Wednesday, 26 December 2018

Gehen. Weiter Gehen

„Vielleicht irre ich mich, aber wenn ich sehe, wie ein Kind gehen lernt, wird mir klar, dass die Freude, es zu entdecken und es zu beherrschen, die stärkste Kraft ist, die es gibt. Einen Fuss vor den anderen zu setzen, Grenzen zu erforschen und zu überschreiten, liegt in unserer Natur. Wir beginnen nicht nur, auf Entdeckungsreisen zu gehen, wir hören auch nicht mehr damit auf.“

Erling Kagge ist kurze und lange Strecken gegangen, in der Natur und in Städten, manchmal hat er sich dabei gelangweilt, manchmal sich gefreut. Und weil Gehen bedeutet, sich Zeit zu nehmen, hat er dabei sich selber und die Welt um sich herum auch wirklich wahrgenommen. „Denn ich begreife nicht und werde niemals begreifen, dass es ein Vergnügen sein kann, so an allen Gebilden, Gegenständen, die unsere schöne Erde aufweist, vorüberzurasen, als wenn man toll geworden sei und rennen müsse, um nicht elend zu verzweifeln“, zitiert er Robert Walser.

Mit zwei Freunden beschliesst er zur Fuss durch Los Angeles zu gehen. Sie sehen kaum Bäume, dafür aber unfassbar viele Maniküre-Salons („wir hatten den Eindruck, dass die eine Hälfte der Einwohner der anderen Hälfte die Nägel poliert“), Drogenkonsumenten und Bauprojekte. Auch durch die Strassen Dublins wandert er, auf den Spuren von Joyces 'Ulysses' , angeleitet von Nabokov, und die Juan-Fernández-Inseln vor Chile, auf der Daniel Defoes 'Robinson Crusoe' spielt, besucht er.

Erling Kagge sortiert seine Gedanken, während er geht, bringt etwas Ordnung in das Chaos in seinem Kopf. Ich erlebe das ähnlich. Wenn ich zum Beispiel mit einem Text nicht weiter komme, lösen sich durch das Gehen die festgefahrenen Gedankenverbindungen oft auf und setzen sich neu zusammen.

Gehen. Weiter Gehen versammelt persönliche Erfahrungen, Erlebnisse von Freunden und Bekannten, Erkenntnisse von Soziologen, Psychologen und Hirnforschern und – der Autor ist von Beruf Verleger, ein sehr belesener – ganz viele Verweise auf die Gedanken von Schriftstellern, die sich mit dem Gehen auseinandergesetzt haben, von Tomas Espedal über W.G. Sebald zu Antonio Machado.

Das Schöne an diesem Band ist unter anderem, dass er einem ganz vielfältige Anregungen gibt. Wer hat schon einmal die verschiedenen Teile seiner Heimatstadt zu Fuss erkundet? Oder den Baum vor dem Haus genauer betrachtet? Darüber hinaus ist Gehen. Weiter Gehen sehr instruktiv. „Füsse haben eine starke und komplexe mechanische Struktur. Mit ihren sechsundzwanzig Knochen, dreiunddreissig Gelenken und mehr als einhundert Sehnen, Muskeln und Gelenkbändern halten die Füsse den Körper aufrecht und im Gleichgewicht.“

Wenn wir gehen, ist der ganze Mensch miteinbezogen. Die gängige Trennung in Kopf und Körper ist irreführend. Gemäss dem Philosophen Maurice Merleau-Ponty (und die Hirnforschung hat das bestätigt) erkennen, erinnern und reflektieren wir auch mit Zehen, Füssen, Beinen, Armen, Bauch, Brust und Schultern. Nicht nur mit dem Kopf und der Seele, auf die Sokrates Wert gelegt hat.

Zu sein heisst nicht nur, in der Welt zu sein, wie es Steine sind, sondern sich zur Welt zu verhalten. Wir Menschen, betont Heidegger, müssen bereit sein, Bürden auf uns zu nehmen, um frei zu sein. Entscheidet man sich für den Weg des geringsten Widerstands, wird diese Alternative, die auf den ersten Blick die wenigsten Probleme mit sich bringt, immer Vorrang haben. Dann ist die Wahl vorherbestimmt, und man lebt nicht nur ein unfreies, sondern auch ein langweiliges Leben.“

Wie wir gehen, können wir beeinflussen. Versuchen wir bewusst zu gehen, merken wir, dass das ganz schön schwierig ist, weil unser Hirn – ein Wald voll wilder Affen – sich nicht gerne reinreden lässt. Dass und wie sich das Gehen-Üben lohnt, zeigt Erling Kagge eindrücklich.

Erling Kagge
Gehen. Weiter Gehen
Insel Verlag, Berlin 2018

Wednesday, 19 December 2018

Lai da Palpuogna




Im Juni 2007 wurde der Palpuognasee am Albulapass in einer Umfrage von SF 1 zum „schönsten Flecken der Schweiz“ gewählt. Wie auch immer, ich jedenfalls bin nicht gefragt worden ... Es ist ein sonniger Herbsttag, als ich dort eintreffe. Und schön ist der See, keine Frage. Ich nehme das Handy zur Hand und mache ein paar Aufnahmen vom See, in dem sich die umliegenden Berge und Bäume spiegeln, als mein Blick plötzlich in die Höhe geht und ich einen kahlen, in goldenes Licht getauchten Bergkamm wahrnehme. Es sind Farbenmuster, die mich begeistern und ich unbedingt festhalten will. Aus mir unerklärlichen Gründen streikt plötzlich meine Handy-Kamera. Ich drücke auf sämtliche Knöpfe, doch nichts, das Bild bleibt schwarz und meine Stimmung ebenso. Als ich am darauffolgenden Tag deswegen im Swisscom-Shop vorspreche, weist man mich darauf hin, dass mein umgeklapptes Handy-Etui sich vor dem Objektiv befinde ...

Wednesday, 12 December 2018

Karlheinz Weinberger oder die Ballade von Jim

Manchmal kriege ich von Verlagen Bücher zugeschickt, von denen sie annehmen, dass ich sie besprechen werde. Manchmal treffen sie meinen Geschmack, manchmal nicht. Und manchmal weisen sie mich auf etwas hin, worauf ich selber gar nicht gekommen wäre, mich aber sofort davon angezogen fühle. So geschehen bei Patrik Schedlers Karlheinz Weinberger oder Die Ballade von Jim. Und das überrascht mich, denn weder ist mir der Fotograf Karlheinz Weinberger ein Begriff, noch kann ich mit seinen Vorlieben etwas anfangen und auch zur Zürcher Schwulen-Szene habe ich keinen Bezug.

Karlheinz Weinberger (1921-2006) lebte im Zürcher Kreis 4, verdiente sein Geld als Lagerist und fotografierte in seiner Freizeit Halbstarke, Rocker, Biker, Bauarbeiter, Sportler und Tätowierte, lese ich im Klappentext. Und: "Weinbergers fotografisches Schaffen spiegelt sein Leben, seine Homosexualität und seine Faszination für virile Welten wieder." 

"Karlheinz Weinberger erwähnte in Interviews, dass er froh sei, dass er seine Wohnung nicht mehr räumen müsse – ich musste". Mit diesem ganz wunderbaren Satz, der die mitunter mühevolle Arbeit, die vor ihm liegt, gleichsam aufstöhnend einleitet, beginnt Patrik Schedler, der mit Karlheinz Weinberger befreundet war und ihn ab 2000 künstlerisch betreute, diesen Band. Diese Wohnung im vierten Stock an der Elisabethenstrasse beim Tramdepot an der Kalkbreite sei von zentraler Bedeutung für Weinbergers Werk, nicht nur, weil viele seiner Fotografien da entstanden sind, sondern auch, weil sie für viele seiner Modelle zu einem Zufluchtsort wurde.

Ich las diesen Band einerseits als Porträt eines ausgesprochen zweigeteilten Mannes (die unspektakuläre Lohnexistenz / der obsessive Fotograf) und andererseits als Sozialgeschichte von Minderheiten in der Stadt Zürich. So begann etwa die Zürcher Sittenpolizei in den 1950ern ein Homosexuellen-Register zu führen, ermordete Homosexuelle wurden von der Presse zu Tätern gemacht, Jeans galten als aufrührerisch und die Halbstarken-Bewegung als staatsgefährdend.

"Weinberger hat die Halbstarken durch seine Bilder zu dem gemacht, was sie sein wollten und was sie haben wollten: unterscheidbar zu sein und eine eigene und freie Existenz zu haben." Treffend konstatiert der Autor: "Die Aussage, das Bild erschaffe Wirklichkeit, ist nicht bloss eine philosophische Floskel, sondern eine Tatsache."

Auch dass alles zusammen hängt, dass Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft auf eine Art verknüpft sind, die wir selten wahrnehmen, geschweige denn verstehen, ist eine Tatsache. So nahm etwa Patrik Schedlers Vater den kleinen Jungen oft mit nach Zürich, wo er die Werkstatt eines Clicheurs aufsuchte, die sich hinter Weinbergers Haus befand und der mittlerweile Erwachsene fragt nun. "Nachträgliche Konstruktion einer Schicksalsfügung?" Wieso Konstruktion? So ist es doch gewesen!

Es liegt in der Natur der Sache, dass ein solches Porträt interpretativ ist. Für mein Empfinden tut der Autor dabei gelegentlich allerdings zu viel des Guten. Wenn er etwa schreibt, Weinberger sei keineswegs, wie seine Anstellung als Lagerist suggerieren könnte, ein Biedermann gewesen. "Sein äusserliches Leben war Camouflage. Er wiederholte immer wieder, dass sein Leben am Freitagabend begonnen und am Montagmorgen wieder zu Ende gewesen sei." Was soll das denn anderes sein als die fast schon klassische Definition eines Biedermanns? Schedler sieht das ganz anders: "Das Leben als gewöhnlicher Arbeiter war die Tarnung und die Ermöglichungsbedingung für das Leben als Künstler, und diese Camouflage war derart gut, dass sie über seine Pensionierung, ja sogar über seinen Tod hinaus wirkte." Für mich klingt das etwas arg nach posthumer Glorifizierung.

Fazit: Erhellend und instruktiv.

Patrik Schedler
Karlheinz Weinberger oder Die Ballade von Jim
Limmat Verlag, Zürich 2018

Wednesday, 5 December 2018

Annie Leibovitz, the early years, 1970-1983

 
Maja Hoffmann, die Gründungspräsidentin der LUMA Foundation in Arles, macht in ihrem Geleitwort klar, dass dieses Buch zum Ziel hat, Annie Leibovitz' "weithin anerkannte Arbeitsweise umfassender und intensiver zu kontextualisieren." Und das ist auch bestens gelungen. So findet sich in diesem Buch eine Chronologie sogenannt wichtiger Ereignisse von 1967 bis 1984, also von der Tet-Offensive vom 30. Januar 1968, bei der nordvietnamesische und Vietcong-Truppen die amerikanischen und südvietnamesischen Stellungen angriffen, bis zur Flucht von Roman Polanski vor den amerikanischen Strafbehörden nach Frankreich, um sich einer Verurteilung wegen Geschlechtsverkehrs mit einer 13Jährigen zu entziehen.
Nixon's Resignation
Washington, D.C., 9. August 1974

Matthieu Humery, Luc Sante und Jann Wenner haben Texte beigetragen, doch der spannendste stammt von Annie Leibovitz selbst. Sie beschreibt darin unter anderem, wie wichtig das Autofahren für ihren Vater war (und auch für sie geworden ist). "Mit 17 ging ich nach Kalifornien. Ich hatte die Highschool in Maryland gerade abgeschlossen und wollte, dass die Zukunft begann. Sobald ich konnte, zog ich so weit wie nur möglich von der Ostküste fort. Ich entschied mich für das San Francisco Art Institute nicht nur, weil ich Künstlerin werden wollte, sondern auch wegen des Fotos auf dem Titelblatt der Schulbroschüre – ein Blick auf die San Francisco Bay vom Fenster des Instituts aus. Eine romantische Vorstellung, die für mich nie in Erfüllung ging." Treffender und anrührender habe ich selten gelesen, was uns motiviert  und auch häufig enttäuscht.

San Francisco ist bekanntlich auch recht hügelig ("bergig", wie der deutsche Text meint, finde ich etwas übertrieben) und einige dieser Hügel fallen recht steil ab. Beim Parken gilt es, die Räder zum Randstein einzuschlagen, damit das Auto nicht den Hügel runterrollt. Zu der Zeit, als Annie Leibovitz einen roten BMW fuhr, vergass sie das einmal. "Ich blickte die Strasse hinunter, und da stand er, verkeilt in ein anderes Auto, das dort parkte. Seitdem habe ich kein rotes Auto mehr gekauft. Sie machen nur Ärger." Ich mag nicht nur ihre Bilder, ich mag auch ihren Humor!
Rolling Stones Tour
Cleveland, Ohio 1975

Die Bandbreite der Sujets ist wunderbar vielfältig und stark von der damaligen Musikkultur geprägt. Die Rolling Stones, Chris Stein und Deborah Harry, Cheap Trick, Pat Benatar, Patti Smith, Linda Ronstadt, Bruce Springsteen und und und. Das berühmte Foto von Yoko Ono mit dem nackten "Säugling" John Lennon in New York City findet sich genau so in diesem Band wie Aufnahmen von Arnold Schwarzenegger, Dianne Feinstein, Dan Rather, John Gregory Dunne und Joan Didion, Jerry Brown und Hunter S. Thompson  letzterer im Hotelbett, das Leintuch über den Kopf gezogen sowie eine Dose Budweiser und eine kleine Flasche Johnny Walker auf dem Nachttisch (das war 1976 während der Democratic National Convention in New York City); besser kann man den Autor von "Fear and Loathing on the Campaign Trail" wahrlich nicht ablichten.
Andy Warhol und Diana Vreeland 
New York City, 1976

Die meisten Aufnahmen sind in Schwarz/Weiss und verstärken damit mein Gefühl einer Zeitreise in die Vergangenheit. Das Magische an diesen Fotografien ist, dass sie mich glauben lassen, sie hätten etwas mit mir zu tun – dabei war ich gar nicht vor Ort und die Abgebildeten, die ich kenne, kenne ich nur aus dem Medien. Doch es war eben auch meine Zeit, also die, in der ich gross geworden bin und somit zeigen diese Aufnahmen auch einen Blick in meine eigene Vergangenheit.

Annie Leibovitz
The early years, 1970-1983
Englisch, Deutsch, Französisch
Taschen, Köln 2018

Wednesday, 28 November 2018

Herbstfarben

Zwischen Bonaduz und Rhäzüns

Burgdorf

Klosters

Zernez

Zwischen Landquart und Bad Ragaz

Wednesday, 21 November 2018

Gross trifft Klein

"Sind Kinder wirklich so ganz andere Wesen als wir Erwachsene? Tragen wir nicht auch stets etwas vom Kind in uns? Wir vergessen womöglich nur allzu leicht, die Welt wie ein Kind zu sehen, instinktiv, unvoreingenommen, ohne fremde Beeinflussung", schreibt Yang Liu. in Gross trifft Klein.

Yang Liu wurde 1976 in Beijing geboren und lebt heute in Berlin. Seit 2010 lehrt sie als Professorin an der Berliner Technischen Kunsthochschule. In Gross trifft Klein zeigt sie, was geschieht wenn Kinder und Erwachsene zusammenkommen. Dabei stellen die Kinder das Leben der Erwachsenen häufig auf den Kopf. Damit gilt es klarzukommen. Und am besten mit Humor. Und Yang Liu zeigt gekonnt und schmunzelnd auf, wie das gehen kann.
Ich sehe ...

Während Erwachsene sich gerne bequem hinlegen, ist es den Kleinen mehr ums Rumhüfen zu tun. Auch in dieser Beziehung wären  die Erwachsenen gut beraten, sich die Kinder zum Vorbild zu nehmen, vorausgesetzt, sie wollen beweglich bleiben. Wer rastet, der rostet, heisst es bekanntlich. Die Erwachsenen, die solches sagen, tun selten was in die Richtung; die Kleinen, die solches nicht sagen, rasten nicht, weshalb sich bei ihnen der Satz auch erübrigt.

Konflikt
Wenig später

Eine der Lehren dieses Buches ist, dass Eltern gut beraten wären, sich von den Kindern inspirieren zu lassen. Etwa bei der Konfliktbewältigung, wie das obige Bild sehr schön illustriert. Steigern sich Konflikte unter Erwachsenen in der Regel und nehmen an Schärfe zu, so ist bei Kindern das Umgekehrte der Fall: Schnell ist vergessen, worum gestritten wurde, schnell ist man wieder ein Herz und eine Seele. Erwachsene sind echt blöd. Ausser Rechthaberei haben sie selten etwas gelernt. 

             Vorher                            Nachher      

Gross trifft Klein ist eine humorvolle und wunderbar gelungene Anleitung für Erwachsene, sich in Kinder reinzuversetzen.      

Yang Liu
Gross trifft Klein
Taschen, Köln 2018

Wednesday, 14 November 2018

Teju Cole: Blinder Fleck

Diesem interessant gestalteten Band - einzelne Fotos füllen die ganze Seite, andere nur einen Teil und noch andere erstrecken sich auf die gegenüberliegende Seite – ist ein Vorwort von Siri Hustvedt vorangestellt, das wie folgt beginnt: "Im menschlichen Auge gibt es wie in den Augen anderer Wirbeltiere einen blinden Fleck, der dort liegt, wo die Netzhaut in den Sehnerv übergeht. In diesem Areal, der Sehnervenpapille, fehlen lichtempfindliche Sinneszellen und werden keine optischen Reize weitergeleitet. Eigentlich müssten wir diesen Ausfall im Gesichtsfeld bemerken – er hat ungefähr die Grösse einer Orange, die wir am ausgestreckten Arm von uns weghalten. Und doch laufen normalsichtige Menschen nicht mit Sehlücken durch die Welt. Irgendwie wird das Fehlende ergänzt, doch bis heute wissen wir nicht, wie das genau geschieht (…) vieles spricht dafür, dass Wahrnehmung kein passiver Vorgang ist – dass wir die Welt nicht nur aufnehmen, sondern auch gestalten und dass Lernen dazu beiträgt."

Brienzersee 2014

Blinder Fleck versammelt mehr als 150 Fotografien aus ganz vielen Ländern – offenbar sitzt der Autor und Fotograf Teju Cole ständig im Flugzeug – , die von Texten ergänzt werden. "Und während seine Bilder etwas Konkretes dokumentieren, wird zugleich etwas sichtbar, was das Auge nicht erfasst", lese ich in der Pressemitteilung. Nehmen wir das obige Bild, das mich dazu einlädt, das Schiffshorn in Aktion zu hören. Der Text dazu lautet: "Ich öffnete die Augen. Was vor mir lag, sah aus wie der Klang des Alphorns zu Beginn des letzten Satzes der ersten Symphonie von Brahms. Das war er, der Sound, den ich sah."

Im Gegensatz zum gerade erwähnten, beziehen sich die meisten Texte nicht auf das Bild, dem sie beigestellt sind und muten zum Teil surreal an. So schreibt Cole zum Bild einer schwarzen Schere auf einer weissen Tischplatte: "Hält die Gewalt in petto. Ist symmetrisch, wie fast alle Wirbeltiere. Ist sogar zweibeinig, wie das Tier, das sich aufrichtet, das Tier, das Fremde betrauern kann. Suggestionskraft ist der Schlüssel zum Surrealismus. Plötzlich zum Atmen hochkommend wie der Wal zum Blasen, schwebt das surreale Objekt hinter oder über (sur) einer Realität, unterhalb deren zu bleiben wir von ihm eher erwartet hätten. Die Schere ist eine Maske ohne Gesicht."
Zürich 2014

Gerne hätte ich gewusst, wo in Zürich er diese Globus-Versammlung gesehen hat. Angaben dazu fehlen – wie auch bei den anderen Aufnahmen. Fotografisch bemerkenswert finde ich weder die Fotos noch was sie zeigen (es gibt Ausnahmen) und so recht eigentlich hätten sie fast überall auf der Welt gemacht werden können. Für Teju Cole sind sie Auslöser, "visuelle Rorschachs", wie meine Freundin Emelle Sonh, Fotografin in San Francisco, Fotos einmal genannt hat. Zum obigen Bild notiert er: "Von der Küche ins Wohnzimmer. Vom Schlafzimmer ins Bad. Die Treppe runter, um die Post zu holen. Vom Haus zur U-Bahn. Ein Abendspaziergang. Wir legen jeden Tag etwa 7500 Schritte zurück. Wenn wir achtzig Jahre alt werden, Inschallah, macht das im Laufe des Lebens 200 Millionen Schritte, hundertsechzigtausend Kilometer. Wir halten uns nicht für Vielgeher, werden aber die Erde viermal zu Fuss umrundet haben. Die Treppe hinunter, um die Post zu holen. Mit der Wäsche in den Keller. Vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer. Mitten in der Nacht hoch, um ein Glas Wasser zu trinken Und auf unseren Wanderungen durchs dunkle Haus halten wir plötzlich inne, wenn wir an jemanden denken, den oder die wir einst geliebt haben."

Blinder Fleck ist ein eigenartiges Buch, mein Verhältnis dazu ambivalent. Einzelne Bilder (etwa das auf dem Umschlag, der Farben und der Komposition wegen) sprechen mich sofort, andere berühren mich überhaupt nicht. Ebenso geht es mir mit den Texten. Teju Coles Projekt sei ein phänomenologisches, schreibt Siri Hustvedt im Vorwort. "Es ist die Erforschung des Verhältnisses zwischen dem körperlichen Bewusstsein und der sichtbaren Welt." Was auch immer das heissen mag, mir jedenfalls sind diese Texte und Bilder willkommene Auslöser für das Mich-Wundern-über-die-Welt.

Teju Cole
Blinder Fleck
Hanser Berlin 2018

Wednesday, 7 November 2018

Paul Beatty: Der Verräter

Auf Paul Beatty aufmerksam geworden bin ich eines Interviews wegen, das er dem Londoner Guardian gegeben hat. Das war im Januar 2017 und der amerikanische Autor sagte dabei unter anderem, dass Trumps Aufstieg für ihn kein Schock gewesen sei und dass die Rassenbeziehungen auch unter Obama sich nur marginal verbessert hätten. Zudem meinte er: Eines der Phänomene, die in den letzten Jahren (nicht nur in Amerika) zugenommen hätten, sei, dass Verantwortliche selten zur Rechenschaft gezogen würden.

Sein neuestes Buch, Der Verräter, für das er mit dem National Book Critics Circle Award sowie dem Man Booker Prize ausgezeichnet wurde, handelt von den komplexen Rassenbeziehungen in Nordamerika, philosophisch, zornig und sarkastisch.

Ich habe Tränen gelacht, als ich den Prolog las. Er beginnt so: "Aus dem Mund eines Schwarzen klingt das sicher unglaublich, aber ich habe nie geklaut. Habe nie Steuern hinterzogen oder beim Kartenspiel betrogen. Habe mich nie ins Kino gemogelt oder merkantile Gepflogenheiten und die Erwartungen von Mindestlohnempfängern ignoriert, indem ich einer Drugstore-Kassiererin das überschüssige Wechselgeld vorenthalten hätte. Ich bin nie in eine Wohnung eingebrochen Habe nie einen Schnapsladen ausgeraubt. Habe mich in vollbesetzten Bussen oder U-Bahnen nie auf einen Platz für Senioren gepflanzt, meinen gigantischen Penis rausgeholt und mir lüstern, aber auch leicht zerknirscht einen runtergeholt …".

Da guckt einer hin, genau und hart. Und da er selber schwarz ist, darf er sagen, was Weisse nicht sagen dürfen beziehungsweise sich nicht zu sagen trauen. Und er sagt es. "Sie würden es nie zugeben, aber jeder Schwarze glaubt, es wäre besser als jeder andere Schwarze." Von Hamp, eigentlich Hampton Fiske, dem Anwalt und alten Freund des Erzählers, heisst es. "Er nennt uns die Elenden der Erde. Leute, die einerseits zu arm sind, um sich Kabelfernsehen leisten zu können, und andererseits zu blöd, um zu wissen, dass sie gar nichts verpassen."

Selten ist mir deutlicher geworden, wie unglaublich stupid und beschränkt es ist, jemanden auf seine Hautfarbe zu reduzieren. Toll, das es dieses wunderbar unterhaltsame und clevere Buch gibt, das nicht endlos Probleme diskutiert und Diskriminierung beklagt, sondern sich grundsätzliche Gedanken übers Leben macht, klar und deutlich, mit Witz und Haltung. 

Worum geht's? Der Erzähler von Der Verräter wächst als Versuchskaninchen des Begründers und einzigen Praktizierenden der Freiheitspsychologie in Dickens, einem verarmten Vorort von Los Angeles auf, wo er friedlich Wassermelonen und Marihuana zieht. Als sein Vater von der Polizei erschossen wird, erwartet man in der Nachbarschaft, dass der Sohn der nächste Niggerflüsterer werden würde, doch dieser hat andere Pläne – er will das von der Gentrifizierung bedrohte Dickens retten, mit Hilfe des durchgeknallten Hominy, eines alternden Leinwandhelden, und unterstützt vom hochgeachteten Gangster King Cuz ("Dein Dad hielt mich für bipolar, aber in Wahrheit bin ich nur ich selbst."), das Ziel ist die Wiedereinführung von Rassentrennung ("Die Apartheid hatte das schwarze Südafrika zusammengeschweisst, warum also nicht auch Dickens?") und Sklaverei.

Entgegen den offiziellen Verlautbarungen gibt es sowohl Rassentrennung wie auch Sklaverei nach wie vor – nicht offiziell natürlich, doch in Gesetzen steht bekanntlich vieles, was in der Realität so nicht existiert. Dank Trump hat sich ein Amerika ans Licht gewagt, von dem man lange Jahre nichts hat wissen wollen. Der "ugly American" ist wieder da, fürchten heute einige, wahrscheinlicher ist, dass er gar nie weg war.

Ich kann mich an kein Buch eines Schwarzen (oder einer Weissen) erinnern, das sich derart nüchtern und kritisch mit Afroamerikanern auseinandergesetzt hat. Für mich macht er damit die Schwarzen zu denselben Deppen wie die Weissen und das wirkt befreiend. "Eine traurige Ironie des afroamerikanischen Lebens besteht darin, dass jedes banale und chaotische Miteinander 'Sitzung' genannt wird. Und weil die Sitzungen Schwarzer nie pünktlich beginnen, weiss man nie, wie viel Verspätung man riskieren darf, um cool zu wirken, ohne die Sitzung komplett zu verpassen."

Zu meinen Highlights gehört die Schilderung einer Sitzung, bei der einer der Teilnehmer ("Er hatte sich im Laufe der letzten zehn Jahre kaum verändert, nur siebzehn Kilo zugelegt.") Anstoss an Mark Twains Huckleberry Finn nimmt, weil Twain darin dauernd das 'N-Wort' benutzt habe. "'Ich habe das ekelhafte 'N-Wort' durch 'Krieger' ersetzt, das Wort 'Sklave' durch 'dunkelhäutiger Freiwilliger.' 'Recht so!', schreit das Publikum. 'Ausserdem habe ich Jims Sprache verbessert, den Plot etwas aufgepeppt und das Buch unbenannt in Die pejorativumfreien Abenteuer und intellektuellen und geistigen Reisen des afroamerikanischen Jim und seines jungen weissen Schützlings und Bruders Huckleberry Finn, die sich auf die Suche nach dem verlorenen Zusammenhalt der schwarzen Familie begeben."

Doch Paul Beatty hat mit Der Verräter kein Buch über Rassismus geschrieben ("... und eigentlich solltest du klug genug sein, um zu wissen, dass nicht die Rasse das Problem ist, sondern die Klasse.") und auch als Satire, wie viele Kritiker es bezeichnet haben, sieht er seinen Text nicht, weil eine solche Charakterisierung auch eine Leseanleitung ist, die er ablehnt. Was also ist es? Ganz Vieles und ganz Unterschiedliches, ein scharfer, illusionsloser und humorvoller Blick auf die soziale Realität. Kein Sich-Wegducken vor der Komplexität der Welt, sondern ein Sich-Damit-Konfrontieren und Stellung beziehen.

Der Verräter ist ein grossartiges Buch, hervorragend aus dem Amerikanischen übersetzt von Henning Ahrens, mit einem ganz wunderbaren Umschlag, gestaltet von buxdesign München – ein in jeder Beziehung höchst gelungenes Werk!

Paul Beatty
Der Verräter
Luchterhand, München 2018

Wednesday, 31 October 2018

Blake Wood: Amy Winehouse

Fotos sind schon sehr eigenartige Dinger. Zweidimensionale Reduktionen einer dreidimensionalen Wirklichkeit, die weder klingen noch riechen und uns gleichwohl suggerieren, wir würden, wenn wir sie uns ansehen, die Wirklichkeit sehen. Kennen wir zum Beispiel die abgebildeten Personen persönlich, so ist uns, als ob wir sie selber und nicht etwa Bilder von ihnen ansehen. Jedenfalls geht es mir so. Betrachte ich Fotos meiner verstorbenen Eltern, so sehe ich meine Eltern und nicht etwa nur Bilder von ihnen.

Noch eigenartiger finde ich, dass Fotos auch zu Personen, die ich weder kenne oder gekannt habe, einen starken Bezug herstellen können. Oder zumindest die Illusion davon. So geschehen ist das mir mit den Aufnahmen, die der damals 22jährige Blake Wood aus Vermont von der 24jährigen Amy Winehouse gemacht hat. Obwohl ich mit ihrer Musik nicht wirklich vertraut bin und von ihr kaum mehr weiss als dass sie mit knapp 28 Jahren an einer Alkoholvergiftung gestorben ist.
Copyright by Blake Wood

Ich betrachte die Fotos – in Farbe und in Schwarz/Weiss – mit Musik von ihr im Hintergrund und wundere mich darüber, dass sie mich derart berühren können. Unschuldig, verletzlich, bedürftig, stolz und rebellisch, so wirkt sie auf mich. Dass ich das hineinlese, ist mir klar, ändert jedoch nichts daran, wie ich sie wahrnehme.

Vielleicht liegt es ja auch daran, dass Amy und Blake sich sehr nahe standen es war eine platonische Beziehung - und die Aufnahmen das möglicherweise (was Fotos letztlich tun, entzieht sich mir) vermitteln. "Die tiefe Vertrautheit, die aus den hier versammelten Bildern spricht, lässt ahnen, wie nah sich diese beiden unverhofften Freunde standen", schreibt Nancy Jo Sales. Und fügt hinzu, dabei Bezug nehmend auf die Aufnahmen auf Saint Lucia: "Sie stehen im Widerspruch zu einem ganzen Dossier von Bildern, die uns Amy Winehouse als Drogensüchtige, als "Enfant terrible" verkaufen."

Copyright by Blake Wood

In den Worten von Blake Wood: "Sie war jemand, der Liebe in Reinform verkörperte. Sie half den Leuten um sie herum, Zugang zur Liebe und Güte in sich selbst zu finden. Diese Aufnahmen lagen bei mir im Schrank, ich musste sie wegsperren, weil es zu weh tat, sie zu betrachten. Aber jetzt möchte ich, dass die Leute den Menschen sehen, den ich kannte  dieses Licht. dieses strahlende Licht voller Liebe."

Die Bilder wurden in Camden, East London, Soho, der Isle of Wight, Saint Lucia und Paris aufgenommen; die Texte sind in Englisch, Deutsch und Französisch.

Blake Wood
AMY WINEHOUSE
Taschen, Köln 2018

Wednesday, 24 October 2018

Isaku Yanaihara: Mit Alberto Giacometti

"Es war mir nicht bewusst, aber er hat mich durch seine Art, zu sein und zu denken, enorm beeinflusst", notiert Isaku Yanaihara auf den ersten Seiten von Mit Alberto Giacometti. Annette Giacometti, Albertos Witwe, hat dieses Tagebuch, als es in Tokio in den Handel kam, mit einem weltweiten Bann belegt. Vermutlich lag das daran, dass sie und Yanaihara offenbar eine Affäre hatten. "Annette begleitete mich jede Nacht ohne Ausnahme in mein Hotel und kehrte gegen vier Uhr morgens nach Hause zurück." Das Buch durfte jahrzehntelang in keine andere Sprache übersetzt werden. Nun liegt es, direkt aus dem Japanischen übertragen, zum ersten Mal auf Deutsch vor.

Insgesamt 228 Mal ist der Philosophieprofessor aus Tokio in den Jahren 1956 bis 1966 Alberto Giacometti Modell gesessen. Und besonders angenehm hat sich das nicht angefühlt, denn es galt still zu sitzen und sich nicht zu bewegen. "Ich versuchte an nichts zu denken, aber vergebens. Wenn man nicht zu denken versucht, steht einem auch dieser Gedanke unweigerlich ins Gesicht geschrieben. Es ist nun mal so."

Giacometti ist ein Besessener, ein Getriebener. "Die tägliche Arbeit begann in freudiger Erwartung, um dann kurz vor der Verzweiflung innezuhalten, lange dabei zu verharren und schliesslich in erbitterter Hoffnung auf den nächsten Morgen zu enden."

Sie unterhalten sich über gar Vielerlei. Über Paris, Japan, Stampa, den Fortschritt, von dem Giacometti nicht viel hält, das Malen. "Sehen Sie, in einer wirklichen Landschaft existiert nicht eine einzige grelle Farbe, es gibt weder das Grün noch das Rot aus der Tube. Bäume, Häuser, Dächer, Himmel, alles ist von einem kontinuierlichen Grau; die Unterschiede bestehen lediglich in komplexen und feinen Abstufungen. Farben gibt es so gut wie gar nicht."

Giacometti sieht anders als andere. Und er will Yanaihara so malen wie er ihn sieht. So sieht er etwa Ähnlichkeiten zwischen Vater, der gerade in Paris zu Besuch gewesen war, und Sohn Yanaihara, die der Sohn jedoch überhaupt nicht sieht. Doch, doch, meint Giacometti und weist auf die Partie zwischen den Augen und die Kopfform.

Unablässig zweifelt er. "Je schöner die Wirklichkeit erscheint, desto schwieriger wird es, sie korrekt abzubilden. Gleichzeitig wächst die Leidenschaft, sie richtig wiedergeben zu wollen. Wunsch und Verzweiflung ringen miteinander und werden so gross, dass sie einen zu erdrücken drohen."

Unter anderen kommen Jean Genet, Jean-Paul Sartre ("Was mich bei Alberto am meisten überrascht, ist seine Leidenschaft für das Nichts, beziehungsweise sein leidenschaftlicher Wunsch, etwas in diesem Nichts zu fassen zu bekommen. Kunst ist ein Akt der Nichtung, und niemand weiss das besser als er.") und Simone de Beauvoir zu Wort. 

Der Band enthält auch zahlreiche Schwarz/Weiss-Fotografien (eine zeigt Giacometti in Stampa, wo er ohne Unterbruch und noch besessener arbeitete als in Paris, wo er gelegentlich "wegen irgendwelcher unerlässlicher Angelegenheiten Leute treffen" musste) sowie ein Bilddossier mit Porträts, die Alberto Giacometti von Isaku Yanaihara gemacht hatte. Ergänzt werden die Aufzeichnungen von zwei Nachworten, das eine stammt von Gérard Berréby und Véronique Perrin, das andere von Nora Bierich. Der Verleger Piet Meyer hat Aufzeichnungen über "Das editorische Umfeld zur vorliegenden Publikation" beigesteuert.

Isaku Yanaihara: Mit Alberto Giacometti ist auch gestalterisch ein sehr ansprechendes Buch, hochformatig, mit leserfreundlicher Schrift und einer durchsichtigen Schutzhülle, die Yanaiharas Porträt zeigt.

Isaku Yanaihara:
Mit Alberto Giacometti
Ein Tagebuch
Piet Meyer Verlag, Bern/Wien 2018

Wednesday, 17 October 2018

Lac de Bret

For many years I've carried a picture in my head that I believed to show Lac de Joux – I was wrong, it was another lake that had been on my mind. My friend Peggy whom I told about my memories thought they sounded a lot like Lac de Bret that she knew from childhood – and so I went there, and yes, it definitely conformed to the picture in my head.
My information said that Lac de Bret was a twenty-minute walk from Moreillon train station. There were no sign posts and so I began walking away from the main road and towards the hills at some distance. There was no traffic except for a lonely motorcycle that I managed to stop. I was indeed on my way to the lake, the young girl on the motorcycle informed me. I should cross the golf course up there, she pointed to a lonely house in the distance, and then it should be about fifteen to twenty minutes to walk. In the end, it was closer to forty minutes a thoroughly pleasurable walk on this most beautiful autumn day.
Except for a car that stopped and offered to drive me to the lake; I was pretty much the only person on the road. Mostly, it was totally still, no sounds, magic.

Wednesday, 10 October 2018

Walter Bosshard: China brennt

Seit ich 2002 ein Semester lang in China unterrichtet habe, betrachte ich Chinesisches mit anderen Augen. Neugieriger und skeptischer. Und mich immer wieder fragend, wie man über dieses riesige und höchst vielfältige Land überhaupt Verbindliches aussagen kann. Und mich überdies wundernd, dass ein paar wenige Auslandkorrespondenten unsere Sicht von Ländern, die wir nicht aus eigener Anschauung kennen, mitbestimmen. Was unter anderem mit ein Grund ist, weshalb uns die wirkliche Welt, die sich von der Medienwelt erheblich unterscheidet, immer wieder überrascht.

Ich bin damals mit Voreingenommenheiten in Fukkien eingetroffen, die mir wenig bewusst waren und ich gehe davon aus, dass es Walter Bosshard, als er sich 1933 in Peking niederliess, auch nicht viel anders erging. So nahm ich zum Beispiel an (meine damalige Naivität erstaunt mich noch heute), dass die Jahre, die ich in Thailand verbracht hatte, mich auf China, das schliesslich auch ein asiatisches Land ist, gut vorbereitet hätten – doch weit gefehlt: China ist eine ganz andere Geschichte. Nie war mir offensichtlicher als dort, dass es immer ums Überleben geht – da wurde, meist freudlos, um jeden Millimeter gekämpft. Von seinen eigenen Voreingenommenheiten berichtet Walter Bosshard nichts, stattdessen präsentiert er sich (das haben Auslandskorrespondenten so an sich) als Abenteurer.

"Ich habe in den letzten  zehn Jahren China von den unerforschten Gebieten des Kunlun und den Wüsten Zentralasiens bis zu den überfüllten Hafenstädten am Yangtse, von den mandschurischen Wäldern bis zu den Bambushainen des Südens bereist und kennengelernt. Ich habe die bedeutendsten Staatsmänner und Generäle getroffen. Ich bin den Massen des arbeitsamen, alten und doch ewig jungen Volkes begegnet und habe mit dem gewöhnlichsten Kuli die Mahlzeit geteilt. Ich habe mit Banditen Witze gemacht und ich zähle Priester und lebende Buddhas zu meinen Freunden." So klingt es heutzutage auch bei CNN. Anders gesagt: Erfolgreiche Medienleute verstehen vor allem das Sich-Selber-Anpreisen.

Mit den obigen Zeilen hat Walter Bosshard am 12. Juli 1935 seinen Vortrag im Kasino-Saal des Ullstein-Hauses in Berlin eingeleitet, wie der Herausgeber Peter Pfrunder dieses höchst aufschlussreichen Bandes Walter Bosshard / China brennt, Bildberichte 1931 - 1939 – schreibt. Der letzte von Pfrunder zitierte Satz dieser Einleitung zeugt von einer Voraussicht, die sich mit den Jahren immer mehr zugespitzt hat. "Jedes Mal, wenn ich China verlassen hatte und dieses Reich von aussen betrachtete, wurde mir klar, dass in diesem Volk eine Energie steckt, die uns im alten Europa eines Tages gefährlich werden wird."

Im Anschluss an Peter Pfrunders einleitenden Überblick, gliedert sich das Buch in die folgenden, chronologisch angeordneten Kapitel. 1931: Eröffnung der chinesischen Nationalversammlung. 1931-1933: Japanische Besetzung der Mandschurei. 1933-1936: Reisen ins Landesinnere. 1934-1936: Kühles Grasland Mongolei. 1937: Beginn des Zweiten Sino-Japanischen krieges. 1938: Im Roten China - Besuch bei Mao Zedong. Mobilisierung der Landbevölkerung. Song Meiling (die Gattin von Tschiang Kai-shek). Der Fall von Hankou.(der provisorischen Hauptstadt).

Bosshards stilvolles Auftreten sei legendär gewesen, lese ich, und die Bilder, auf denen er in diesem Buch zu sehen ist, bezeugen das. Attraktiv, jovial, der perfekte Gastgeber sei er gewesen (auf mich wirkt er Dandy-haft), doch habe er auch eine andere Seite gehabt, eine durchaus fragile und sensible. "Bosshards Einsamkeit mag mitunter erklären, weshalb der ruhelose Fotojournalist immer wieder von Neuem einen unerhörten Aktivismus entwickelte und gerade getrieben war, sich den Gefahren und Risiken auf Expeditionen oder an der Front auszusetzen."

Besonders interessant (nicht zuletzt, weil solche Ausführungen selten sind) fand ich Peter Pfrunders Aufklärungen zu den Bedingungen des Fotojournalismus jener Jahre und darüber, wie das Medium Film sich auf die Art und Weise wie Reportagen gestaltet wurden auswirkte. Und ebenso die Anekdoten um die Freunde und Rivalen Bosshard wie etwa Robert Capa, denn sie beleuchten in der Tat, wie Pfrunder schreibt, "die komplizierten Arbeitsbedingungen und den Druck, dem Fotojournalisten ausgesetzt waren." 

Auf den letzten Seiten dieses eindrücklichen Werkes geben Herausgeber Pfrunder und Madleina Deplazes, Research Curator (was es nicht alles gibt!) der Fotostiftung Schweiz, Hinweise auf den fotografischen Nachlass, welche erahnen lassen, was für eine Herkulesarbeit hinter diesem Projekt steht. Für an Fotografie und Weltgeschichte Interessierte ist dieses Buch ein wahres Juwel!

WALTER BOSSHARD / CHINA BRENNT
Bildberichte 1931 - 1939
Herausgegeben von Peter Pfrunder
Limmat Verlag Zürich / Fotostiftung Schweiz 2018

Wednesday, 3 October 2018

In and around Ljubljana

Ljubljana

The only thing that I associate with Slovenia when I arrive end of September 2018 in Ljubljana is the fact that Peter Handke, one of the heroes of my youth, once translated a novel by the Slovenian writer Florjan Lipus into German. No, I haven't (yet) read it.

Differently put: I had no preconceptions except that I had liked the small Ljubljana airport when I was in transfer on my way to Tirana some months ago. And of Maribor and Jesenice I had heard, the names, that is.

It is a small country, I learn, and easy to get around by train or by bus. Trains are slower but the scenery is much more diverse. I take a train to Kranj and, the following day, one to Litija. What I can see through the windows looks pretty similar to Switzerland or the Black Forest.
Ljubljana

How far is it to downtown? I ask at my hotel. A thirty minutes walk, I'm told. It was about an hour and the walk along the main thoroughfare wasn't too pleasant either yet the old town was beautiful – and full of tourists like me.

At a bakery I ask what would be a Slovenian specialty not to miss. The young woman shrugs and says "nothing really" and then suggests  donuts. 

My hotel room (the shower cabin is so small that I'm glad I had lost half a kilo before my arrival, I would otherwise probably have got stuck inside – this was before I found out how to properly use it) is not made when I return in the evening. "You need to place the 'Please make up room now' on the door handle for Slovenian law requires permission for staff to enter your room", I'm informed. The imagination of the legal profession is endless when it comes to inventing new ways of making money. Or maybe this is yet another attempt of saving costs for cleaning staff.
Kranj 

"My English is much better when I don't speak", smiles the waitress when struggling to find the right words. Most people I've talked to spoke English well yet almost nobody spoke German. This surprised me for I had assumed that because of the border with Austria people would generally be more inclined to speak German and not English (It was the same, I recalled, when I visited Bratislava).

What amazed me most during my few  sunny days in Slovenia were my various talks with very different people. Once again, it seemed to me that, regardless of age and gender, we all are struggling with the same kind of self-created "problems" – should I do this or that or what if ...? To me, there is no doubt that the so-called cultural differences are more likely to be differences in personality and character.

Wednesday, 26 September 2018

Soul R&B Funk 1972 - 1982

"Taking a photograph of a singer onstage is the easy part. The hard part is gaining their trust", introduces photographer Bruce W. Talamon Soul R&B Funk Photographs 1972 - 1982. And he adds: "This is a book about R&B, funk, and soul music, as seen through the lens of a young African American photographer at the start of his career. From 1972 to 1982, I was documenting the rehearsals and sound checks, the recording sessions and costume fitting, the TV shows, life on tour, and, of course, the wild photo sessions and memorable performances."

"I've always thought of my photographs as documents that went beyond screaming into a microphone. My body of work has been about the whole unvarnished process, as opposed to just that portion that publicity machines and record companies want you to see. I chased that fleeting visual record for 10 glorious years."
AL GREEN
Soul Train, Los Angeles, 1974

"Can I get an Amen?" is the conversation between Pearl Cleage and Bruce W. Talamon entitled. When asked what the biggest difference in the music business now is, he responds: "Access is gone. Publicists used to let you shoot. They didn't snatch the Jack Daniels' out of the artists hand or dare to take the spliff out of Bob Marley's mouth. Now someone's at the door saying, 'Wait until they change out of those wet clothes and wipe the sweat off.' There was a spontaneity at concerts. Someone could come in unannounced and sit in, and you could photograph the whole time. But now they say you can only shoot the first song and you've got 15 seconds. Fifteen seconds ...".

Glancing through the pages of this book you're about to make surprising discoveries. For instance, you get to see Muhammad Ali and Gil Scott-Heron at The Roxy in Los Angeles. Or Elton John at Soul Train in Los Angeles. Or, one of my favourite shots, Patti Labelle sitting on a table in the CBS Records conference room in Century City, California.
ARETHA FRANKLIN
Hollywood Bowl, Hollywood, California, 1974
@taschen

The photographs come in black and white and in colour and offer the opportunity to travel back in time. Many of the pics radiate a joy that I rarely sense today. Soul R&B Funk documents passion, dedication and a somewhat innocent time.

Diana Ross; Earth, Wind and Fire; Donna Summer; Barry White; Smokey Robinson; The Temptations; Stevie Wonder and and and ... "I want people to look at these pictures", says photographer Talamon, "and remember how badass James Brown. Michael Jackson, B.B. King, Natalie Cole, and Maurice White were, and what they looked like when they were being badass. And I want them to be seduced by Chaka Khan like I was. I want them to think about where they were when they first heard 'Love and Happiness'. I want people to remember it all. And Smile." So be it!
THE JACKSON 5
Motown company basketball game, Los Angeles, 1974
Katherine, Janet, Michael, and Randy Jackson with Bill Bray.
Bray was a retired police officer when he began working as 
security chief for the J5 in the early 1970s. Her worked with
Michael during his iconic Thriller days and beyond.
@taschen

This tome is a grandiose document! I'd definitely suggest to listen to the music of one of the artists when spending time with these pictures.

Bruce W. Talamon
Soul R&B Funk 
Photographs 1972 - 1982
Taschen, Cologne 2018

Wednesday, 19 September 2018

Mexico between Life and Death

Man and Long Shadow from Above, Taxco, 2009

When thinking of Mexico, Yona, who hails from Havana, comes to mind for Mexico was the land of her dreams. That was before she set foot on Mexican soil, for the Mexico on her Cuban television screen and the real Mexico were not even remotely comparable. Mexicans, as far as she was concerned, were tall, wearing moustaches, sported gel in their hair, and were gentlemen; the real Mexicans however were constantly whistling after her so that she felt she couldn't cross a street without being bothered. By the way, she loved being whistled after (she missed it in Switzerland) but in Mexico (this was in Oaxaca) it was simply too much.

What I also relate to Mexico is Malcolm Lowry's novel „Under the Volcano“ (the story of an alcoholic British consul in a small Mexican town on the Day of the Dead in the late 1930s) and quite often pictures of that movie appear in my mind when looking at Harvey Stein's photographs.

And then, there's Octavio Paz's „Labyrinth of Solitude“: „The word death is not pronounced in New York, in Paris, in London, because it burns the lips. The Mexican, in contrast, is familiar with death, jokes about it, caresses it, sleeps with it: it is one of his favourite toys and his most steadfast love. True, there is perhaps as much fear in his attitude as in that of others, but at least death is not hidden away: he looks at it face to face, with impatience, disdain or irony.“

For the full review, see here