Notes on things intercultural, photography, the media, and other things that interest me
Wednesday, 29 October 2025
Eine Studie in Scharlachrot
Sunday, 26 October 2025
Wo das Eis niemals schmilzt
Wednesday, 22 October 2025
Das hier ist nicht Miami
Sunday, 19 October 2025
Godwin
Der charismatische Mark Wolfe („Alle kannten ihn als Wolfe, als wäre er ein Fernsehdetektiv.“), studierter Molekularbiologe, der bei der P4-Group als technischer Redakteur arbeitet, wird von seiner Chefin Lakesha zu einer Aussprache (Kunden hatten sich beschwert) in ein Café gebeten. Er taucht mit seinem Hund auf; seine Hundeerziehungsphilosophie sei, wie er erläuterte, von der benediktinischen Ordensregel inspiriert. „Ein zentraler Punkt dieser Philosophie, sagte er mir, besage, dass Hunde dann am zufriedensten seien, wenn sie keinerlei Zweifel an ihrem untergeordneten Verhältnis zu ihrem Besitzer hätten.“ Mit anderen Worten; Godwin ist ganz vieles – und ausgesprochen witzig.
Mark, ein hoch reflektierter, latent unzufriedener Mann, hat noch Freitage gut, die nimmt er jetzt. Gedanken über die stetig zunehmende Dummheit und das Ende des Menschen auf der Welt gehen ihm durch den Kopf – Godwin ist auch ein philosophischer Roman. Dann erreicht ihn ein Anruf seines Halbbruders Geoff, der seine Hilfe braucht und den er in der Folge in England aufsucht. Wie O'Neill diese Reise schildert, machte mich Tränen lachen, insbesondere Marks Ankunft in London, wo er von einem jungen Weissen abgeholt wird, der sich in einem „englischen Akzent oder Dialekt, den ich nicht verstehe“ äussert und „an jeder Ampel auf die Bremse steigt, als hätte er noch nie ein Rotlicht gesehen."
Geoff vermittelt Fussballer. Dabei ist er auch auf den jungen Afrikaner Godwin gestossen, einer fussballerischen Ausnahmeerscheinung. Geoff benötigt Marks Hilfe, um nicht ausgetrickst zu werden. Er habe selber auch schon einen Agenten ausgetrickst. „So laufe das nun mal in dieser Branche. Sie mache einen zu einem Menschen, der man eigentlich nicht sein wolle.“ Keine Frage, das beschreibt so recht eigentlich jede Branche.
Mark fährt für Geoff mit dem Zug nach Le Mans, um dort den französischen Fussballvermittler Jean-Luc Lefebvre aufzusuchen. Ihm wird zunehmend klar, dass sein Europa-Aufenthalt immer mehr ausser Kontrolle gerät. Seine Frau rät ihm telefonisch, zurückzufliegen. Er weiss zwar, dass er genau das tun sollte, doch glaubt er, seinem Impuls, die Flucht zu ergreifen, widerstehen zu müssen. „Ich habe in meinem Leben zu oft die Flucht ergriffen. Es hat mir nichts gebracht.“ Meisterhaft, wie Joseph O'Neill nachvollziehbar macht, wie wir unser ständiges Zögern rationalisieren. Es gehört zum Schicksal des Menschen, nicht zu tun, was er weiss, dass er zu tun hat.
Godwin handelt einerseits von Fussball und Spielergrössen wie Eusébio von Benfica Lissabon, modernen Umgangsformen und afrikanischen Fussballsitten, sowie andererseits von den Machtkämpfen bei der P4-Group, wo eine Frau namens Edil, deren Charakter es nicht zulässt, dass sie nicht im Mittelpunkt steht, die Atmosphäre vergiftet.
Dann taucht plötzlich Jean-Luc Lefebvre bei Mark in Pittsburgh auf – mit überraschenden Fakten. Dieser aussergewöhnlich begabte Geschichtenerzähler verbreitet sich nicht nur engagiert und ausführlich über die verschiedenen Aspekte des Fussballs, sondern auch über ganz vieles, überaus Instruktives aus Afrika (es ist dies auch die bei weitem nützlichste Afrika-Aufklärung, die ich kenne), Amerika und Europa zum besten gibt. „Theoretisch sah man Algerien und sah den Niger – aber in Wirklichkeit? Ein Gebiet ohne Menschen, ohne Strassen, ohne Wasser, ohne eine Vergangenheit oder Zukunft – konnte man ein solches Gebiet als Staat bezeichnen? Konnte der Mars ein Staat sein?“
Godwin ist ein überaus cleveres, spannend zu lesendes Porträt unserer Zeit, voller schlauer Einsichten, etwa zur Eitelkeit („Eitelkeit verweist auf Leere ...“), Reflexionen über das „Drama der Kontaktierbarkeit“, über den Unterschied von Mensch und Tier („Es ist die Fähigkeit zur Böswilligkeit, die den Menschen vom Tier scheidet.“) sowie Erkenntnissen fundamentaler Natur. „Das menschliche Leben, erzählt er uns, bestehe nicht nur aus untadeligem Verhalten, Verhalten, das erwartet werde. Die grossen Preise fielen nicht denen zu, die sich gemäss den Erwartungen verhielten.“
Praktisch auf jeder Seite gewinnt man nützliche Einsichten („Die Idee ist gut“, sagte ich. „Aber Ideen werden überbewertet. Du hast die Arbeit gemacht.“), die davon zeugen, dass da ein Autor am Werk ist, der zu denken versteht, und deshalb zu Schlüssen kommt, die von praktischer Relevanz sind. „Annie hatte begriffen, dass die Einzelheiten fast nie das eigentliche Problem sind. Das Problem ist vielmehr eine bestimmte Persönlichkeit – der unausgeglichene Mensch, der davon überzeugt ist, dass er unter ungerechten, aber stets verborgenen Mächten zu leiden hat.“
Es versteht sich: Unsere Lektüre ist von unserer Erwartungshaltung beeinflusst. Meine lässt sich so charakterisieren: Ich möchte unterhalten werden, Einsichten gewinnen und auf Gedanken stossen, die ich als hilfreich empfinde. Godwin hat diese Erwartungen nicht nur erfüllt, sondern übertroffen.
Fazit: Grossartig, ein wesentliches Buch! Packend, smart, witzig und weise.
Joseph O'Neill
Godwin
Roman
Rowohlt, Hamburg 2024
Wednesday, 15 October 2025
Der Augenblick & die Fotografie
Vom Augenblick wissen wir, dass er nicht zu fassen ist, denn er steht ausserhalb der Zeit, zu deren Eigenheiten die Dauer gehört. Albert Einstein war gemäss dem Philosophen Rudolf Carnap offenbar der Ansicht, „es gebe etwas Wesentliches bezüglich des Jetzt, das schlicht ausserhalb des Bereichs der Wissenschaft liege.“ Das liegt daran, dass die Wissenschaft sich am Messen bzw. am Zählen orientiert, von dem Einstein einmal gesagt hat: Nicht alles, was zähle, könne auch gezählt werden, und nicht alles, was gezählt werden könne, zähle auch etwas.
Claude Simon, Nobelpreis für Literatur 1985, macht darauf aufmerksam, dass der Fotographie „eine ziemlich seltsame Macht“ eigne, die ihn immer wieder in Erstaunen setze. „Es ist die Macht, festzuhalten und zu speichern, was unser Gedächtnis selbst zu behalten ausserstande ist, nämlich das Bild von etwas, das nur in einem winzigen Bruchteil der Zeit stattgefunden und existiert hat.“
Dieses Bild habe ich am 22. November 2020 in Château-d’Oex aufgenommen; möglich war dieses Foto nur in einem einzigen Augenblick, dem Moment der Aufnahme, niemals vorher und niemals nachher hat diese Szene genauso ausgesehen.
Fotografie wird oft mit dem Anhalten der Zeit in Verbindung gebracht, doch so recht eigentlich ist das falsch, denn der Augenblick ist keine Kategorie der Zeit, entzieht sich einem Vorher und Nachher. Die Fotografie hält fest, was das Gedächtnis nicht festhalten kann.
Betrachte ich jedoch diese Aufnahme, stellt sich automatisch die Zeit ein, denn ich sehe nicht nur diesen Augenblick, sondern noch ganz viele andere Bilder, die mich an den damaligen Aufenthalt erinnern. Dazu kommen noch ganz ganz viele weitere Bilder, die mit meinem damaligen Aufenthalt überhaupt nichts zu tun haben. Mein Hirn macht eben, was es will; es ist ausgesprochen selbstständig unterwegs und an meinen Hoffnungen und Wünschen offenbar wenig interessiert.
Sunday, 12 October 2025
On Travelling
I'm not anymore interested in what "my" culture or any other culture is telling me about what is important or what is not. In regards to travelling that means that I'm not doing the sights, I simply expose myself to where I find myself. Very much like a child whose experience of what surrounds it is not yet constrained by knowledge.
However, to try to free myself from lifelong conditionings is far from easy. For instance, to stay indoors when it is sunny outside is difficult to do for the imperative that one should go out in such weather and enjoy it is incredibly strong.
I'm not making myself knowledgeable for my trips. Before I arrived in Osaka, I had, for instance, not heard of Himeji and its castle, contrary to the many tourists who came specifically to visit the castle.
I prefer to venture into side streets that radiate a calm that is magical. I walk around and take pictures, mostly of flowers. Why I'm registering what I register I do not know. And, as far as I'm concerned, there is no need to know it.
Nevertheless, I'm quite automatically drawing comparisons. When walking through the side streets of Osaka and Himeji I'm often reminded of Bangkok. Needless to say my mind has its own ways.
The emotions and feelings that I'm aware of are the usual mix of joy, sadness and indifference. Although I've largely given up to try to make sense of it, I'm not as successful in this endeavour as I would like to be.
Wednesday, 8 October 2025
The Tottori Sand Dunes
Sunday, 5 October 2025
Japanische Entdeckungen
An Adapter für meinen Laptop heranzukommen ist nicht leicht. Eine überaus freundliche Verkäuferin in einem Elektronik-Markt erklärte: Es gäbe zwar solche Adapter für Japaner, die ins westliche Ausland reisen. Umgekehrt gelte das hingegen nicht. Sie bot mir an, ein paar Telefonate zu führen, um herauszufinden, wo es in dieser Grossstadt den von mir gewünschten Adapter gab. Sie wurde auch fündig, doch es war derart weit hin, dass ich beschloss, ein paar Tage auf meinen Laptop zu verzichten.
Omelette Sandwich; Reis, Gemüse und Fisch zum Frühstück.
Im Supermarkt in Nara habe ich bei der Münzen- Rückgabe offenbar eine Münze liegen gelassen. Eine Frau stürmt mir hinterher, mit meinen zehn Yen.
Das junge Paar aus dem Baskenland besucht auf ihren zahlreichen Reisen regelmässig die Supermärkte, des Vergleichs wegen.
Immer wieder staune ich über die vielen Menschen. Und darüber, dass das alles so gut funktioniert. Es sei anstrengend sich dauernd den Erwartungshaltungen der anderen anzupassen, sagt eine 19Jährige im Zug von Nara nach Osaka. Und: Was sei das für eine Befreiung gewesen, als während der Pandemie die Strassen wie leergefegt waren.
Beim Frühstück tragen einige das Hotel-Pyjama. Eine Premiere für mich. Minutenlang kämpfe ich mit den Essstäbchen und versuche sie voneinander zu trennen. Komme mir vor wie einer dieser Volltrottel in Unterhaltungsfilmen, der drauf und dran ist, die Stäbchen auseinander zu beissen.
Drei Mal ist es mir innert einer Woche passiert, dass ich chinesische Touristen, die ich für Einheimische hielt, um Auskünfte fragte. Oft waren sie noch desorientierter als ich.
Als ich einst in China unterrichtete, fragte ich die Studenten, ob sie Chinesen, Japaner und Koreaner auseinanderhalten könnten. Nein, könnten sie nicht. Der redefreudige Chinese im Hotellift behauptet hingegen, man könne sie klar unterscheiden: "Different Hairstyle".
Verblüfft bin ich, wie wenige Hotelangestellte ein einigermassen passables Englisch sprechen.
Nach zwei Tagen beschloss ich, mich auf den Weg zum Don Quijote zu machen, wo es den von mir gewünschten Adapter geben soll. Den Weg zu finden ist nicht ganz einfach, doch die Japaner sind sehr freundlich und hilfsbereit und schliesslich lande ich in einem Laden, der mich von aussen an eine Jahrmarktsbude erinnert und Kunterbuntes anbietet, von Haushaltwaren über Elektronik bis zu Adaptern.
Don Quijote liegt in einer Gegend, wo sich Supermärkte, Industrieanlagen und andere Grossbetriebe häufen. Und so kriege ich ein Nara zu sehen, das wohl den meisten Touristen entgehen wird. Solche Gegenden scheinen mir weltweit uniform. Der lange Weg dorthin war jedoch sehr japanisch - ruhige, gepflegte Seitenstrassen mit immer mal wieder beeindruckender Architektur und exotischen Pflanzen.
Nara, Japan, 2. Oktober 2025
Wednesday, 1 October 2025
Observations in Osaka and Kyoto
Sunday, 28 September 2025
Glimpses of Japan
My first stroll around "my" hotel in Osaka lands me in Korea Town where consumerism is in full bloom. Not many people speak English, and not many (including me) are adept at reading electronic maps. One young employee at "my" hotel is however so fluent and without a trace of an accent that I wonder where he learned it. From listening to music, he says; he has never been abroad.
Ratatouille with chicken was among the dishes offered for breakfast. A first for me - it tasted fabulously. And then there were pancakes, pain au chocolat, salads, granola and ...
Yöu need to go to Namba, I am told. It is where everybody goes. And so, reluctantly, I go ... only to turn around almost immediately. Too many people, definitely. Instead I am opting for side streets next to "my" hotel that are amazingly quiet and remind me of "my" Bangkok of 30 years ago.
The bagel I later ordered I thought a bit overpriced until I realised that I had ordered a full menu with soup and iced tea.
In my younger years I often felt compelled to go and do this and that. I'm glad I do not feel like this anymore. When riding on a train, for instance, I nowadays rather often look out the window instead of educating myself with a book. To simply do nothing is new to me. Do I enjoy it? No idea, really; it's what I do.
The excitement I most of my life experienced when travelling (how exotic everything foreign appeared, and how cosmopolitan I felt to be where I imagined life was happening) is gone. A certain calm has settled in - which however does not apply when I have to rapidly change planes. Also, in recent years I have often had the sensation of being where I wasn't, physically that is. In the Hungarian town of Debrecen it felt like I was in Mendoza, Argentina; and here in Osaka it sometimes feels like I could be pretty much anywhere in Asia.
To aimlessly wander about town motivates me to concentrate on my walking. There isn't much more to do. It feels kinda numbing, like you're not really here. Also, it is rainy and warm, the sky is grey. In a cafe I start reading Shusaku Endo's The Samurai.
The times when I do not know what to do have definitely increased, the older I have become, things do not seem so important anymore or am I fooling myself?
I wonder why I fancy hotel rooms. Could it be because my stay will be temporary? I'm often simply lying on the bed doing nothing; this is totally new to me for doing nothing has never figured even as an option. Instead there has always been the imperative to do something.
As usual I take a lot of photographs, mostly of flowers. Quite some I know from Brasil, others from my native Switzerland. The one below however is new to me.
My sandals are falling apart; I decide to buy new ones. The people I ask for shops are shrugging their shoulders, save for the owner of a shoe shop who gives me directions in Japanese that I do not understand. I do however embark on the way she has indicated, ask again and then realise that I have given this man a headache because sandals for men are obviously not common in Japan. Don't worry, I said, and dropped my sandals-project.
All these people running from here to there, it is mind boggling.and, from time to time I'm asking myself: What am I actually doing here? No idea, really. In any case: Big cities are clearly a thing of the past for me
The young couple near the train station in Kyoto who is showing me the way to "my" hotel is about to get married. Tomorrow, their families will meet for the first time. They confess to be nervous and, after the wedding, plan to move to Tokyo where the future husband is from.
The check-in at the hotel works robot-assisted, I'm informed. This means you register yourself using an iPad while being observed by a dinosaur who's moving back and forth.
Finally, the sun shows up. This is the first time since I arrived four days ago. It is irritating how my soul is depending on the weather.
Wednesday, 24 September 2025
Bob Dylan: Ich bin nur ich selbst, wer immer das ist
Für mich ist Bob Dylan ein hervorragender Songwriter, seine Stimme ist hingegen nicht so mein Ding. Versionen seiner Songs von anderen Interpreten ziehe ich (meistens, nicht immer) vor. Als Dichter habe ich ihn nie wirklich wahrgenommen, obwohl ich einige seiner Liedzeilen auswendig kann, was natürlich auch daran liegt, dass Dylan-Songs zum Repertoire des Gitarrenduos gehörte, von dem ich einstmals ein Teil war.
Ich habe Sänger und Songwriter nie als Denker begriffen. Möglicherweise deswegen nicht, weil die Songs, die ich früher selbst geschrieben habe, intuitiv entstanden und ich Intuition und Verstand lange Zeit als Gegensatzpaare begriffen habe. Diese Interviews haben mich eines Besseren belehrt.
Eingeleitet werden die Gespräche von Heinrich Detering, der Dylans Satz: „The people in the songs are all me“ so kommentiert: „So erstaunlich diese Behauptung angesichts von Songfiguren klingt, die im spanisch-amerikanischen Krieg mitgekämpft haben, zum Schlägertrupp eines Bandenchefs gehören oder während ihres Monologs allmählich im Wahnsinn nächtlicher Halluzinationen versinken, so kennzeichnend ist sie für Dylans Songpoetik.“ Eine Sichtweise, die mich schmunzeln machte, da ich Dylans Satz ganz anders lese, nämlich so: Alle Aussagen, die wir über uns und die Welt machen, sind Aussagen über uns selber, denn etwas anderes kennen wir nicht, und können wir auch gar nicht kennen. Übrigens: Bei allen Wandlungen, die Dylan durchgemacht hat, so Deterich, ist sein „politisch-moralischer Wertekanon“ stabil geblieben. Wer auch immer wir sind, was auch immer wir tun, ein Kern in uns bleibt sich anscheinend immer gleich.
Die Gespräche sind chronologisch angeordnet. Da ich mit Bob Dylan-Songs gross geworden bin, erlaubt mir das eine ganz wunderbare Zeitreise in meine eigene Vergangenheit. Was mir bei den ersten zwei Interviews aus den 60er Jahren auffällt: Dass ich immer mal wieder lachen muss, was mich überrascht, denn ich habe Dylan bisher nicht mit Humor in Verbindung gebracht. Auf mich wirkte er meist abweisend und mürrisch, dabei ist er sehr witzig und schlagfertig.
Ich bin ganz erstaunt wie clever dieser Mann ist. Das liegt natürlich auch daran, dass ich mich nie wirklich mit ihm befasst habe. Jedenfalls verblüfft mich ungemein, wie eigenständig und hellsichtig sich der damals 24Jährige zu Museen und Galerien, ja zum Kunstbetrieb insgesamt äussert. Mit Labels wie „Protestsänger“, „Rock'n'Roll“ oder „Folkmusic“ kann er nichts anfangen. Er tut einfach, was er tut. „Ich schreibe, seit ich acht war. Ich spiele Gitarre, seit ich zehn war. Ich bin damit aufgewachsen, zu spielen und zu schreiben, was ich spielen und schreiben musste.“
Was denkt er über Politik, Hochschulen, Protestbewegungen und und und? Kaum ein Feld wird ausgelassen. Umso erfreulicher ist, dass es Dylan offenbar nicht drängt zu Allem eine Meinung zu haben. Doch die, die er hat, sind Ausdruck eigenständigen Denkens. Er selber hat das Studium abgebrochen, würde er anderen auch dazu raten? Nein, würde er nicht, doch „Ich würde ihm einfach das Studium nicht finanzieren.“ Hat er als Junge Präsident werden wollen? „Nein. Als ich ein Junge war, war Harry Truman Präsident. Und wer möchte schon Harry Truman sein?“
Berührend fand ich insbesondere, was er über sein Aufwachsen im nördlichen Minnesota sagte. „Im Winter war dort alles vollkommen still, nichts bewegte sich. Acht Monate lang.(...) Der ganze Mittlere Westen hat etwas stark Spirituelles, sehr subtil, sehr stark.“ Ich fühlte mich an Kathleen Norris' Dakota. A spiritual Geography sowie an Robert M. Pirsigs (in Zen und Die Kunst, ein Motorrad zu warten) Schilderung der Dakotas erinnert, die ihm deswegen speziell waren, weil sie nichts Besonderes versprachen und deshalb auch nichts einzulösen brauchten.
Selbstverständlich habe er ein Ziel und eine Mission, sagt Dylan und zitiert Henry Miller: „Die Rolle des Künstlers ist es, die Welt mit Desillusionierung zu impfen.“ Nicht alle Songs haben die Zeit gut überstanden, wie er auch selber meint.
Die einzigen wahren Spiegel seien Wasserpfützen, sagt er einmal. Und führt dann aus: „Ein Bild, das Sie in einer Wasserpfütze sehen, führt in die Tiefe. Ein Bild, das man beim Blick in ein Stück Glas sieht, hat keine Tiefe und keine lebendig gewellte Bewegung.“ Ich bin nur ich selbst, wer immer das ist enthält ganz viele solch smarter Aussagen. “Es geht nicht um die Songtexte. Die Leute denken das immer, und vielleicht geht es auf den Platten um die Texte, aber auf der Bühne sind nicht die Texte das Entscheidende, sondern alles läuft über die Phrasierung, die Dynamik und den Rhythmus.“ Wahre Worte!
Die Palette, über die sich Dylan in diesen Gesprächen auslässt, ist ungeheuer breit. Von Shakespeare zu Elvis, vom Lesen der Bibel zum Malen, von Hitler bis zu meiner Lieblingsantwort (auf die Frage, ob er glaube, was einige behaupteten, dass Jim Morrison in den Anden lebe): „Ich habe bisher nicht das Bedürfnis gehabt, mir dazu eine Meinung zu bilden ...“.
Das Ich-Jahrzehnt hat Tom Wolfe die 1970er Jahre genannt. Diese Ich-Zeit dauert nach wie vor an, alles wird in der heutigen Zeit personalisiert, auf sich selber bezogen. Welt- und lebensfremder geht kaum. Umso erfreulicher ist, dass Dylan davon wenig infiziert scheint. „Als 'Hound Dog' im Radio lief, war meine Reaktion nicht: 'Wow, was für ein toller Song, wer den wohl geschrieben hat?' Mir war im Grunde gleichgültig, wer ihn geschrieben hat. Es war egal. Er war einfach ... er war einfach da.“
Fazit: Grossartig! Eine überaus erhellende, anregende und sympathische Zeitreise!
Bob Dylan
Ich
bin nur ich selbst, wer immer das ist
Gespräche aus sechzig
Jahren
Kampa Verlag, Zürich 2021

















