"Warum
die Welt in anderen Sprachen anders aussieht", heisst der
Untertitel von Guy Deutschers Im
Spiegel der Sprache.
Es ist dies ein Phänomen, das mich vor Jahren, als ich mich im
australischen Darwin mit linguistischer Relativität beschäftigte,
ganz besonders interessierte und mich von Neuem zu packen weiss, als
ich in diese hervorragend geschriebenen Ausführungen (in der
kongenialen Übersetzung von Martin Pfeiffer) eintauche. Wenig
überraschend verwirft er Sapir-Whorf eloquent und witzig – was
mich allerdings nicht davon abbringt, Whorf anders zu interpretieren
(Ways
of Perception).
Dies
die Ausgangslage: "Keine Sprache – auch nicht die der
'primitivsten' Stämme – ist von vorneherein ungeeignet, die
komplexesten Ideen auszudrücken." Gemäss der vorherrschenden
Auffassung zeitgenössischer Linguisten ist die Sprache in erster
Linie Instinkt. "Mit anderen Worten, die Grundlagen der Sprache
sind in unseren Genen codiert und deswegen überall im
Menschengeschlecht dieselben." Guy Deutscher hingegen glaubt,
"dass sich kulturelle Unterschiede auf tiefgreifende Weise in
der Sprache widerspiegeln."
Der
Unterschied zwischen Sprachen besteht nicht darin, ob eine Sprache
über ein Wort verfügt, das andere Sprachen nicht kennen.
Schadenfreude mag zum Beispiel im Englischen als Wort nicht
bekannt sein, das Gefühl, das es ausdrückt, hingegen schon.
Entscheidend sei vielmehr, so Deutscher unter Berufung auf Franz Boas
und Roman Jakobson, wozu eine Sprache ihre Sprecher zwinge.
"Wenn
eine Sprache ihre Sprecher dazu zwingt, jedesmal wenn sie den Mund
aufmachen oder die Ohren spitzen, auf gewisse Aspekte der Welt zu
achten, dann können sich solche Sprachgewohnheiten schliesslich zu
geistigen Gewohnheiten verfestigen." So sagt kein Latino, er
habe seinen Schlüssel verloren (auch wenn ihm das Spanische dies
durchaus gestattet), vielmehr sagt er, der Schüssel sei ihm abhanden
gekommen, denn die sprachliche Gewohnheit will es so.
Was
wir "normal" finden, hängt von den Umständen ab, in die
wir hineingeboren sind und in denen wir aufwachsen. Das gilt auch für
die Sprache. Wir sind von sprachlichen Gewohnheiten geprägt und diese
zwingen uns eine bestimmte Wahrnehmung auf. Sage ich etwa auf
Englisch "I spent yesterday evening with a neighbour", ist
nicht klar, ob es um einen Mann oder eine Frau handelt. "Wenn
wir aber Deutsch oder Französisch oder Russisch sprechen, dann
verfüge ich nicht über das Privileg, die Dinge im Unklaren zu
lassen, denn ich werde von der Sprache dazu gezwungen, mich zwischen
Nachbar oder Nachbarin, voisin oder voisine, sosed oder
sosedka zu entscheiden."
Im
Spiegel der Sprache zeigt geistvoll und unterhaltend auf, wie
Sprachen auf vielfältige Art und Weise den Horizont erweitern. Ein
überaus lehrreiches Werk!
Guy
Deutscher
Im
Spiegel der Sprache
Warum
die Welt in anderen Sprachen anders aussieht
C.H.
Beck, München 2020