Wednesday, 29 July 2020

Im Spiegel der Sprache

"Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht", heisst der Untertitel von Guy Deutschers Im Spiegel der Sprache. Es ist dies ein Phänomen, das mich vor Jahren, als ich mich im australischen Darwin mit linguistischer Relativität beschäftigte, ganz besonders interessierte und mich von Neuem zu packen weiss, als ich in diese hervorragend geschriebenen Ausführungen (in der kongenialen Übersetzung von Martin Pfeiffer) eintauche. Wenig überraschend verwirft er Sapir-Whorf eloquent und witzig – was mich allerdings nicht davon abbringt, Whorf anders zu interpretieren (Ways of Perception).

Dies die Ausgangslage: "Keine Sprache – auch nicht die der 'primitivsten' Stämme – ist von vorneherein ungeeignet, die komplexesten Ideen auszudrücken." Gemäss der vorherrschenden Auffassung zeitgenössischer Linguisten ist die Sprache in erster Linie Instinkt. "Mit anderen Worten, die Grundlagen der Sprache sind in unseren Genen codiert und deswegen überall im Menschengeschlecht dieselben." Guy Deutscher hingegen glaubt, "dass sich kulturelle Unterschiede auf tiefgreifende Weise in der Sprache widerspiegeln."

Der Unterschied zwischen Sprachen besteht nicht darin, ob eine Sprache über ein Wort verfügt, das andere Sprachen nicht kennen. Schadenfreude mag zum Beispiel im Englischen als Wort nicht bekannt sein, das Gefühl, das es ausdrückt, hingegen schon. Entscheidend sei vielmehr, so Deutscher unter Berufung auf Franz Boas und Roman Jakobson, wozu eine Sprache ihre Sprecher zwinge.

"Wenn eine Sprache ihre Sprecher dazu zwingt, jedesmal wenn sie den Mund aufmachen oder die Ohren spitzen, auf gewisse Aspekte der Welt zu achten, dann können sich solche Sprachgewohnheiten schliesslich zu geistigen Gewohnheiten verfestigen." So sagt kein Latino, er habe seinen Schlüssel verloren (auch wenn ihm das Spanische dies durchaus gestattet), vielmehr sagt er, der Schüssel sei ihm abhanden gekommen, denn die sprachliche Gewohnheit will es so.

Was wir "normal" finden, hängt von den Umständen ab, in die wir hineingeboren sind und in denen wir aufwachsen. Das gilt auch für die Sprache. Wir sind von sprachlichen Gewohnheiten geprägt und diese zwingen uns eine bestimmte Wahrnehmung auf. Sage ich etwa auf Englisch "I spent yesterday evening with a neighbour", ist nicht klar, ob es um einen Mann oder eine Frau handelt. "Wenn wir aber Deutsch oder Französisch oder Russisch sprechen, dann verfüge ich nicht über das Privileg, die Dinge im Unklaren zu lassen, denn ich werde von der Sprache dazu gezwungen, mich zwischen Nachbar oder Nachbarin, voisin oder voisine, sosed oder sosedka zu entscheiden."

Im Spiegel der Sprache zeigt geistvoll und unterhaltend auf, wie Sprachen auf vielfältige Art und Weise den Horizont erweitern. Ein überaus lehrreiches Werk!

Guy Deutscher
Im Spiegel der Sprache
Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht
C.H. Beck, München 2020

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