Sunday, 7 September 2025

nietzsche global

 
Das Vorwort bringt es so recht eigentlich auf den Punkt: "Ein anderer Name für Widerspruch ist Nietzsche. Nietzsche widersprach – den Erklärungen, mit denen die Menschen sich die Welt zurechtlegten, und er widersprach sich selbst."

Es gibt ganz viele Sätze in diesem mit grossem Genuss zu lesenden, überaus kenntnisreichen Vorwort, die man sich anstreichen sollte, darunter der wohl wichtigste: "Der Umgang mit Nietzsche, die Zitate, die man vor sich herträgt, sagen entsprechend weniger über diesen selbst als über die jeweiligen Fahnenträger aus." We do not see things as they are, we see things as we are, heisst es im Talmud.

Wunderbar, wie Elmar Schenkel das Wesentliche (zugegeben das für mich Wesentliche herausschält): "Nietzsches Rückführung des Denkens auf das leibliche, seine Bejahung des Lebens gegen alle Schwierigkeiten, sein eigenes, tragisches Leben bewegt Menschen mehr als die Frage, wo genau er in der philosophischen Tradition steht."

nietzsche global ist eine Schatztruhe; sagenhaft, was der Autor da alles zusammengetragen hat. Umso erstaunlicher, dass dieses hier präsentierte umfangreiche Wissen seinen Ausgangspunkt in Elmar Schenkels Museumsdienst gefunden hat. Da ich Museen generell mit Verstaubtem assoziiere und mir begeisterte Museumsbesucher ein Rätsel sind, tun mir diese Ausführungen Welten auf, nicht zuletzt, weil sie deutlich machen, dass sich in Nietzsche ganz offenbar etwas manifestiert hatte, das in vielen von uns schlummert. "Nietzsche spricht in das Innere des Menschen hinein, zu menschlichen Grundbedürfnissen; in diesem Sinne ist er 'spirituell'".

Was dieses Werk auch an zahlreichen Beispielen aufzeigt: Geschmäcker und Einstellungen können sich wandeln. Dazu kommt: kaum eine Bewegung, die nicht versuchte, Nietzsche zu vereinnahmen, von den belgischen anarchistischen Blättern bis zu den Nazis. Nietzsche als Selbstbedienungsladen? Andererseits: Geht es nicht allen so, die sich öffentlich äussern? Wäre Nichtbeachtung womöglich schlimmer? "Nietzsche leidet unter dem Desinteresse der intellektuellen Öffentlichkeit an seinen, wie er meint, bahnbrechenden Werken."

Gestaunt habe ich über die bunte Mischung an Nietzsche-Lesern, die hier zur Sprache kommen. Von Camus' Freundin Maria Casarès, die von der Nietzsche-Lektüre gepackt wurde, zu Osho, der den dionysischen Tanz, das amor fati, die Bejahung des Lebens und der Leiblichkeit hervorstreicht. Mit diesem Satz gehe ich hingegen gar nicht einig: "Obwohl Osho von vielen als Scharlatan wahrgenommen wird, sind seine Aussagen zu Nietzsche doch lesenswert. weil sie den Blickwinkel einer anderen Kultur freilagen." Nein, nicht deswegen, sondern weil Osho das Wesentliche an Nietzsche erfasst hat.

Selten ist mir deutlicher vor Augen geführt worden, dass man so ziemlich alles in einen Text bzw. in einen Menschen hineinlesen kann, Verwunderlich ist das nicht, denn begründen lässt sich bekanntlich alles. Und vielleicht liegt ja darin eines der wesentlichen Probleme unserer Existenz: Dass wir viel zu sehr dem Intellekt vertrauen, obwohl wir doch wissen, dass er uns immer mal wieder in die Irre führt. Doch das wäre eine andere Geschichte und nicht Thema dieses verdienstvollen, weil überaus anregenden Werkes.

Die Verbindungen, die Elmar Schenkel herzustellen weiss, setzt nicht nur eine imponierende Belesenheit, sondern auch ein aussergewöhnliches Talent voraus, zum Teil recht Disparates unter einen Hut zu bringen, schliesslich versammelt er nicht nur Anhänger von Nietzsches Gedankenwelt, sondern auch deren Gegner.

Für mich entpuppte sich nietzsche global als bereichernde Entdeckungsreise, die mich einerseits einige Autoren in neuem Licht sehen liess ((G.K. Chesterton etwa), mich mit etlichen bekannt machte, die ich nicht kannte (ich verzichte auf Beispiele, es wären zu viele) und mir unter vielen anderen auch den mexikanischen Dichter Alfonso Reyes vorstellte, der seinem Freund Ureña aus der Dominikanischen Republik schrieb, "er habe sich zweieinhalb Tage lang der Lektüre von Die Geburt der Tragödie gewidmet, was ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht und seine Gedankenwelt durcheinandergewirbelt habe." So in etwa ist es mit einst mit Also sprach Zarathustra ergangen, das ich jetzt wieder hervorhole ...

Elmar Schenkel
nietzsche global
Im 80 Übermenschen um die Welt
Kröner Verlag, Stuttgart 2025

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