Wednesday, 29 October 2025

Eine Studie in Scharlachrot

Nachdem Watson im Jahre 1878 an der University of London seinen Abschluss in Medizin machte, war der Zweite Afghanische Krieg ausgebrochen, von dem er verwundet und bei schlechter Gesundheit nach London zurückkehrte, wo er auf der Suche nach einer Wohnung auch mit Sherlock Homes Bekanntschaft machte. Um zu sehen, ob sie sich eine Wohnung teilen könnten, unterziehen sie sich einem gegenseitige Kreuzverhör, das dermassen amüsant und aufschlussreich geschildert wird, dass es eine wahre Freude ist.

"'Das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch', wie Sie wissen", sagt Watson zu dem Assistenzarzt, der ihn und Holmes zusammengebracht hat, worauf dieser erwidert: "Dann müssen Sie ihn studieren", was Watson in der Folge auch tut, mit grösster Aufmerksamkeit und auch immer mal wieder erstaunt, dass Holmes einerseits sehr viel weiss, doch andererseits keine Ahnung von Dingen hat, die Watson für grundlegend hält wie etwa, dass die Erde um die Sonne kreist, was Holmes hingegen vollkommen egal ist. "Sie sagen, wir bewegen uns um die Sonne. Wenn wir uns um den Mond bewegten, würde das für mich oder meine Arbeit nicht den geringsten Unterschied machen."

Holmes ist der Auffassung, dass das Aufnahmevermögen unseres Hirn begrenzt ist, weshalb wir denn auch gut überlegen sollten, welches Wissen uns dienlich ist und welches vollkommen unnütz ist. "Er sagte, er wolle kein Wissen erwerben, das keinen Bezug zu seinem Gegenstand aufweise. Deshalb war all das Wissen, das er besass, so beschaffen, dass es ihm nützlich war."

Zu vieles, ganz unterschiedliches Wissen, so der Autor, ist hinderlich. "Verlassen sie sich darauf, es kommt eine Zeit, in der Sie bei jedem Wissenszuwachs etwas vergessen, das Sie vorher wussten. Deshalb ist es von grösster Bedeutung, dass die nutzlosen Fakten nicht die nützlichen hinausdrängen." Ein überaus nützlicher Gedanke, besonders in der heutigen Zeit der Überflutung mit Informationen.

Holmes' Vorliebe gilt der Beobachtung und der Deduktion, die beide für einen beratenden Detektiv praktikabel sind. Und sie bringen ganz erstaunliche Resultate, wie dieses Buch eindrücklich demonstriert. Was Eine Studie in Scharlachrot zudem ausmacht, ist sein Humor, seine gepflegte Ausdrucksweise sowie eine überaus einleuchtende Demonstration von Watsons 'Das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch'.

Eine Leiche ist aufgefunden worden. Die Polizei bittet Holmes um Mithilfe. Er tippt auf Giftmord, stellt Vermutungen in Bezug auf den Täter an, wird an der Nase herumgeführt, grämt sich darüber jedoch nicht, sondern nimmt es mit Humor. Schliesslich klärt er den Fall auf.

Der zweite Teil der Geschichte führt zu den Mormonen in Utah und dem Gebaren ihrer autoritären Kirche. Das ist (in jeder Hinsicht) zwar arg weit hergeholt, doch spannend erzählt und überaus anregend zu lesen.

Diesem gut geschriebenen, interessanten und unterhaltsamen Band ist ein aufschlussreiches Nachwort von Jürgen Kaube beigegeben, worin er unter anderem darauf hinweist, dass der Augenarzt Conan Doyle der Auffassung huldigte, dem modernen chaotischen Leben sei am besten mit der Devise "Don't think. Observe" beizukommen. Zudem ist Holmes nicht in Motiven unterwegs ist und wird von der Überzeugung geleitet, "dass man fast nichts über die Menschen wissen muss, um ihnen auf die Spur zu kommen," Was im Übrigen, wie neuere Forschungen gezeigt haben, eine Parallele im Verhalten von kleinen Kindern hat, für die die kausale Verantwortung entscheidend ist; erst ältere Kindern und Erwachsene messen der Absicht Bedeutung zu.

Arthur Conan Doyle
Eine Studie in Scharlachrot
Reclam, Ditzingen 2025

Sunday, 26 October 2025

Wo das Eis niemals schmilzt

Ihre Forschung hat die Glaziologin Unni nach Kanada geführt. Warum sie Gletscherforscherin geworden sei?, fragt Jon, der Englisch mit einem skandinavischen Akzent spricht. "Ich will etwas erforschen, das vergeht", antwortete ich. "Warum?" "Weil so wenig Zeit ist. Wir müssen alle Informationen festhalten, die in den Gletschern stecken (...) Eines Tages, in einem kurzen Moment, wird das, was vom Gletscher übrig ist, ins Meer rauschen, und Hunderttausende Jahre Geschichte zerfallen in Moleküle. Wenn man sich das überlegt, kommt einem alles andere ziemlich bedeutungslos vor."

Zugegeben, darüber habe ich noch nie nachgedacht. Und merke jetzt, als ich das lese, das ich das hätte tun sollen, mir das gut getan hätte, weil es die Perspektive verändert, und mir diese neue Perspektive eine weit gesündere scheint als unsere vom Ego getriebene.

Wo das Eis niemals schmilzt handelt einerseits vom Klimawandel, dann aber auch von der Assimilationspolitik in Kanada und Finnland. Nicht zuletzt ist es eine berührende Geschichte ganz unterschiedlicher Beziehungen.

Unni stammt aus Finnland. Als sie noch ein Kind ist, trennen sich ihre Eltern. Der Vater bleibt in Lappland, die Mutter zieht mit der Tochter in ein Dorf bei Helsinki. Auf dem Heimweh von der Schule wird Unni regelmässig von zwei Mitschülern gequält. Sie spricht nicht darüber, lässt aber ihren Vater wissen, sie wolle zurück zu ihm.

Die Handlung springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her. Dass die Vergangenheit nicht vergangen, sondern in der Gegenwart präsent ist, wird hier sehr schön gezeigt.

Doch die Dinge ändern sich, alles ändert sich, andauernd. Das Moor ihrer Kindheit ist verschwunden und einer platten Ebene gewichen, des veränderten Klimas wegen. "Es kommen neue Arten", sagte mein Vater. "Aber wir gewöhnen uns an sie, wir gewöhnen uns an alles." 

Ihre Kindheit verbringt Unni abwechselnd bei ihrer Mutter im Süden und ihrem Vater im Norden, wo sie sich oft in der Natur aufhält, zu der sie einen starken Bezug entwickelt. Wie das Kind die Natur erlebt, ist ganz wunderbar geschildert. Man glaubt nachempfinden zu können, was die Kleine erfährt.

Jon ist ein Indigener aus dem Norden Kanadas, ein verschlossener Typ, dem "etwas schwer zu bestimmendes Trauerartiges" eignet. Er arbeitet im Krankenhaus, kommt auch als Rettungssanitäter zum Einsatz. Er ist adoptiert, sucht im Norden Kanadas nach seinem Vater. Dort trifft er auch auf Unni; Identitäts-Fragen beschäftigen ihn.

Es ist eine berührende Beziehungsgeschichte, die Inkerri Markkula hier erzählt. Nach ein paar Tagen der Leidenschaft, trennen sich Unnis und Jons Wege wieder. In Unnis Worten: "Alles war so schnell vorbei, bald sass ich schon im Flieger und dachte, die grössten Lieben sind die, die enden, bevor sie alltäglich werden." Als sie Jahre darauf nach ihm sucht, ist er zunächst  unauffindbar, doch dann ... 

Dieser Roman erzählt jedoch noch eine ganz andere Geschichte, eine der Naturschilderungen bzw. was für eine Kraft in der Natur liegt. "Wir öffneten das Fenster und liessen den Wind herein. Er stürzte sich auf uns und hätte uns beinahe umgeworfen, fuhr durch die Ecken und brachte Schneeflusen mit, die rotierend auf den Dielenboden schwebten (...) Der Schnee reichte bis zum Fensterrahmen, der Wind schleuderte mir Kristalle in die Augen, machte mich blind, warf mich wieder ins Zimmer." Wer von der ach so wohlwollenden Natur schwafelt, sollte dieses Buch lesen, damit er (oder sie) sich die Ehrfurcht vor den Naturgewalten bewahrt.

Aufschlussreich ist auch, wie die Menschen, die in diesen eisigen Zonen leben, mit Gletschern umgehen. "... dass man leise sein müsse, wenn man durch den Gletscher gehe, denn sonst könne der Gletscher böse werden und den Menschen zermalmen."

Wo das Eis niemals schmilzt ist überaus reich an hilfreichen Einsichten. "Jon ertrug weder Schmerz noch Tod und auch nicht, dass zum Beispiel die Natur, die nach dem Sturm zum Leben erwachte, gleich wieder starb." Man sollte bei solchen Sätzen innehalten, sie auf sich wirken lassen. Weil sie aufrichtig und ehrlich und wahr sind.

Wo das Eis niemals schmilzt gehört zu den seltenen Büchern, die uns dazu anleiten, uns mit der Natur auseinanderzusetzen, anstatt sie zu glorifizieren. Es gilt, sie als das zu nehmen, was sie ist: Unbegreiflich, majestätisch, Angst einflössend, sensationell schön, ein Wunder.

Fazit: Eine überaus lehrreiche, ungemein bereichernde Lektüre.

PS: Wie alle mare-Bücher, die ich kenne, ist auch dieses höchst ansprechend gestaltet: Lesefreundlicher Satzspiegel, Lesebändchen sowie ein Format, das bestens in der Hand liegt.

Inkeri Markkula
Wo das Eis niemals schmilzt
Mare Verlag, Hamburg 2025

Wednesday, 22 October 2025

Das hier ist nicht Miami

Genau so wenig wie Bilder Geschichten erzählen können, kann auch die Wirklichkeit keine Geschichten erzählen. Geschichten werden von der menschlichen Sprache, der Erinnerung erzählt, so Fernanda Melchor in der Vorbemerkung. "Doch die Sprache ist trügerisch (...) Diese Sammlung von Crónicas wurde in der Absicht geschrieben, Geschichten auf die ehrlichste Art zu erzählen, die ich für möglich halte – indem man die stets etwas ausweichende Natur der Sprache akzeptiert und sie sich für die eigene Sache zunutze macht."

Die Geschichten, die hier versammelt sind, sind also geprägt von einer subjektiven Erzählperspektive. "Ich weiss, dass die menschliche Subjektivität womöglich das dem Journalismus fernste Feld ist ...", schreibt die Autorin. Das mag für Mainstream Journalismus gelten, für den Qualitätsjournalismus, wie ich ihn verstehe, hingegen nicht. Man denke etwa an Hunter S. Thompson, James Agee oder Janet Malcolm.

Jedenfalls: Fernanda Melchor hat keine Angst vor Subjektivität. Und genau dies gibt ihren Geschichten, die sich allesamt im mexikanischen Veracruz ereignet haben, etwas universelles. Denn je subjektiver jemand von etwas berichtet, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass ein ganz anderer oder eine ganz andere ähnliche Empfindungen teilt.

Von UFOs und toten Polizisten berichtet sie. Und vom Warendiebstahl als Kunstform, den Gesetzen im Hafen, von ausgemergelten Dominikanern, die sich vor der Einwanderungsbehörde verstecken und glauben, in Miami zu sein. Fernanda Melchor lässt sich vom Schicksal dieser Gestrandeten berühren, weswegen sie es auch überaus eindrücklich versteht, deren Geschichten zu erzählen.

Von der Karnevalskönigin, die zur Mörderin ihrer Kinder wird, lesen wir. Und von Mel Gibson, für den ein Gefängnis leergeräumt wurde, damit er dort drehen kann. Und von einem Lynchmord und einem Teufelshaus. Und und und. Nicht wenige der Geschichten handeln vom Drogengeschäft.

In Das hier ist nicht Miami porträtiert Fernanda Melchor die mexikanische Hafenstadt Veracruz durch die Geschichten, die ihr von den Einwohnern erzählt worden sind. Ja, sie hat klassisch recherchiert, doch was sie erfahren hat, ist wesentlich ihrer Neugier sowie ihrer empathischen Grundhaltung geschuldet.

Wie jede gute Journalistin fragt sie nach, macht sie sich ihre eigenen Gedanken. Und gibt ihnen auch Ausdruck. Sie selber charakterisiert ihre Arbeiten als "Geschichten, die keine klar umrissenen Anekdote wiederzugeben versuchen, sondern den Effekt, den sie auf die Empfindungen derjenigen hatten, die sie erlebt haben."

Crónicas nennt Fernanda Melchor ihr Texte, die zeigen, dass Journalismus noch etwas anderes sein kann, als das, was wir tagtäglich in der Zeitung lesen (könnten). Engagiert, sachlich und mitfühlend.

Fernanda Melchor
Das hier ist nicht Miami
Wagenbach, Berlin 2025

Sunday, 19 October 2025

Godwin

Der charismatische Mark Wolfe („Alle kannten ihn als Wolfe, als wäre er ein Fernsehdetektiv.“), studierter Molekularbiologe, der bei der P4-Group als technischer Redakteur arbeitet, wird von seiner Chefin Lakesha zu einer Aussprache (Kunden hatten sich beschwert) in ein Café gebeten. Er taucht mit seinem Hund auf; seine Hundeerziehungsphilosophie sei, wie er erläuterte, von der benediktinischen Ordensregel inspiriert. „Ein zentraler Punkt dieser Philosophie, sagte er mir, besage, dass Hunde dann am zufriedensten seien, wenn sie keinerlei Zweifel an ihrem untergeordneten Verhältnis zu ihrem Besitzer hätten.“ Mit anderen Worten; Godwin ist ganz vieles – und ausgesprochen witzig.

Mark, ein hoch reflektierter, latent unzufriedener Mann, hat noch Freitage gut, die nimmt er jetzt. Gedanken über die stetig zunehmende Dummheit und das Ende des Menschen auf der Welt gehen ihm durch den Kopf – Godwin ist auch ein philosophischer Roman. Dann erreicht ihn ein Anruf seines Halbbruders Geoff, der seine Hilfe braucht und den er in der Folge in England aufsucht. Wie O'Neill diese Reise schildert, machte mich Tränen lachen, insbesondere Marks Ankunft in London, wo er von einem jungen Weissen abgeholt wird, der sich in einem „englischen Akzent oder Dialekt, den ich nicht verstehe“ äussert und „an jeder Ampel auf die Bremse steigt, als hätte er noch nie ein Rotlicht gesehen."

Geoff vermittelt Fussballer. Dabei ist er auch auf den jungen Afrikaner Godwin gestossen, einer fussballerischen Ausnahmeerscheinung. Geoff benötigt Marks Hilfe, um nicht ausgetrickst zu werden. Er habe selber auch schon einen Agenten ausgetrickst. „So laufe das nun mal in dieser Branche. Sie mache einen zu einem Menschen, der man eigentlich nicht sein wolle.“ Keine Frage, das beschreibt so recht eigentlich jede Branche.

Mark fährt für Geoff mit dem Zug nach Le Mans, um dort den französischen Fussballvermittler Jean-Luc Lefebvre aufzusuchen. Ihm wird zunehmend klar, dass sein Europa-Aufenthalt immer mehr ausser Kontrolle gerät. Seine Frau rät ihm telefonisch, zurückzufliegen. Er weiss zwar, dass er genau das tun sollte, doch glaubt er, seinem Impuls, die Flucht zu ergreifen, widerstehen zu müssen. „Ich habe in meinem Leben zu oft die Flucht ergriffen. Es hat mir nichts gebracht.“ Meisterhaft, wie Joseph O'Neill nachvollziehbar macht, wie wir unser ständiges Zögern rationalisieren. Es gehört zum Schicksal des Menschen, nicht zu tun, was er weiss, dass er zu tun hat.

Godwin handelt einerseits von Fussball und Spielergrössen wie Eusébio von Benfica Lissabon, modernen Umgangsformen und afrikanischen Fussballsitten, sowie andererseits von den Machtkämpfen bei der P4-Group, wo eine Frau namens Edil, deren Charakter es nicht zulässt, dass sie nicht im Mittelpunkt steht, die Atmosphäre vergiftet.

Dann taucht plötzlich Jean-Luc Lefebvre bei Mark in Pittsburgh auf – mit überraschenden Fakten. Dieser aussergewöhnlich begabte Geschichtenerzähler verbreitet sich nicht nur engagiert und ausführlich über die verschiedenen Aspekte des Fussballs, sondern auch über ganz vieles, überaus Instruktives aus Afrika (es ist dies auch die bei weitem nützlichste Afrika-Aufklärung, die ich kenne), Amerika und Europa zum besten gibt. „Theoretisch sah man Algerien und sah den Niger – aber in Wirklichkeit? Ein Gebiet ohne Menschen, ohne Strassen, ohne Wasser, ohne eine Vergangenheit oder Zukunft – konnte man ein solches Gebiet als Staat bezeichnen? Konnte der Mars ein Staat sein?“

Godwin ist ein überaus cleveres, spannend zu lesendes Porträt unserer Zeit, voller schlauer Einsichten, etwa zur Eitelkeit („Eitelkeit verweist auf Leere ...“), Reflexionen über das „Drama der Kontaktierbarkeit“, über den Unterschied von Mensch und Tier („Es ist die Fähigkeit zur Böswilligkeit, die den Menschen vom Tier scheidet.“) sowie Erkenntnissen fundamentaler Natur. „Das menschliche Leben, erzählt er uns, bestehe nicht nur aus untadeligem Verhalten, Verhalten, das erwartet werde. Die grossen Preise fielen nicht denen zu, die sich gemäss den Erwartungen verhielten.“

Praktisch auf jeder Seite gewinnt man nützliche Einsichten („Die Idee ist gut“, sagte ich. „Aber Ideen werden überbewertet. Du hast die Arbeit gemacht.“), die davon zeugen, dass da ein Autor am Werk ist, der zu denken versteht, und deshalb zu Schlüssen kommt, die von praktischer Relevanz sind. „Annie hatte begriffen, dass die Einzelheiten fast nie das eigentliche Problem sind. Das Problem ist vielmehr eine bestimmte Persönlichkeit – der unausgeglichene Mensch, der davon überzeugt ist, dass er unter ungerechten, aber stets verborgenen Mächten zu leiden hat.“

Es versteht sich: Unsere Lektüre ist von unserer Erwartungshaltung beeinflusst. Meine lässt sich so charakterisieren: Ich möchte unterhalten werden, Einsichten gewinnen und auf Gedanken stossen, die ich als hilfreich empfinde. Godwin hat diese Erwartungen nicht nur erfüllt, sondern übertroffen.

Fazit: Grossartig, ein wesentliches Buch! Packend, smart, witzig und weise.

Joseph O'Neill
Godwin
Roman
Rowohlt, Hamburg 2024

Wednesday, 15 October 2025

Der Augenblick & die Fotografie

 Vom Augenblick wissen wir, dass er nicht zu fassen ist, denn er steht ausserhalb der Zeit, zu deren Eigenheiten die Dauer gehört. Albert Einstein war gemäss dem Philosophen Rudolf Carnap offenbar der Ansicht, „es gebe etwas Wesentliches bezüglich des Jetzt, das schlicht ausserhalb des Bereichs der Wissenschaft liege.“ Das liegt daran, dass die Wissenschaft sich am Messen bzw. am Zählen orientiert, von dem Einstein einmal gesagt hat: Nicht alles, was zähle, könne auch gezählt werden, und nicht alles, was gezählt werden könne, zähle auch etwas.

Claude Simon, Nobelpreis für Literatur 1985, macht darauf aufmerksam, dass der Fotographie „eine ziemlich seltsame Macht“ eigne, die ihn immer wieder in Erstaunen setze. „Es ist die Macht, festzuhalten und zu speichern, was unser Gedächtnis selbst zu behalten ausserstande ist, nämlich das Bild von etwas, das nur in einem winzigen Bruchteil der Zeit stattgefunden und existiert hat.“

Dieses Bild habe ich am 22. November 2020 in Château-d’Oex aufgenommen; möglich war dieses Foto nur in einem einzigen Augenblick, dem Moment der Aufnahme, niemals vorher und niemals nachher hat diese Szene genauso ausgesehen.

Fotografie wird oft mit dem Anhalten der Zeit in Verbindung gebracht, doch so recht eigentlich ist das falsch, denn der Augenblick ist keine Kategorie der Zeit, entzieht sich einem Vorher und Nachher. Die Fotografie hält fest, was das Gedächtnis nicht festhalten kann.

Betrachte ich jedoch diese Aufnahme, stellt sich automatisch die Zeit ein, denn ich sehe nicht nur diesen Augenblick, sondern noch ganz viele andere Bilder, die mich an den damaligen Aufenthalt erinnern. Dazu kommen noch ganz ganz viele weitere Bilder, die mit meinem damaligen Aufenthalt überhaupt nichts zu tun haben. Mein Hirn macht eben, was es will; es ist ausgesprochen selbstständig unterwegs und an meinen Hoffnungen und Wünschen offenbar wenig interessiert.

Sunday, 12 October 2025

On Travelling

 I'm not anymore interested in what "my" culture or any other culture is telling me about what is important or what is not. In regards to travelling that means that I'm not doing the sights, I simply expose myself to where I find myself. Very much like a child whose experience of what surrounds it is not yet constrained by knowledge.

However, to try to free myself from lifelong conditionings is far from easy. For instance, to stay indoors when it is sunny outside is difficult to do for the imperative that one should go out in such weather and enjoy it is incredibly strong. 

I'm not making myself knowledgeable for my trips. Before I arrived in Osaka, I had, for instance, not heard of Himeji and its castle, contrary to the many tourists who came specifically to visit the castle.

I prefer to venture into side streets that radiate a calm that is magical. I walk around and take pictures, mostly of flowers. Why I'm registering what I register I do not know. And, as far as I'm concerned, there is no need to know it.

Himeji, Japan, 5 October 2025

Nevertheless, I'm quite automatically drawing comparisons. When walking through the side streets of Osaka and Himeji I'm often reminded of Bangkok. Needless to say my mind has its own ways. 

The emotions and feelings that I'm aware of are the usual mix of joy, sadness and indifference. Although I've largely given up to try to make sense of it, I'm not as successful in this endeavour as I would like to be.

Wednesday, 8 October 2025

The Tottori Sand Dunes

I had read that the Tottori sand dunes extended 16 kilometers and so I imagined what I had experienced in Brazil's North East: Strolling along for hours pretty much by myself. Well, not exactly. Tourist destinations in Asia are rarely a solitary affair. The bus to the dunes was packed with Asians. Probably all Chinese, I joked to the French couple that I had started talking to at the bus station.

Like almost always when travellers meet, they spoke of all the other places they had visited. South Korea, for instance, that they deemed, very much to my surprise, more modern, more advanced than Japan, for my picture of South Korea was that of Japanese friends for whom South Korea was simply a cheaper version of Japan. Also, a young Spanish couple came to mind who had observed that while in Japan hardly anybody speaks English, in South Korea nobody speaks English. 

The elderly French couple says that in Japan they were never spoken to, in Korea however they were always asked lots of questions. My own Japanese experience is completely different. I particularly remember two curious female students, one studied Chinese culture, the other globalisation.
It doesn't cease to baffle me how the mind works, or, more precisely, how "my" mind works for when the bus came to a halt in front of a souvenir shop I automatically felt reminded of my first visit to Japan six years ago when I had penned the following: "When in Oami, I learned that the famous 99-mile-beach was a 30-minute bus ride from the station and that there was also a hotel. I imagined a ride through vast fields to a lonely old hotel sitting on a cliff ... well, it was a ride through a stretch of suburbs and the hotel turned out to be a huge complex that seemed to cater to a variety of Japanese entertainment and shopping needs. My own shopping? Sushi and leechee juice, every day." Needless to say, our expectations are much more in control of our lifes than we imagine.
There was also a sand museum and I briefly wondered what it would exhibit and assumed it would be the usual display of information about how it once was, what it became, and how the future will probably look like. I find the human inclination to hold on to the past increasingly strange for it seems to hinder us to experience what we are experiencing: to be here and there and everywhere very much at the same time.

Sunday, 5 October 2025

Japanische Entdeckungen

Nara, Japan, 2. Oktober 2025

Apple Ginger Ale, Muscat Squash, Apple Squash.

An Adapter für meinen Laptop  heranzukommen ist nicht leicht. Eine überaus freundliche Verkäuferin in einem Elektronik-Markt erklärte: Es gäbe zwar solche Adapter für Japaner, die ins westliche Ausland reisen. Umgekehrt gelte das hingegen nicht. Sie bot mir an, ein paar Telefonate zu führen, um herauszufinden, wo es in dieser Grossstadt den von mir gewünschten Adapter gab. Sie wurde auch fündig, doch es war derart weit hin, dass ich beschloss, ein paar Tage auf meinen Laptop zu verzichten.

Omelette Sandwich; Reis, Gemüse und Fisch zum Frühstück. 

Im Supermarkt in Nara habe ich bei der Münzen- Rückgabe offenbar eine Münze liegen gelassen. Eine Frau stürmt mir hinterher, mit meinen zehn Yen.

Das junge Paar aus dem Baskenland besucht auf ihren zahlreichen Reisen regelmässig die Supermärkte, des Vergleichs wegen.

Immer wieder staune ich über die vielen Menschen. Und darüber, dass das alles so gut funktioniert. Es sei anstrengend sich dauernd den Erwartungshaltungen der anderen anzupassen, sagt eine 19Jährige im Zug von Nara nach Osaka. Und: Was sei das für eine Befreiung gewesen, als während der Pandemie die Strassen wie leergefegt waren.

Beim Frühstück tragen einige das Hotel-Pyjama. Eine Premiere für mich. Minutenlang kämpfe ich mit den Essstäbchen und versuche sie voneinander zu trennen. Komme mir vor wie einer dieser Volltrottel in Unterhaltungsfilmen, der drauf und dran ist, die Stäbchen auseinander zu beissen.

Drei Mal ist es mir innert einer Woche passiert, dass ich chinesische Touristen, die ich für Einheimische hielt, um Auskünfte fragte. Oft waren sie noch desorientierter als ich.

Als ich einst in China unterrichtete, fragte ich die Studenten, ob sie Chinesen, Japaner und Koreaner auseinanderhalten könnten. Nein, könnten sie nicht. Der redefreudige Chinese im Hotellift behauptet hingegen, man könne sie klar unterscheiden: "Different Hairstyle".

Verblüfft bin ich, wie wenige Hotelangestellte ein einigermassen passables Englisch sprechen. 

Nach zwei Tagen beschloss ich, mich auf den Weg zum Don Quijote zu machen, wo es den von mir gewünschten Adapter geben soll. Den Weg zu finden ist nicht ganz einfach, doch die Japaner sind sehr freundlich und hilfsbereit und schliesslich lande ich in einem Laden, der mich von aussen an eine Jahrmarktsbude erinnert und Kunterbuntes anbietet, von Haushaltwaren über Elektronik bis zu Adaptern.

Don Quijote liegt in einer Gegend, wo sich Supermärkte, Industrieanlagen und andere Grossbetriebe häufen. Und so kriege ich ein Nara zu sehen, das wohl den meisten Touristen entgehen wird. Solche Gegenden scheinen mir weltweit uniform. Der lange Weg dorthin war jedoch sehr japanisch - ruhige, gepflegte Seitenstrassen mit immer mal wieder beeindruckender Architektur und exotischen Pflanzen.

Nara, Japan, 2. Oktober 2025

Wednesday, 1 October 2025

Observations in Osaka and Kyoto

I'm not suprised that I find toothbrush, pyjama, and razor in "my" hotel room in Osaka. I remember that from my first visit to Japan six years ago. I'm however surprised that "my" hotel in Kyoto doesn't provide these amenities. Very well then, I'm thinking to myself, this is probably the price that you pay when you choose to check-in a robot-assisted hotel although it later turned out that I had been wrong for all the usual amenites were actually provided (they simply were not in the room but had to be picked up next to the reception).

This is my second time (the other was in Delhi) that I'm staying in a room without windows. It irritates me.

Osaka, 25 September 2025

When I arrive for breakfast, I'm greeted with signs in English that explain what is what. There is also a sign in Italian that states one should limit breakfast time to 40 minutes.

If you are not into big crowds, Japan is probably not for you. The masses that populate Kyoto Station or Osaka Station are hard to believe. Moreover, that these places function is a remarkable feat.

A couple from Australia who has seemingly done all the required tourist-things lets me know that to get up early in order to avoid the crowds is an absolute must. They sounded somehow stressed and so I've decided to skip anything remotely touristic. I do however pass by some temples and also venture into a park that pretty much looks like parks usually do. But then I come across a temple and a park reminiscent of the Zen-pictures in my head and I feel truly  enchanted.

Kyoto, 27 September 2025

My first encounter with things Japanese I had when, at the age of 17, I read Zen-Buddhism and Psychoanalysis by Suzuki, Fromm and de Martino. It had a lasting effect on me for I can still recall what I perceive to be essential to Zen: Not to analyse but to experience.

My walks through Osaka and Kyoto take me mostly along side streets that are often empty and radiate a quietness that I experience as magic. Moreover, these vibes make me feel present in a way that I rarely sense.

Sunday, 28 September 2025

Glimpses of Japan

My first stroll around "my" hotel in Osaka lands me in Korea Town where consumerism is in full bloom. Not many people speak English, and not many (including me) are adept at reading electronic maps. One young employee at "my" hotel is however so fluent and without a trace of an accent that I wonder where he learned  it. From listening to music, he says; he has never been abroad.

Ratatouille with chicken was among the dishes offered for breakfast. A first for me - it tasted fabulously. And then there were pancakes, pain au chocolat, salads, granola and ...

Yöu need to go to Namba, I am told. It is where everybody goes. And so, reluctantly, I go ... only to turn around almost immediately. Too many people, definitely. Instead I am opting for side streets next to "my" hotel that are amazingly quiet and remind me of "my" Bangkok of 30 years ago.

The bagel I later ordered I thought a bit overpriced until I realised that I had ordered a full menu with soup and iced tea.

Osaka, Japan, 24 September 2025

In my younger years I often felt compelled to go and do this and that. I'm glad I do not feel like this anymore. When riding on a train, for instance, I nowadays rather often look out the window instead of educating myself with a book. To simply do nothing is new to me. Do I enjoy it? No idea, really; it's what I do.

The excitement I most of my life experienced when travelling (how exotic everything foreign appeared, and how cosmopolitan I felt to be where I imagined life was happening) is gone. A certain calm has settled in - which however does not apply when I have to rapidly change planes. Also, in recent years I have often had the sensation of being where I wasn't, physically that is. In the Hungarian town of Debrecen it felt like I was in Mendoza, Argentina; and here in Osaka it sometimes feels like I could be pretty much anywhere in Asia.

To aimlessly wander about town motivates me to concentrate on my walking. There isn't much more to do. It feels kinda numbing, like you're not really here. Also, it is rainy and warm, the sky is grey. In a cafe I start reading Shusaku Endo's The Samurai.

 The times when I do not know what to do have definitely increased, the older I have become, things do not seem so important anymore or am I fooling myself?

I wonder why I fancy hotel rooms. Could it be because my stay will be temporary? I'm often simply lying on the bed doing nothing; this is totally new to me for doing nothing has never figured even as an option. Instead there has always been the imperative to do something.

As usual I take a lot of photographs, mostly of flowers. Quite some I know from Brasil, others from my native Switzerland. The one below however is new to me.

Osaka, Japan, 25 September 2025

My sandals are falling apart; I decide to buy new ones. The people I ask for shops are shrugging their shoulders, save for the owner of a shoe shop who gives me directions in Japanese that I do not understand. I do however embark on the way she has indicated, ask again and then realise that I have given this man a headache because sandals for men are obviously not common in Japan. Don't worry, I said, and dropped my sandals-project.

All these people running from here to there, it is mind boggling.and, from time to time I'm asking myself: What am I actually doing here? No idea, really. In any case: Big cities are clearly a thing of the past for me

The young couple near the train station in Kyoto who is showing me the way to "my" hotel is about to get married. Tomorrow, their families will meet for the first time. They confess to be nervous and, after the wedding, plan to move to Tokyo where the future husband is from.

The check-in at the hotel works robot-assisted, I'm informed. This means you register yourself using an iPad while being observed by a dinosaur who's moving back and forth.

Finally, the sun shows up. This is the first time since I arrived four days ago. It is irritating how my soul is depending on the weather.

Wednesday, 24 September 2025

Bob Dylan: Ich bin nur ich selbst, wer immer das ist

Für mich ist Bob Dylan ein hervorragender Songwriter, seine Stimme ist hingegen nicht so mein Ding. Versionen seiner Songs von anderen Interpreten ziehe ich (meistens, nicht immer) vor. Als Dichter habe ich ihn nie wirklich wahrgenommen, obwohl ich einige seiner Liedzeilen auswendig kann, was natürlich auch daran liegt, dass Dylan-Songs zum Repertoire des Gitarrenduos gehörte, von dem ich einstmals ein Teil war.

Ich habe Sänger und Songwriter nie als Denker begriffen. Möglicherweise deswegen nicht, weil die Songs, die ich früher selbst geschrieben habe, intuitiv entstanden und ich Intuition und Verstand lange Zeit als Gegensatzpaare begriffen habe. Diese Interviews haben mich eines Besseren belehrt.

Eingeleitet werden die Gespräche von Heinrich Detering, der Dylans Satz: „The people in the songs are all me“ so kommentiert: „So erstaunlich diese Behauptung angesichts von Songfiguren klingt, die im spanisch-amerikanischen Krieg mitgekämpft haben, zum Schlägertrupp eines Bandenchefs gehören oder während ihres Monologs allmählich im Wahnsinn nächtlicher Halluzinationen versinken, so kennzeichnend ist sie für Dylans Songpoetik.“ Eine Sichtweise, die mich schmunzeln machte, da ich Dylans Satz ganz anders lese, nämlich so: Alle Aussagen, die wir über uns und die Welt machen, sind Aussagen über uns selber, denn etwas anderes kennen wir nicht, und können wir auch gar nicht kennen. Übrigens: Bei allen Wandlungen, die Dylan durchgemacht hat, so Deterich, ist sein „politisch-moralischer Wertekanon“ stabil geblieben. Wer auch immer wir sind, was auch immer wir tun, ein Kern in uns bleibt sich anscheinend immer gleich.

Die Gespräche sind chronologisch angeordnet. Da ich mit Bob Dylan-Songs gross geworden bin, erlaubt mir das eine ganz wunderbare Zeitreise in meine eigene Vergangenheit. Was mir bei den ersten zwei Interviews aus den 60er Jahren auffällt: Dass ich immer mal wieder lachen muss, was mich überrascht, denn ich habe Dylan bisher nicht mit Humor in Verbindung gebracht. Auf mich wirkte er meist abweisend und mürrisch, dabei ist er sehr witzig und schlagfertig.

Ich bin ganz erstaunt wie clever dieser Mann ist. Das liegt natürlich auch daran, dass ich mich nie wirklich mit ihm befasst habe. Jedenfalls verblüfft mich ungemein, wie eigenständig und hellsichtig sich der damals 24Jährige zu Museen und Galerien, ja zum Kunstbetrieb insgesamt äussert. Mit Labels wie „Protestsänger“, „Rock'n'Roll“ oder „Folkmusic“ kann er nichts anfangen. Er tut einfach, was er tut. „Ich schreibe, seit ich acht war. Ich spiele Gitarre, seit ich zehn war. Ich bin damit aufgewachsen, zu spielen und zu schreiben, was ich spielen und schreiben musste.“

Was denkt er über Politik, Hochschulen, Protestbewegungen und und und? Kaum ein Feld wird ausgelassen. Umso erfreulicher ist, dass es Dylan offenbar nicht drängt zu Allem eine Meinung zu haben. Doch die, die er hat, sind Ausdruck eigenständigen Denkens. Er selber hat das Studium abgebrochen, würde er anderen auch dazu raten? Nein, würde er nicht, doch „Ich würde ihm einfach das Studium nicht finanzieren.“ Hat er als Junge Präsident werden wollen? „Nein. Als ich ein Junge war, war Harry Truman Präsident. Und wer möchte schon Harry Truman sein?“

Berührend fand ich insbesondere, was er über sein Aufwachsen im nördlichen Minnesota sagte. „Im Winter war dort alles vollkommen still, nichts bewegte sich. Acht Monate lang.(...) Der ganze Mittlere Westen hat etwas stark Spirituelles, sehr subtil, sehr stark.“ Ich fühlte mich an Kathleen Norris' Dakota. A spiritual Geography sowie an Robert M. Pirsigs (in Zen und Die Kunst, ein Motorrad zu warten) Schilderung der Dakotas erinnert, die ihm deswegen speziell waren, weil sie nichts Besonderes versprachen und deshalb auch nichts einzulösen brauchten.

Selbstverständlich habe er ein Ziel und eine Mission, sagt Dylan und zitiert Henry Miller: „Die Rolle des Künstlers ist es, die Welt mit Desillusionierung zu impfen.“ Nicht alle Songs haben die Zeit gut überstanden, wie er auch selber meint.

Die einzigen wahren Spiegel seien Wasserpfützen, sagt er einmal. Und führt dann aus: „Ein Bild, das Sie in einer Wasserpfütze sehen, führt in die Tiefe. Ein Bild, das man beim Blick in ein Stück Glas sieht, hat keine Tiefe und keine lebendig gewellte Bewegung.“ Ich bin nur ich selbst, wer immer das ist enthält ganz viele solch smarter Aussagen. “Es geht nicht um die Songtexte. Die Leute denken das immer, und vielleicht geht es auf den Platten um die Texte, aber auf der Bühne sind nicht die Texte das Entscheidende, sondern alles läuft über die Phrasierung, die Dynamik und den Rhythmus.“ Wahre Worte!

Die Palette, über die sich Dylan in diesen Gesprächen auslässt, ist ungeheuer breit. Von Shakespeare zu Elvis, vom Lesen der Bibel zum Malen, von Hitler bis zu meiner Lieblingsantwort (auf die Frage, ob er glaube, was einige behaupteten, dass Jim Morrison in den Anden lebe): „Ich habe bisher nicht das Bedürfnis gehabt, mir dazu eine Meinung zu bilden ...“.

Das Ich-Jahrzehnt hat Tom Wolfe die 1970er Jahre genannt. Diese Ich-Zeit dauert nach wie vor an, alles wird in der heutigen Zeit personalisiert, auf sich selber bezogen. Welt- und lebensfremder geht kaum. Umso erfreulicher ist, dass Dylan davon wenig infiziert scheint. „Als 'Hound Dog' im Radio lief, war meine Reaktion nicht: 'Wow, was für ein toller Song, wer den wohl geschrieben hat?' Mir war im Grunde gleichgültig, wer ihn geschrieben hat. Es war egal. Er war einfach ... er war einfach da.“

Fazit: Grossartig! Eine überaus erhellende, anregende und sympathische Zeitreise!

Bob Dylan
Ich bin nur ich selbst, wer immer das ist
Gespräche aus sechzig Jahren
Kampa Verlag, Zürich 2021

Sunday, 21 September 2025

YELLOWFACE

Athena Liu hat alles: Erfolg und Aufmerksamkeit. Nicht nur, weil sie gut schreibt, sondern weil sie cool ist. Ihre Freundin June Hayward, selber Autorin, neidet ihr ihren Erfolg. Nichtdestotrotz verstehen sich die beiden. Athena zeigt June ihr neues Manuskript, June ist begeistert, tut jedoch so, als ob sie viel zu viel getrunken habe, um den Text beurteilen zu können. Kurz darauf stirbt Athena bei einem Unfall. June nimmt den Text an sich, überarbeitet ihn und gibt ihn als ihren eigenen aus.

Die Überlegungen, die sich June zu diesem Diebstahl und den nachfolgenden Lügen macht, sind so plausibel, wie das Rationalisierungen oft sind. Ihr Agent findet einen Verlag für sie. Dabei lernt man einiges über das moderne Verlagsgeschäft, in dem es von politischer Korrektheit und Missgunst nur so wimmelt. Das geht von kultureller Aneignung über Mikroaggressionen zu Sensitivity Readern.

Ihr Verlag glaubt an sie und fördert sie, doch eine Mitarbeiterin ist ihr feindlich gesinnt. Ihr Buch wird ein Erfolg; bei einer vollbesetzten Lesung trifft sie dann fast der Schlag, als sie glaubt, eine ihr bestens bekannte Person (wer, soll hier nicht verraten werden) im Publikum zu entdecken. Überraschend und clever ist dieser Roman..

Die Verwandlung von June Hayward zu Juniper Song, von einer privaten zu einer öffentlichen Person, wird überaus eindrücklich geschildert. Wer schon einmal eine sogenannte Fernsehpersönlichkeit privat erlebt hat, weiss, dass die von den Medien vermittelte Welt künstlicher und lebensfremder nicht sein könnte. Auch das lehrt einen dieser gut geschriebene Roman.

Das Buch, das June bzw. Athena verfasst hat, handelt vom Chinesischen Arbeitskorps im Ersten Weltkrieg. Natürlich (so sind die Zeiten) wird sie angefeindet, weil sie als Nicht-Chinesin angeblich kein Recht habe, eine solche Geschichte zu schreiben. Ganz so, als ob Chinesen andere Quellen zu Rate ziehen würden als Weisse. Als sie dann jedoch bei einer Lesung auf einen Mann trifft, dessen Onkel Teil dieses chinesischen Arbeitskorps gewesen ist, überkommen sie auf einmal Gefühle von Trauer und Unzulänglichkeit.

Eine Produktionsfirma aus Hollywood interessiert sich für eine Verfilmung, als plötzlich Angriffe auf Twitter erscheinen, die June des Plagiats an Athena bezichtigen. Ein Shitstorm entlädt sich. Wie die Autorin diesen schildert, macht wieder einmal deutlich, dass, was einmal im Internet landet, Gefahr läuft, sich unkontrolliert zu verselbständigen.

Wie geht man damit um, wenn man im Internet zum Hassobjekt wird? Das wird packend geschildert und nachvollziehbar gemacht. YELLOWFACE führt vor, wie abhängig wir von der digitalen Welt geworden sind und wie die gutgemeinten Ratschläge, wie man sich davon lossagen könnte, letztlich ins Leere laufen, weil die Abhängigkeiten in uns begründet sind und wir uns nun einmal nicht ändern wollen.

YELLOWFACE zeigt anhand der Verlagsbranche wie ausschliesslich Meinungs-bezogen die moderne Welt funktioniert. Kaum jemand informiert sich über die Fakten. "Der Grossteil der (an einem Shitstorm) beteiligten Account schert sich ganz offensichtlich nicht um die Wahrheit. Sie sind hier, weil sie Unterhaltung suchen. Diese Leute lieben es, ein Angriffsziel zu haben und sie würden alles auseinandernehmen, was man ihnen vorsetzt."

Das Internet bzw. die sozialen Medien, einst mit dem Versprechen angetreten, uns freier und unabhängiger zu machen, haben grösstenteils zum Gegenteil geführt: Kaum jemand traut sich noch zu sagen, was er oder sie wirklich denkt. 

YELLOWFACE, dieses packende, differenzierte und überaus treffendes Porträt der Verlagsbranche, ist gleichzeitig ein spannender Thriller wie auch ein überzeugendes Dokument des Zeitgeistes.

Fazit: Eine glänzend geschriebene, clevere, praktisch-philosophische Auseinandersetzung mit des Menschen grösstem Talent: Der Fähigkeit, sich selbst zu belügen.

Rebecca F. Kuang
YELLOWFACE
Eichborn, Köln 2025

Wednesday, 17 September 2025

Bruchstücke

Hans Joachim Schädlich, geboren 1935, ist gemäss der Zeit "einer der ganz Grossen in der zeitgenössischen deutschen Literatur". Und die Süddeutsche meint: "In Hans Joachim Schädlichs Prosa wird das 20. Jahrhundert entschlüsselt." Nichtssagender geht eigentlich kaum. Ich selber kenne sein Werk nicht; in diesem Erinnerungsbuch, so der Verlag, stehe "die Verknappung als Prinzip über allem."

Ich mag Bruchstücke, ziehe sie den sogenannt grösseren Zusammenhängen vor, die weit konstruierter sind als die konkreten, fassbaren, in sich geschlossenen Geschichten. Eine der ersten handelt von einer gelungenen Flucht von Ostberlin in den Westen. Clever und überraschend; eine eindrückliche Geschichte, schnörkellos erzählt, die nachhallt.

Um viele dieser Bruchstücke zu verstehen, ist es allerdings nötig, den weiteren Zusammenhang zu kennen. Da der Autor diesen voraussetzt, schliesst er Leser wie mich von Einigem ihm Bedeutsamen, wie ich vermute (sonst hätte er es wohl kaum aufnotiert), aus. Ich komme damit bestens klar.

Was den Autor zu dieser Auswahl von so völlig Disparatem bewogen hat, hat sich mir nicht erschlossen. Andererseits: Wer weiss schon, wie unser Gedächtnis funktioniert? Die Geschichten mit DDR-Bezug werden Leute mit einschlägigen Erfahrungen besser zu würdigen wissen als ich es vermag. Dass Günter Grass suggerierte, Geheimpolizeien in Demokratien und Diktaturen seien gleichzusetzen, führte zum Freundschaftsabbruch.

Ich lese Bücher auch zur Bestätigung. Die Lektüre von Bruchstücke bekräftigt unter anderem meine Abneigung gegenüber Günter Grass, Stefan Heym und Hans Mayer. Zu den für mich berührenden Menschen in diesem Werk gehört der warmherzige Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, der den Autor aufklärt: "Du musst nicht gesund leben – du musst leben."

Ob es Hans Joachim Schädlich erlaubt sein würde, die DDR zu verlassen, hing lange Zeit in der Schwebe. Wie er diese Ungewissheit schildert, ist meisterhaft. Auch die von Angst und Schrecken geprägte DDR-Atmosphäre weiss er eindrücklich zu vermitteln. "Heute kann sich kaum noch jemand vorstellen, dass die Lage gefährlich war. Der Stasi schlug um sich, und niemand wusste, vor wem sie nicht haltmachte."

Befremdend fand ich hingegen das für meine Begriffe übermässige name dropping (also Selbstlob) sowie die Tatsache, wie unglaublich wichtig Schriftsteller sich nehmen. Andererseits: Uneitle Autoren sind eigentlich kaum vorstellbar.

Es ist eine eigenartige und deswegen faszinierende Zusammenstellung, die Hans Joachim Schädlich hier vorlegt. Das geht von Klatsch (zu Gast bei den Gettys in New York) über die wenig originelle Meinung eines New Yorker Taxifahrers zu Frauen bis zu literarischen Veranstaltungen in Moskau. Dabei zeigt sich auch, dass die Aufrichtigen und Anständigen unter den Literaten so dünn gesät sind wie beim Rest der Bevölkerung.

Ausnehmend gut gefallen hat mir das Nebeneinander von Banalem, Witzigem, und Aufklärendem, das ein womöglich realistischeres Bild des Autors vermittelt, als es die in eine Chronologie gepresste Version seines Lebens vermöchte. Als Einstieg sei "Deckname Wilhelm" empfohlen – aberwitziger geht kaum.

Hans Joachim Schädlich
Bruchstücke
Rowohlt, Hamburg 2025

Sunday, 14 September 2025

Der geträumte Norden

Der 1968 geborene Adwin de Kluyver, Autor und Historiker, berichtet in diesem Werk von Reisenden und Forschern, von Entdeckern und Träumern. Unter ihnen war auch der Mediziner Olof Rudbeck, Rektor der Universität von Uppsala, der neben Medizin auch Schiffbau und Feuerwerkstechnik unterrichtete. Eine Kombination, die in der heutigen Zeit der Spezialisierung, exotischer kaum wirken könnte.

Am Anfang seines Entdeckerdrangs standen die Atlanten, ganz unterschiedliche, die Adwin de Kluyver vom Norden träumen liessen. Von längst vergessenen Weltbildern erzählt er (und man fragt sich unwillkürlich, ob kommende Generationen unsere Weltbilder genauso belächeln werden wie wir diejenigen unserer Vorfahren), und von Lady Jane Franklin, die seit Jahren nichts mehr von ihrem Mann, Sir John Franklin, gehört hatte und sich weigerte, die Hoffnung aufzugeben; und von seiner eigenen Erfahrung im höchsten Norden, als er eine Beinlänge vor dem Abgrund auf dem Rücken zu liegen kam.

Der geträumte Norden ist ein gelehrtes Werk, im klassischen Sinne: Es stützt sich darauf, was andere (angeblich) uns mitgeteilt haben. Adwin de Kluyver berichtet aus dem Jahre 325 v.Chr. vom damaligen Marseille, als sei er vor Ort gewesen, ebenso von Northumbria aus dem Jahre 635 n. Chr. Nicht, dass ich an seinen Ausführungen zweifeln will (er kennt sich aus, ich nicht), doch geht mir immer mal wieder Montaignes Diktum, wir seien bloss les interprètes des interprétations durch den Kopf.

Historiker verfügen über eine reiche Fantasie. Was die Menschen vor langer Zeit beschäftigt hat, können sie natürlich genau so wenig wissen wie wir anderen auch, doch die Gedanken, die sie sich dazu gemacht haben, orientieren sich an verbürgten Fakten, was sie liefern sind educated guesses, und die lohnen sich allemal.

Adwin de Kluyver ist ein begabter Erzähler und weiss auch viel Dramatisches zu berichten. Wie er etwa den Angriff eines Eisbären auf die etwa zwanzig Diamanten-hungrigen Matrosen am 6. September 1595 bei Stateneiland schildert, lässt einen gleichsam das Blut in den Adern gefrieren. Dass er dann allerdings zu wissen vorgibt, was ein Bär empfindet ( "Er spürte alle Kraft aus seinen Muskeln schwinden. Es wurde dunkel."), ist dann jedoch nichts anderes als Projektion. Natürlich weiss das der Autor, schliesslich heisst sein Buch Der geträumte Norden.

Auch den Leser verleitet die Erzählkunst Adwin de Kluyvers zum Träumen, denn dieser nicht zuletzt überaus lehrreiche Text löst ganz wunderbare Bilder in meinem Kopf aus. Und er macht mich auf gar viel aufmerksam, von dem ich keine Ahnung hatte. So wusste ich nicht, dass Grönland die grösste Insel der Welt ist, und dass sie bis vor einer halben Millon Jahren grün war, Genauso neu war mir, dass es im norwegischen Bergen pro Jahr nur gerade zehn trockene Tage gibt!

Von Roald Amundsen werden einige schon gehört haben. Doch nicht nur von ihm und seinem Geltungsdrang, den er mit dem Tod bezahlte, erfahren wir, sondern auch vom Journalisten Frans Schiphorst, der auf der Suche nach einem publizistischen Knüller auf Sjef van Dongen stiess und entschlossen war, diesen zum nächsten niederländischen Polhelden zu machen. Dabei wird auch deutlich, dass wir ohne Medienpropaganda von gar vielem überhaupt nichts wüssten.

Der geträumte Norden lehrt uns viel Aufschlussreiches. Etwa, dass der Jesuit Athanasius Kircher (1602-1680) die These vertreten hatte, "dass die Pest durch ein kleines Tierchen (einen Mikroorganismus) im Blutkreislauf hervorgerufen werde." Oder wie die Amerikaner ticken, was Adwin de Kluyver am Beispiel des Journalisten Walter Wellman illustriert. "Dass er keinerlei Erfahrung mit Polreisen hatte, kümmerte ihn nicht. Wir Amerikaner lamentieren nicht, wir packen die Dinge an, war sein Motto. Alles war käuflich, auch das Wissen über Polreisen."

Bücher laden ein zu Kopfreisen. Und Der geträumte Norden ganz besonders.
Unterhaltsame Aufklärung vom Feinsten!

Adwin de Kluyver
Der geträumte Norden
mare, Hamburg 2025

Wednesday, 10 September 2025

Literaturtipps für jeden Tag

Rainer Moritz, geboren 1958, leitete 20 Jahre das Literaturhaus Hamburg, Was er mit Das Jahr in Büchern. Literaturtipps für jeden Tag vorlegt, ist genau das, was der Untertitel verspricht. Dass seine Auswahl eine subjektive ist, versteht sich von selbst; dass sie recht nüchtern geraten ist (viel Begeisterung habe ich jedenfalls nicht herausgespürt), muss kein Nachteil sein. Nicht nur als Orientierungshilfe eignet sich diese Auswahl bestens, sie macht auch neugierig, wenn auch nicht auf Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968 von Peter Handke, dem mit Abstand überflüssigsten Text in diesem Band.

"Die knappen – eine Seite pro Titel – Inhaltsangaben sollen Lust darauf machen, die eigenen Regale wieder einmal abzuschreiten oder Buchhandlungen, Antiquariate und Bibliotheken aufzusuchen." Ein Pädagoge also, der einem auch gleich noch sagt, was man alles tun soll! Ich selber habe mir meine eigenen Regale und mein Gedächtnis vorgenommen.

Richtiggehend entzückt hat mich, dass Autor Moritz auch Elf Freunde müsst ihr sein von Sammy Drechsel in seine 366 Literaturtipps aufgenommen hat, denn das war das allererste Buch, das ich richtiggehend verschlungen habe. Ich war damals fussballverrückt und von den Wilmersdorfern Schülern und ihren fussballerischen Vorbildern richtiggehend hingerissen.

Unter den in diesem Band empfohlenen gibt es etliche Werke, die ich in allerbester Erinnerung habe. Darunter Kleine Dinge wie diese von Claire Keegan, das ausgesprochen sensibel von der Frage handelt, ob man einschreiten oder sich abwenden soll, wenn man mit Unrecht konfrontiert ist. Demon Copperhead von Barbara Kingsolver, einer dieser seltenen Romane, die einen mehr über das (Über)leben lehren, als Schule und Medien zusammen. Ein wenig Leben von Hanya Yanagihara, das eindrücklich die menschliche Tragik in Worte fasst, dass wer andern helfen kann, häufig nicht in der Lage ist, sich selber zu helfen oder helfen zu lassen.

Von ganz vielen, der in diesem Band versammelten Werke kenne ich gerade einmal die Titel oder die Namen der Autorinnen bzw. der Autoren; von anderen hatte ich noch gar nie gehört, darunter auch von Vielleicht die letzte Liebe von Rainer Moritz selber, das auch davon handelt, dass "der tagtägliche Umgang mit dem Tod Bernard nicht zu einem depressiven, sondern zu einem gelassenen Menschen (macht), der mit der konfus gewordenen Welt besser zurechtkommt." Wunderbar! Wer darauf nicht neugierig wird, dem ist nicht zu helfen.

Ganz besonders zugesagt hat mir, dass der Autor sich nicht mit Genre-Grenzen aufgehalten hat, sondern quer durch den Garten Bücher empfiehlt. Von Krimis wie Nobels Testament von Liza Marklund zu Die Lady im See von Raymond Chandler zu Romanen von Richard Yates, Graham Swift sowie GB84, dem aussergewöhnlichen Zeitdokument von David Peace.

Auch Klassiker kommen übrigens nicht zu kurz. Das geht von Winternacht von Joseph von Eichendorff über Nicht nur zur Weihnachtszeit von Heinrich Böll zu Immensee von Theodor Storm. Zu erwähnen gehört aber auch eines meiner nachhaltigsten Leseerlebnisse überhaupt: Trauriger Tiger von Neige Sinno, von dem der Autor treffend schreibt, es sei "ein flammendes, nie um Mitleid heischendes Plädoyer für die Opfer und gegen die Verharmlosung der hemmungslosen Täter."

"Wer (Sarah Bakewells Café der Existenzialisten angenehm berauscht verlässt, fühlt sich klüger als beim Betreten    und gut unterhalten." Das trifft auch für Das Jahr in Büchern zu.

Rainer Moritz
Das Jahr in Büchern
Literaturtipps für jeden Tag
Reclam, Ditzingen 2025

Sunday, 7 September 2025

nietzsche global

 
Das Vorwort bringt es so recht eigentlich auf den Punkt: "Ein anderer Name für Widerspruch ist Nietzsche. Nietzsche widersprach – den Erklärungen, mit denen die Menschen sich die Welt zurechtlegten, und er widersprach sich selbst."

Es gibt ganz viele Sätze in diesem mit grossem Genuss zu lesenden, überaus kenntnisreichen Vorwort, die man sich anstreichen sollte, darunter der wohl wichtigste: "Der Umgang mit Nietzsche, die Zitate, die man vor sich herträgt, sagen entsprechend weniger über diesen selbst als über die jeweiligen Fahnenträger aus." We do not see things as they are, we see things as we are, heisst es im Talmud.

Wunderbar, wie Elmar Schenkel das Wesentliche (zugegeben das für mich Wesentliche herausschält): "Nietzsches Rückführung des Denkens auf das leibliche, seine Bejahung des Lebens gegen alle Schwierigkeiten, sein eigenes, tragisches Leben bewegt Menschen mehr als die Frage, wo genau er in der philosophischen Tradition steht."

nietzsche global ist eine Schatztruhe; sagenhaft, was der Autor da alles zusammengetragen hat. Umso erstaunlicher, dass dieses hier präsentierte umfangreiche Wissen seinen Ausgangspunkt in Elmar Schenkels Museumsdienst gefunden hat. Da ich Museen generell mit Verstaubtem assoziiere und mir begeisterte Museumsbesucher ein Rätsel sind, tun mir diese Ausführungen Welten auf, nicht zuletzt, weil sie deutlich machen, dass sich in Nietzsche ganz offenbar etwas manifestiert hatte, das in vielen von uns schlummert. "Nietzsche spricht in das Innere des Menschen hinein, zu menschlichen Grundbedürfnissen; in diesem Sinne ist er 'spirituell'".

Was dieses Werk auch an zahlreichen Beispielen aufzeigt: Geschmäcker und Einstellungen können sich wandeln. Dazu kommt: kaum eine Bewegung, die nicht versuchte, Nietzsche zu vereinnahmen, von den belgischen anarchistischen Blättern bis zu den Nazis. Nietzsche als Selbstbedienungsladen? Andererseits: Geht es nicht allen so, die sich öffentlich äussern? Wäre Nichtbeachtung womöglich schlimmer? "Nietzsche leidet unter dem Desinteresse der intellektuellen Öffentlichkeit an seinen, wie er meint, bahnbrechenden Werken."

Gestaunt habe ich über die bunte Mischung an Nietzsche-Lesern, die hier zur Sprache kommen. Von Camus' Freundin Maria Casarès, die von der Nietzsche-Lektüre gepackt wurde, zu Osho, der den dionysischen Tanz, das amor fati, die Bejahung des Lebens und der Leiblichkeit hervorstreicht. Mit diesem Satz gehe ich hingegen gar nicht einig: "Obwohl Osho von vielen als Scharlatan wahrgenommen wird, sind seine Aussagen zu Nietzsche doch lesenswert. weil sie den Blickwinkel einer anderen Kultur freilagen." Nein, nicht deswegen, sondern weil Osho das Wesentliche an Nietzsche erfasst hat.

Selten ist mir deutlicher vor Augen geführt worden, dass man so ziemlich alles in einen Text bzw. in einen Menschen hineinlesen kann, Verwunderlich ist das nicht, denn begründen lässt sich bekanntlich alles. Und vielleicht liegt ja darin eines der wesentlichen Probleme unserer Existenz: Dass wir viel zu sehr dem Intellekt vertrauen, obwohl wir doch wissen, dass er uns immer mal wieder in die Irre führt. Doch das wäre eine andere Geschichte und nicht Thema dieses verdienstvollen, weil überaus anregenden Werkes.

Die Verbindungen, die Elmar Schenkel herzustellen weiss, setzt nicht nur eine imponierende Belesenheit, sondern auch ein aussergewöhnliches Talent voraus, zum Teil recht Disparates unter einen Hut zu bringen, schliesslich versammelt er nicht nur Anhänger von Nietzsches Gedankenwelt, sondern auch deren Gegner.

Für mich entpuppte sich nietzsche global als bereichernde Entdeckungsreise, die mich einerseits einige Autoren in neuem Licht sehen liess ((G.K. Chesterton etwa), mich mit etlichen bekannt machte, die ich nicht kannte (ich verzichte auf Beispiele, es wären zu viele) und mir unter vielen anderen auch den mexikanischen Dichter Alfonso Reyes vorstellte, der seinem Freund Ureña aus der Dominikanischen Republik schrieb, "er habe sich zweieinhalb Tage lang der Lektüre von Die Geburt der Tragödie gewidmet, was ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht und seine Gedankenwelt durcheinandergewirbelt habe." So in etwa ist es mit einst mit Also sprach Zarathustra ergangen, das ich jetzt wieder hervorhole ...

Elmar Schenkel
nietzsche global
Im 80 Übermenschen um die Welt
Kröner Verlag, Stuttgart 2025