Wednesday, 14 August 2024

Baikal - Amur

 

Es ist jedes Mal eine Freude, ein Buch der Verlagsbuchhandlung Liebeskind in Händen zu halten, denn ein schön gestaltetes Buch erfreut auch die Sinne. Mit anderen Worten: Olivier Rolins Baikal – Amur (liebeskind, München 2018) ist ein Buch, das ich auch aus ästhetischen Gründen gerne lese. Und umso mehr als mich dieser Reisebericht sofort in seinen Bann zieht.

Fünftausend Kilometer Bahnfahrt liegen vor ihm. Vieles an dieser Zugfahrt erinnert an vergangene Zeiten und das macht ihren Charme aus. „Langsam zieht die typische sibirische Landschaft vorbei, zutiefst melancholisch, dazu das Stakkato der Räder über den Schraubverbindungen der Schienen, und manchmal wird alles überdeckt von einem der endlosen Güterzüge, die entgegenkommen (auch das sieht man kaum noch, auch das erinnert an die Kindheit,).“ Starke Bilder, mir ist, als sei ich vor Ort mit dabei.

Olivier Rolin reist mit seinem Übersetzer und Freund Waleri, einer unerlässlichen Hilfe in diesem riesigen Land, wo uns vertraute Worte wie ‚Land‘, ‚Provinz‘ oder ‚Region‘ nicht ‚funktionieren‘. „Der Raum verlangt nach Worten, die wir nicht haben. Selbst der Begriff ‚Wald‘, bei dem man an Picknick und Pilzsammler denkt, ist keine angemessene Bezeichnung für die unermessliche Weite der Taiga.“ Elfmal so gross wie Frankreich ist sie und man könnte die Vereinigten Staaten einschliesslich Alaska und Westeuropa reinpacken und hätte dann immer noch Platz.

Russland ist kein „normales“ Land, die Menschen dort haben Katastrophen erlebt, „von denen wir uns keine Vorstellung machen und die es uns einfach nicht erlauben, sie nach unseren bequemen Gewissheiten zu beurteilen.“ Gewöhnungsbedürftig sind auch die Hotels, in denen die beiden Reisenden absteigen. „Es sind Luxus-Zimmer, richtige Suiten. Aber nach sowjetischem Geschmack eingerichtet: orangefarbener Teppichboden, gelbliches Sofa mit geometrischem Muster, gelbliche Vorhänge, dunkelbraun furnierte Möbel, an der Decke eine spärlich beleuchtete Glaskugeltraube als Lampe, ein golden schillernder Bettüberwurf, Schwäne mit ihren Küken beim Schwimmen schmücken die Wand (fast hätte ich geschrieben ‚beim Stillen‘). Die riesigen Heizkörper stehen auf Ziegelsteinen, die das Gewicht tragen, die Steckdosen sitzen schief und hängen so weit aus der Wand, dass man sie, typisch sowjetisch, beim Ziehen des Steckers vollends herausreisst.“

Dass die Russen mit den Zuständen rundum zufrieden seien, lässt sich schlecht behaupten. Doch auch wenn die Dinge selten so sind, wie sie sein sollten – „In Sewerobaikalsk führte beispielsweise eine Betontreppe von beiden Seiten auf eine Fussgängerbrücke über die Bahngeleise, die unser Hotel, das in der Nähe des Sees lag, vom Stadtzentrum trennte. Doch keine der Stufen, und ich meine wirklich keine, hatte dieselben Masse, weder in der Höhe noch in der Breite: Jede war gewissermassen eine Originalschöpfung, wodurch die Treppen nachts für einen Betrunkenen zu einer halsbrecherischen Herausforderung wurden (eine Situation, in der ich mich, darauf lege ich Wert, nie befunden habe; doch Betrunkene in der Nacht, die gibt es in Russland wie anderswo, und vielleicht sogar ein wenig häufiger).“ – , nicht wenige trauern den sowjetischen Zeiten nach, denn alle hatten damals Arbeit, es gab Schulen, Renten und jeder hatte ein Dach über dem Kopf.

Wie jede Reise so bietet auch diese eine Gelegenheit, sich mit Land und Leuten (und mit sich selber) auseinanderzusetzen. Dabei macht Olivier Rolin vor allem deutlich, dass unsere bequemen westlichen Wertvorstellungen weit weg von der russischen Realität sind, wo es um einiges wilder zu und her geht, als man sich das im Westen gewohnt ist. Und auch wesentlich emotionaler, leidenschaftlicher.

Unterwegs zu sein, bedeutet ja auch immer, auf andere Reisende zu treffen und sich mit ihnen auszutauschen. Ein Norweger, der sechsundneunzig Länder bereist hat, ohne ein Flugzeug zu nehmen, auf die Frage nach der schlimmsten Zugstrecke: Dakar–Bamako. „Kein Bettzeug, vierhundert Kakerlaken. Die schlimmsten Scheisshäuser, fügt er hinzu, gab es von Livingstone nach Kapiri Mposhi in Sambia: kein Fenster, kein Licht, nur ein Loch im Boden, den Türgriff musste man vom Schaffner erbitten und bloss nicht die Taschenlampe vergessen.“ Übrigens: die langsamen (ein Glück, wer will den bloss durchs Leben rasen?) russischen Züge verfügen über einen Samowar und in den Liegewagen gibt es gestärkte, tadellos weisse Bettwäsche.

Baikal – Amur ist auch eine Reise in die russische Vergangenheit. Eine der mir liebsten Geschichten stammt von den drei heroischen Fliegerinnen Walentina Grisodubowa, Polina Ossipenko und Marina Raskowa, die 1938 den weiblichen Rekord im Fernflug brachen, über der unbewohnten Taiga abstürzten und überlebten. Wiederholt weist Rolin auch auf die Lager und Massengräber hin, die die russische Landschaft unter ihrer Oberfläche birgt. Er tut seinen Teil dazu, dass das System des Gulags, das „für Generationen die Verrohung der Verhaltensweisen, die Achtlosigkeit gegenüber anderen in die Menschen einpflanzte“, nicht aus dem Gedächtnis verschwinden und um „einige Bilder dieser Geschichte aus der Nacht unserer selbst gewählten Blindheit ans Licht zu bringen und zu vergegenwärtigen.“

Fazit: Eine lebensphilosophische Zeitreise, witzig, differenziert und engagiert

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