James Lovelock, Jahrgang 1919, erwarb Abschlüsse in Chemie, Medizin und Biophysik, in Disziplinen also, von denen ich so ziemlich gar nichts verstehe, weswegen ich diesem Mann einigen Respekt entgegenbringe. Bryan Appleyard schreibt im Vorwort: "In seiner Nominierung für die Mitgliedschaft in der Royal Society wurden seine Arbeiten über die Übertragung von Atemwegserkrankungen. Luftsterilisation, Blutgerinnung, das Einfrieren lebender Zellen, künstliche Befruchtung, Gras-Chromatographie und so weiter angeführt." Kurz und Gut: Ein Universalgelehrter.
Novozän. Das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz ist ein sehr informatives Werk. So lerne ich etwa, dass die Lebensdauer der Erde von der Sonne, die sie wärmt, bestimmt wird. "Die zunehmende Hitze der Sonne bedroht das Leben auf unserem Planeten." Oder dass unser Planet "eine dünne flüssige Haut aus Wasser besitzt" und wir unter anderem von Vulkaneruptionen bedroht sind, die zu einer Temperatursenkung führen und uns in die Steinzeit zurück katapultieren könnten. Trocken kommentiert Lovelock: "Das Verstehen des Kosmos stünde dann auf unserer Prioritätenliste nicht mehr sehr weit oben."
Die Menschheit, so Lovelock, könnte aufgrund von Kräften, die ausserhalb unserer Kontrolle liegen, jederzeit ausgelöscht werden. "Aber wir können etwas tun, um uns selbst zu retten, indem wir lernen zu denken." Unser vertrautes Ursache und Wirkung-Denken ist nämlich nicht nur zu simpel, sondern auch irreführend. Man denke etwa an das eigene Leben, das um einiges komplexer ist als ein linearer Prozess.
Ein anderer Ansatz ist, die Erde als dynamisches, selbstregulierendes System zu verstehen. Gaia, wie Lovelock es nennt, "ist nicht leicht zu erklären, weil es sich um ein Konzept handelt, das sich intuitiv, aus tief im Innern vorhandenen und meist unbewussten Informationen ergibt." Das macht auch deswegen Sinn, weil wir genau so leben – unbewusst, weitestgehend gelenkt von unserem Körper, der mehr weiss als wir wissen bzw. uns bewusst ist.
Unsere Zeit, das Anthropozän, ist wesentlich geprägt von der Beschleunigung. "Stellen Sie sich vor, in der Nähe eines Dorfes, weit draussen auf dem Land, wird eine Eisenbahnlinie gebaut. Die jahrhundertelange Erfahrung und das Wissen darüber, wie die Welt und das eigene Leben funktionieren, werden beim Anblick der ersten Lokomotive über den Haufen geworfen."
Der Einfluss des Menschen auf die Erde zeigt sich unter anderem in der Entstehung der Städte, die "der Entwicklung von Insektenkolonien zu folgen scheint." Termiten in einem Termitenbau verhalten sich genau so wie ihr integriertes Programm es ihnen vorgibt. Und die Menschen in den Bürotürmen unterscheiden sich nicht – auch sie tun, was ihnen vorgegeben ist: sie starren alle auf Computerbildschirme.
Wir sind wesentlich intuitiver unterwegs als wir gemeinhin annehmen. "Ich bin Erfinder, und wenn ich zurückblicke, dann realisiere ich, dass fast alle meine Erfindungen intuitiv vor meinem geistigen Auge entstanden sind. Ich erfinde nicht durch die logische Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Aber ich gebe zu, dass sich diese in meinem Geist vorhandenen Erkenntnisse manchmal intuitiv zu einer Erfindung fügen."
Denken wir an künstliche Intelligenz, so stellen wir uns häufig Roboter vor, die nach unserem Menschenbild gemacht werden. Doch das Anthropozän geht zu Ende und eine neue Art von Lebewesen wird denkbar. James Lovelock prophezeit eine nicht menschliche Intelligenz. Sich selbst regulierende Cyborgs, die 10 000 mal schneller sein werden als wir, stellt er sich vor.
Fazit: Höchst anregend, sehr vergnüglich und ausgesprochen lehrreich.
James Lovelock
Novozän
Das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz
C.H. Beck, München 2021