Wednesday, 13 May 2020

"Ich lass mir den Mund nicht verbieten!"

Dieses Buch kommt entschieden zum falschen Zeitpunkt, denkt es so in mir, denn nichts steht mir in diesen Corona-Zeiten viel ferner als Pressefreiheit und Demokratie. Zum einen halte ich beide nicht für wirklich existent – Pressefreiheit: Die Freiheit einiger Begüterter ihre Meinung veröffentlichen zu lassen / Demokratie: "The best democracy money can buy", so Greg Palast über die amerikanische Variante – , zum anderen erschöpft sich der Grossteil der Medien, denen es in erster Linie um den Profit geht, im Zur-Verfügung-Stellen einer Plattform für eitle Wichtigtuer. 

Soviel zu meinen Voreingenommenheiten. Dass ich dieses Werk trotzdem mit Gewinn gelesen habe, liegt wesentlich daran, dass ich eine Reise in die Vergangenheit habe machen dürfen, die mich vielfältig informiert und einiges gelehrt hat. Zudem hat sie mir in Erinnerung gerufen, dass der Qualitätsjournalismus, wie Wolfgang R. Langenbucher meint, auf derselben kulturellen Stufe steht wie Literatur, Kunst, Philosophie und Wissenschaft, auch wenn ich diese Unterteilungen für willkürlich erachte. So berichtete etwa Johann Gottfried Seume ganz einfach davon, was ihn auf seinen ausgedehnten Wanderungen beschäftigte – das tun übrigens viele, die schreiben; das Einordnen überlassen sie den Universitätslehrern. "Es ist ein assoziatives Erzählen in scheinbar sprunghafter Zusammenschau von Reiseerlebnissen, Geschichte, privaten Bekenntnissen und gesellschaftspolitischen Wertungen", kommentiert Otto Werner Förster.

Als Herausgeber dieses Bandes fungieren die Professoren Michael Haller und Walter Hömberg, die in ihrer Einführung den Wiener Sozialreporter Max Winter zitieren, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Aufgabe des Reporters so beschrieb: "Überall eindringen, selber neugierig sein, um die Neugierde anderer befriedigen zu können, alles mit eigenen Augen schauen und was man sich nicht zusammenreimen kann, durch Fragen bei Kundigen herausbekommen, dabei aber nie vergessen, mit welchen persönlichen Interessen der Befragte an die Sache gekettet ist." Besser und umfassender geht kaum.

Als ich vor Jahren eine Journalismus-Reihe herausgegeben habe, begriff ich gute Journalisten vor allem als Aufklärer. Herbert Riehl-Heyse, Jürgen Leinemann, Ernst Müller-Meiningen jr. und Sibylle Krause-Burger gehörten dazu. "Ich lass mir den Mund nicht verbieten!" machte mich mit vielen anderen Journalisten bekannt, die ich als Aufklärer begreife – und überdies in Zeiten, in denen das um einiges gefährlicher war als heute. Das will nicht heissen, dass Journalismus heute ungefährlich sei, ganz und gar nicht.

Es sind übrigens nicht nur Journalisten, die sich um die Pressefreiheit verdient gemacht haben, auch der Drucker Peter Zenger, ein deutscher Einwanderer in New York, und Verleger wie Marion Dönhoff und Curt Frenzel gehörten dazu. Aufgeklärt wurde ich auch darüber, dass einige illustre Namen, die ich bisher nicht als Journalisten wahrgenommen habe, auch journalistisch unterwegs gewesen waren – von Daniel Defoe über Henry Morton Stanley und Joseph Roth zu Karl Marx.

Mit besonderem Interesse las ich über die mich schon lange faszinierende Martha Gellhorn ("Während die Kollegen an der Hotelbar mit ihren Abenteuern prahlen, geht Gellhorn zu den Menschen, spricht direkt mit ihnen, hört zu, packt mit an, hilft und berichtet: aus Indochina, Vietnam, dem nahen Osten, Panama, Nicaragua, der Golfregion, Afrika …"),  konnte fast nicht glauben, dass am 1. August 1937 in Paris um die 100 000 Menschen dem Sarg der 27jährigen Gerda Taro folgten, die im Spanischen Bürgerkrieg als Fotoreporterin zu Tode gekommen war, und war mehr als nur verblüfft über den einstmals originellen und engagierten Nordwestdeutschen Rundfunk, der sich als Anwalt der Hörer begriff.

"Hätte ich es verhindern können?" ist der Beitrag über den amerikanischen Fotografen Ronald Haeberle überschrieben, der im Vietnamkrieg (der in Vietnam übrigens 'Der amerikanische Krieg' genannt wird) Aufnahmen vom My Lai-Massaker gemacht hatte, bei dem "182 Frauen, 172 Kinder, 60 Männer über sechzig, 90 jüngere Männer" ermordet wurden. Erst als der Journalist Seymour Hersh sich der Geschichte annahm, gelangte sie an die Öffentlichkeit.

Die beiden Herausgeber und die zahlreichen Autorinnen und Autoren dieses Bandes präsentieren mit "Ich lass mir den Mund nicht verbieten!" eine eindrückliche Aufklärungsgeschichte, die nicht zuletzt klar macht, dass was heutzutage viele für selbstverständlich halten (den Mund aufzumachen und deswegen nicht im Gefängnis zu landen), sich nur mühsam durchgesetzt hat – und nach wie vor von Interessengruppen bekämpft wird.

"Ich lass mir den Mund nicht verbieten!"
Journalisten als Wegbereiter der
Pressefreiheit und Demokratie
Herausgegeben von Michael Haller
und Walter Hömberg
Reclam, Stuttgart 2020

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