é uma coleção de fotografias, na qual todo cidadão urbano encontrará algo de si mesmo ou algo do que gostaria de escapar."
Die Bilder zeigen ganz Unterschiedliches: tote Vögel, ramponierte Autos, Menschen mit Gehhilfen,  eine intakte Perücke im Strassenschmutz, eine barbusige Frau, Koffer, auf der Strasse schlafende Männer und Frauen, Uniformierte mit Schlagstöcken ... und und und ... es ist ein wildes Durcheinander von Aufnahmen, die sich meist nicht durch Ästhetik oder Komposition auszeichnen. Auf mich wirken sie, als ob ein Gehetzter mit eingeschalteter Kamera aufnahm, was ihm vor die Linse kam. Ein Konzept war für mich nicht erkennbar. Und vielleicht war das Absicht, schliesslich entstanden die Slums, in denen diese Fotos aufgenommen wurden, auch nicht auf dem Reissbrett.

Lässt man sich auf diese Bilder ein, entdeckt man darin (wie der oben zitierte Klappentext sagt) in der Tat etwas von sich selber oder etwas, dem man entfliehen möchte.
Der Fotograf Miguel Rio Branco ist in Araras, Rio de Janeiro, ansässig. Die Aufnahmen in diesem Band stammen aus diversen Städten. Wo genau sie aufgenommen worden sind, erfährt man nicht, doch zu erkennen ist, dass viele brasilianische Slums zeigen. Gleichzeitig weisen sie darüber hinaus und machen deutlich, dass das kapitalistische Wirtschaftsmodell für viele ein Desaster ist.

Miguel Rio Branco
Maldicidade
Englisch, Portugiesisch, Deutsch, Französisch
Taschen Verlag, Köln 2019

Wednesday, 22 May 2019

Visiting Japan

The lady sitting next to me on the flight from Zurich to Tokyo was born and raised in Japan and has  been living in Switzerland for more than twenty years (her husband whom she met when he was working in Tokyo is Swiss) and thinks the Japanese similar to the Swiss (reserved and correct). Japan has also four seasons, the landscape however is different, she says. Sitting on the train from Narita to Kamakura, I wonder if there is any – I only see concrete house after concrete house.

I did not prepare at all for my three-week trip but soon abandoned my vague idea of visiting Kyoto (two books I once fancied happen to take place in Kyoto) when walking through the packed centre of Kamakura –  I sort of knew that there were a lot of people in Japan, I had however no idea that there were that many! And, surely, in well-known cities like Kyoto it must even be worse and so I decided to visit only places I hadn't heard of.
Daichi Koda, a photographer whom I once helped with the English version of his then homepage, suggested a route, booked my hotels for my first week and off I went – when later on I was on my own, choosing places and organising hotels became rather difficult (I had no reference points and there seemed to be much more information available in Japanese), once I ended up in a place that was one and a half hours by train from my intended destination.

Japan is most definitely the weirdest country I've ever been to. The huge crowds on the trains and subways were mind-blowing and observing them –  people were either sleeping, staring at their mobile phones or listening to music (if they enjoyed what they did, they surely didn't show it)  I occasionally wondered why they wanted to be alive. I know, I know, it is pretty much everywhere like that yet I felt it more intensely so or so it seemed. Strange, these moods ...

At the same time, it is also one of the most impressive countries I've ever visited – organised, disciplined, friendly. Boarding a train in Japan is a civilised matter, boarding a train in Switzerland is mostly a display of primitivism.

At the information centre in Toyohashi I was told there was a bus to the beach and that it would take roughly two hours to get there. The young woman got out the itinerary, placed it in front of her, took a ruler and started to underline ... whatever it was  ... but stopped all of a sudden, looked at me and said (smilingly, of course): Sorry there is no bus ...
When in Oami, I learned that the famous 99-mile-beach was a 30-minute bus ride from the station and that there was also a hotel. I imagined a ride through vast fields to a lonely old hotel sitting on a cliff ... well, it was a ride through a stretch of suburbs and the hotel turned out to be a huge complex that seemed to cater to a variety of Japanese entertainment and shopping needs. My own shopping? Sushi and leechee juice, every day.

What, by the way, contributed to my treasured and enriching visit was the flight: 12 hours without the fasten your seatbelts signs coming on because of turbulence – on both flights. A first for me!

Wednesday, 15 May 2019

Theodor de Bry: America

Theodor de Bry, geboren 1528 in Lüttich, gestorben 1598 in Frankfurt am Main, war Goldschmied, Kupferstecher und Verleger. Zwischen 1590 und 1634 gab er zusammen mit seinen beiden Söhnen Johann Theodor und Johann Israel sowie Johann Theodors Schwiegersohn, Matthäus Merian, in Frankfurt am Main die America-Serie heraus, eine monumentale Sammlung von Reiseberichten, die zu den eindrucksvollsten Buchreihen der Menschheitsgeschichte gehört, wie ich aus dem Text von Michiel van Groesen erfahre, der diesen hochkarätigen Band einleitet. Die de Brys hatten als Erste die Technik des Kupferstichs in den Buchdruck integriert. "Da sie jedoch selbst nie reisten, verliessen sich die de Brys für ihre Stiche auf Vorlagen aus den Originalberichten oder auf ihre eigene Fantasie. Tatsächlich scheinen sie mehr als 40 Prozent der in der Buchserie abgedruckten Kupferstiche in ihrer Frankfurter Werkstatt frei erfunden zu haben. Damit erfanden sie ein spezifisches Bild von der Welt jenseits des Atlantiks und vom Orient, das half, die europäische Kolonisation für die nächsten 200 Jahre zu legitimieren."
Theodor de Brys America ist ein prachtvoller Band, speziell für Sammler; die Texte von Michiel van Groesen und Larry E. Tise liefern höchst aufschlussreiche Informationen. So ging es den de Brys beileibe nicht darum, die fremden Kulturen möglichst wahrheitsgetreu abzubilden. Im Gegenteil, sie bemühten sich "die Diskrepanz zwischen zivilisierten (christlichen) Reisenden aus Europa und den wilden, unkultivierten Heiden aus Afrika, Asien und Amerika hervorzuheben." Mit anderen Worten: Sie zeigten die Welt wie sie sie sehen wollten.

So gab es etwa für die damals populären Brasilienberichte des deutschen Landsknechts Hans Staden und des hugenottischen Geistlichen Jean de Léry als Illustrationen nur grobe Holzschnitte ohne Details. "Mit allen Mitteln und Möglichkeiten der Kupferstichkunst erweiterten die de Brys die Anzahl der Tafeln auf 30, um den Kannibalismus in Portugiesisch-Amerika besonders plastisch ins Bild zu setzen. Diese Szenen müssen in Europa mehr Anklang gefunden haben als alle anderen Bildschöpfungen aus dem Haus der de Bry, denn sie wurden wieder und wieder kopiert und angepasst, um die Geschichte von den brasilianischen Menschenfressern publik zu machen und zu bestätigen."

Daraus zu schliessen, es wäre den de Brys wesentlich um Ideologie gegangen, ist jedoch gemäss Michiel van Groesen falsch. Die Gründe waren kommerzieller Natur. "Die deutschsprachichen Ausgaben waren an ein protestantisches Publikum gerichtet und übten Kritik an den Kolonialbestrebungen katholischer Imperialmächte wie Spanien und Portugal. Die lateinischen Ausgaben dagegen wurden in katholischen Ländern wie Frankreich und Italien, in Süddeutschland und auch in Spanien und Portugal angeboten. Für diese KLänder passten die de Brys die Texte gewissenhaft an, um ein milderes Bild des iberischen Kolonialismus zu zeichnen."
Die Manipulationen an den Reiseberichten zeigten sich jedoch nicht nur bei den Texten, sondern ebenso an den unterschiedlichen Kolorierungen der Kupferstiche. So führt Larry E. Tise aus: "Deutsche Abdrucke sind dicht und schwer in dunkle Grün-, Rot- und Schwarztöne getaucht. Die Haar- und Hautfarbe der an der Küste Virginias lebenden Algonkin ist dramatisch gewählt – die Männer muten finster und bedrohlich an, die Frauen, mit blondem Haar und blauen Augen, geschmeidig und verführerisch (....) Die verschiedenen Varianten in der farblichen Gestaltung sind kein Zufall. Sie reflektieren höchst unterschiedliche Interpretationen der in Theodor de Brys Kupfertafeln dargestellten Welt der amerikanischen Ureinwohner."

Um einen Eindruck von den dargestellten Themen zu vermitteln, hier eine Auswahl von Textüberschriften von Band II Florida (insgesamt sind es neun Bände: Virginia, Florida, Brasilien, Karibik & Zentralamerika, Mittelamerika, Peru, Río de la Plata, Karibik, Mexiko & Magellanstrasse): Die Einheimischen von Florida verehren die Säule, die der Kommandant auf seiner ersten Reise hatte errichten lassen; Die Franzosen wählen einen Ort, um eine Festung zu bauen; Ansicht von Fort Caroline; Welche Zeremonie Saturioua ausführt, bevor er in den Krieg zieht .. und und und ....
Ein wunderbar gestalteter, informativer und höchst eindrücklicher Band, der nicht zuletzt Zeugnis davon gibt, wie der Mensch die Welt nach seinen Vorstellungen schafft.

Michiel van Groesen (Hg.); Larry E. Tise
Theodor de Bry
America
Sämtliche Tafeln 1590-1602
Taschen, Köln 2019

Wednesday, 8 May 2019

"My"Japan (1)

Nagoya

Nagoya

Mishima

Mishima

Mishima

Taken with my mobile phone in April 2019.

Wednesday, 1 May 2019

"My" Japan

Gamagori

Hashimoto

Nagoya

Hashimoto

Hamamatsu

When arriving in Japan, I decided to visit places I hadn't previously heard of. The idea was not to travel around the country in order to (unconsciously) verify the Japan-pictures in my head - which was exactly what I ended up doing: Taking photographs of what to me is typically Japanese.