Mein eigener Zugang zur Fotografie ist rein intuitiv: Warum mir ein Bild gefällt, interessiert mich wenig; mein Bedürfnis nach Rationalisierung ist beschränkt. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass Goethes Diktum, "Man sieht nur, was man weiss" (In meiner Fassung: Wir können nur er-kennen, was wir kennen) meine Bildwahrnehmung bestimmt, weshalb mir denn die vielfältigen Informationen in diesem Buch sehr willkommen sind.
Erfunden wurde die Fotografie im Jahr 1839; als ihre Erfinder gelten Louis Jacques Mandé Daguerre und Willam Henry Fox Talbot. "Vom Verfahren her sind die ersten fotografischen Systeme sehr unterschiedlich: Daguerreotypen sind nicht veränderbare Unikate auf versilberten Kupferplatten, die eine ausserordentlich feine Wiedergabe der Details zeigen. Talbotypen (auch Kalotypen genannt) sind dagegen weniger detaillierte und recht grobkörnige Papiernegative, die aber reproduziert werden können."
Schon bald kristallisierte sich heraus, worüber auch heute noch gestritten wird: Ist Fotografie eine Kunstform?, wie die Piktorialisten meinten, oder ist es die Wirklichkeitsnähe, welche die Fotografie wesentlich ausmacht?, so die Auffassung der 'Straight Photography'.
Autor Marin Zurmühle, gelernter Architekt ETH (kein Wunder, arbeitet er auch in seinen Fotolehrgängen mit Modellen), betreibt seit 2002 ein Fotostudio und eine Fotoschule in Ebikon; zudem ist er als Studiengangleiter der Höheren Fachschule für Fotografie in Baden (Schweiz) im Einsatz. Sein Fotografie lehren und lernen ist wesentlich eine Anleitung für Lehrer und Schüler, kurz und gut: Ein Lehrbuch.
Menschen, die pädagogisch unterwegs sind, ist eigen, dass sie recht klare Auffassungen von richtig/falsch bzw. gut/schlecht haben. Das hat Vorteile, ist jedoch nicht unproblematisch, da Auffassungen (wie alles andere auch) naturgemäss dem Wandel unterliegen. Wie will man etwa die Qualität von Fotografien beurteilen? Martin Zurmühle hat dazu das Doppelte Dreieck entwickelt. Das äussere Rahmendreieck besteht aus Motiv, Idee und Zeitgeist (die subjektive Seite); das Kerndreieck aus Technik, Komposition und Wirkung (die objektive Seite).
Ich finde dies ein hilfreiches Modell, auch wenn ich, was die Wirkung, die der Autor zur objektiven Seite zählt (!), angeht, so meine Zweifel habe, wie man denn diese messen will. "Bleibt ein Bild im Gedächtnis haften?", gehört jedenfalls zu den Kriterien, die niemand, der halbwegs bei Verstand ist, beantworten kann, ein grösseres Mysterium als die Erinnerung gibt es kaum.
Jeder kann ein gutes Bild machen, sogar ein Schimpanse. Stimmt, sagte der Fotograf David Bailey einmal, doch ich kann zwei gute Bilder machen. Martin Zurmühles zeigt mit diesem Lehrbuch, dass Fotografieren nicht einfach nur eine Begabung ist (das ist es natürlich auch), sondern sowohl gelehrt als auch gelernt werden kann. Dabei gilt es unter anderem, sich mit Linien, Flächen, Farben und Kontrasten auseinanderzusetzen. Eine überaus gelungene Illustration eines Hell-Dunkel-Kontrasts zeigt des Autors Aktaufnahme aus Lanzarote (auf Seite 15).
Es versteht sich: je intensiver man sich mit einer Sache auseinandersetzt, desto wahrscheinlicher ist, dass man Aspekte wahrnimmt, die einem flüchtigen Betrachten entgehen. So kann etwa gestalterisches Können durch Bildbesprechungen gefördert werden, die nicht nur dem Lehrer erlauben, Feedback zu geben, sondern den Teilnehmern auch Vergleiche mit den Arbeiten anderer ermöglichen.
Ist Fotografie Kunst, der Fotograf ein Künstler? Treffend formuliert Martin Zurmühle: "Wohl nirgends sonst in der Kunstwelt klaffen Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander wie in der Fotografie." Seine Auffassung, dass es nicht der Fotograf ist, "der festlegt, ob ein Bild ein Kunstwerk ist, sondern der Betrachter, Käufer, Galerist, Sammler, Kunstkritiker oder das Museum", teile ich hingegen nicht. Siehe dazu auch
hier.
Fotografie lehren und lernen ist ein Buch, das sich an Praktiker richtet. Dass ein Fotograf sein Handwerk beherrscht, darf erwartet werden, doch genügt das heutzutage, wo vor allem zählt, dass man sich zu verkaufen weiss, nicht mehr. Da die Bilder des Fotografen häufig im Rahmen des Designs verwendet werden, ist es wichtig, "dass er die Bedürfnisse und Anforderungen des Designs kennt, damit er die richtigen Bilder liefern kann." Auch dem "Fotograf als Unternehmer" ist ein Kapitel gewidmet.
"Mit 52 Übungen für die fotografische Praxis" lautet der Untertitel. Wie bei jedem Lernen, geht es auch bei diesem ums Üben. Und dazu leitet dieses Werk an. Fotografie lehren und lernen ist ein leserfreundlich gestaltetes und überaus instruktives Buch für alle, die das Fotografieren lernen wollen, und eignet sich ganz besonders für die, die es zum Beruf machen wollen.
Martin Zurmühle
Fotografie lehren und lernen
Mit 52 Übungen für die fotografische Praxis
Vier-Augen-Verlag, Luzern 2021