Der 1968 geborene Adwin de Kluyver, Autor und Historiker, berichtet in diesem Werk von Reisenden und Forschern, von Entdeckern und Träumern. Unter ihnen war auch der Mediziner Olof Rudbeck, Rektor der Universität von Uppsala, der neben Medizin auch Schiffbau und Feuerwerkstechnik unterrichtete. Eine Kombination, die in der heutigen Zeit der Spezialisierung, exotischer kaum wirken könnte.
Am Anfang seines Entdeckerdrangs standen die Atlanten, ganz unterschiedliche, die Adwin de Kluyver vom Norden träumen liessen. Von längst vergessenen Weltbilder erzählt er (und man fragt sich unwillkürlich um kommende Generationen unsere Weltbilder genauso belächeln werden wir wir diejenigen unserer Vorfahren), und von Lady Jane Franklin, die seit Jahren nichts mehr von ihrem Mann, Sir John Franklin gehört hatte und sich weigerte, die Hoffnung aufzugeben, und von seiner eigenen Erfahrung im höchsten Norden, als er eine Beinlänge vor dem Abgrund auf dem Rücken zu liegen kam.
Der geträumte Norden ist ein gelehrtes Werk, im klassischen Sinne: Es stützt sich darauf, was andere (angeblich) uns mitgeteilt haben. Adwin de Kluyver berichtet aus dem Jahre 325 v.Chr. (im damaligen Marseille), als sei er dabei gewesen, ebenso aus Northumbria aus dem Jahre 635 n. Chr. Nicht, dass ich an seinen Ausführungen zweifeln will (er kennt sich aus, ich nicht), doch geht mir immer mal wieder Montaignes Diktum, wir seien bloss les interprètes des interprétations durch den Kopf.
Historiker verfügen über eine reiche Fantasie. Was die Menschen vor langer Zeit beschäftigt hat, können sie natürlich genau so wenig wissen wie wir anderen auch, doch die Gedanken, die sie sich dazu gemacht haben, orientieren sich an verbürgten Fakten, was sie liefern sind educated guesses, und die lohnen sich allemal.
Adwin de Kluyver ist ein begabter Erzähler und weiss auch viel Dramatisches zu berichten. Wie er etwa den Angriff eines Eisbären auf die etwa zwanzig Diamanten-hungrigen Matrosen am 6. September 1595 bei Stateneiland schildert, lässt einen gleichsam das Blut in den Adern gefrieren. Dass er dann allerdings zu wissen vorgibt, was ein Bär empfindet ( "Er spürte alle Kraft aus seinen Muskeln schwinden. Es wurde dunkel."), ist dann jedoch nichts anderes als Projektion. Natürlich weiss das der Autor, schliesslich heisst sein Buch Der geträumte Norden.
Auch den Leser verleitet die Erzählkunst Adwin de Kluyvers zum Träumen, denn dieser nicht zuletzt überaus lehrreiche Text löst ganz wunderbare Bilder in meinem Kopf aus. Und er macht mich auf gar viel aufmerksam, von dem ich keine Ahnung hatte. So wusste ich nicht, dass Grönland die grösste Insel der Welt ist, und dass sie bis vor einer halben Millon Jahren grün war, Genauso neu war mir, dass es im norwegischen bergen pro Jahr nur gerade zehn trockene Tage gibt!
Von Roald Amundsen werden einige schon gehört haben, Doch nicht nur von ihm und seinem Geltungsdrang, den er mit dem Tod bezahlte, erfahren wir, sondern auch vom Journalisten Frans Schiphorst, der auf der Suche nach einem publizistischen Knüller auf Sjef van Dongen stiess und entschlossen war, diesen zum nächsten niederländischen Polhelden zu machen. Dabei wird auch deutlich, dass wir ohne Medienpropaganda von gar vielem überhaupt nichts wüssten.
Der geträumte Norden lehrt uns viel Aufschlussreiches. Etwa, dass der Jesuit Athanasius Kircher (1602-1680) die These vertreten hatte, "dass die Pest durch ein kleines Tierchen (einen Mikroorganismus) im Blutkreislauf hervorgerufen werde." Oder wie die Amerikaner ticken, das Adwin de Kluyver am Beispiel des Journalisten Walter Wellman illustriert. "Dass er keinerlei Erfahrung mit Polreisen hatte, kümmerte ihn nicht. Wir Amerikaner lamentieren nicht, wir packen die Dinge an, war sein Motto. Alles war käuflich, auch das Wissen über Polreisen."
Bücher laden ein zu Kopfreisen. Und Der geträumte Norden ganz besonders.
Unterhaltsame Aufklärung vom Feinsten!
Adwin de Kluyver
Der geträumte Norden
mare, Hamburg 2025
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