Wednesday, 23 June 2021

Unterwegs mit den Arglosen

Bei diesem edel gestalteten Band (im Schuber) handelt es sich um die, wie der Untertitel verheisst, "Originalreportagen aus Europa und den Heiligen Land" aus dem Jahre 1867. Schon die Vorbemerkung  von Alexander Pechmann ist ein Genuss und was dann folgt erst recht. Erste Station sind die Azoren. "Niemand kommt hierher, und niemand geht fort." Von den dort ansässigen Portugiesen hält sich Mark Twains Achtung in Grenzen. "Der fromme portugiesische Katholik bekreuzigt sich und betet zu Gott, er möge ihn beschützen vor jedem blasphemischen Verlangen, mehr zu wissen als sein Vater."

Von Gibraltar und Tanger berichtet er. Und natürlich von seinen Mitreisenden, von denen ihm (und allen anderen) eine oder zwei Personen ständig auf die Nerven gehen. Von der Mauren erzählt er, dass diese nicht viel von England, Frankreich und Amerika halten, das "deren Repräsentanten sich mir einer umständlichen Bürokratie herumschlagen müssen, ehe man ihnen die üblichen Rechte einräumt oder ihnen gar eine Gunst gewährt. Doch stellt ein spanischer Minister eine Forderung, wird diese sogleich erfüllt, ob sie nun gerechtfertigt ist oder nicht."

Irgendwo habe ich einmal gelesen, Mark Twain hätte bei dem, was er äusserte, durchaus auch auf den Zeitgeist Rücksicht genommen, also nicht einfach so hingeschrieben, was ihm durch den Kopf gegangen ist. Sollte dies wirklich der Fall gewesen sein, müssen damals andere Vorstellungen vom politischer Korrektheit geherrscht haben als heute. "Ich konnte die Gesichter einiger maurischer Frauen kurz sehen (denn sie sind nur menschlich und lassen ihr Antlitz von einem Christenhund bewundern, wenn kein Mann in der Nähe ist), und ich verneige mich vor der Weisheit, die sie veranlasst, etwas so abgrundtief Hässliches zu verbergen."

Versailles, wo er auf Reihen aus Waldbäumen trifft, die alle dieselbe Dicke und Höhe haben, begeistert ihn, der Bois de Boulogne, der nicht nur von ihm, sondern gleichzeitig von "rund 30 000 anderen Reisegruppen" besucht wurde, entschieden weniger. Doch er sieht auch Napoleon III., über den er konstatiert: "In Fleisch und Blut wirkt er wie eine bedeutender Mann – auf den Porträts hingegen wie ein niemand." Das ist nicht zuletzt deswegen bemerkenswert, weil es ja oft gerade umgekehrt ist.

In Genua will er sein Lager aufschlagen, weil er anderswo noch nie schönere Frauen gesehen hat. "Ich begreife nicht, wie ein Mann von durchschnittlicher Willenskraft hier heiraten kann, denn bevor er seiner Sache sicher ist, hat er sich sicherlich schon in eine andere Frau verliebt." Eine anzusprechen fehlt ihm jedoch der Mut, er ist zu anständig. "Anstand hat mich seit jeher daran gehindert, im Leben weiterzukommen, und so wird es wohl immer sein." Es sind vor allem solch einfache und bestechende Einsichten, die mir die Twain-Lektüre wertvoll machen: Erfolg und Anstand gehen selten zusammen einher.

Odessa sehe genauso aus wie eine amerikanische Stadt, notiert er. Und unterstreicht seine Beobachtung auch damit: "Aus dem Reiseführer erfuhren wir, dass es in Odessa keine Sehenswürdigkeiten gab, und freuten uns darüber." Von Smyrna (dem heutigen Izmir) schreibt, die Stadt gleiche allen anderen orientalischen Städten, womit er meint: "Die Häuser der Moslems sind folglich wuchtig und dunkel und ebenso unbequem wie Gräber. Die Strassen sind krumm, schlampig und grob gepflastert und so schmal wie eine durchschnittliche Treppe; sie führen den Spaziergänger unweigerlich an einen anderen Ort als den, den er erreichen möchte, und sorgen für eine Überraschung, indem sie ihn dort absetzen, wo er es am wenigsten erwartet hat."

Kein Zweifel, Mark Twain hat klare Ansichten und hält damit nicht zurück, Das ist, wie wir alle wissen, nicht immer ein Vorteil (man denke an all die Trottel, die zwar Meinungen haben, denen jedoch das vorgängige Beobachten und Denken fehlt), in seinem Fall ist das eindeutig zu begrüssen, da er nicht nur über Verstand, sondern auch voller Widersprüche ist (was bekanntlich menschlich macht).

Wie viel Ironie bei diesen Schilderungen jeweils dabei ist, vermag ich nicht zu sagen, doch Sätze wie diese beschreiben Amerikaner so wie sie auch heutzutage an vielen Orten der Welt auftreten und wahrgenommen werden. "Überall starrten uns die Menschen an, und wir starrten zurück. Wir gaben ihnen auch meist das Gefühl, unbedeutend zu sein, ehe wir mit ihnen fertig waren, denn wir blickten mit amerikanischer Grösse auf sie herab, bis wir sie zurecht gestutzt hatten. Und doch fanden wir Gefallen an den Sitten und Gebräuchen und besonders an den Moden der verschiedenen von uns besuchten Völker."

Unterwegs mit den Arglosen  ist auch eine Anleitung zum intelligenten Reisen.  u jedenfalls verstehe ich etwa diesen Hinweis, der dafür plädiert, sich Zeit zu nehmen. "Man merkt erst wie wunderschön eine wunderschöne Frau ist, nachdem man sie kennengelernt hat; und die Regel gilt für die Niagarafälle, majestätische Berge und Moscheen – besonders für Moscheen."

Fazit: Scharfsinnig, witzig und unterhaltsam.

Mark Twain
Unterwegs mit den Arglosen
mareverlag, Hamburg 2021

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