Wednesday, 26 February 2025

Medien & Propaganda

 An den geisteswissenschaftlichen Fakultäten schlägt man sich zumeist mit Begriffen und Definitionen herum. Das war auch der Fall, als ich einst an der School of Media, Journalism and Cultural Studies der Universität Cardiff studierte und mich unter anderem mit Fragen auseinandersetzte, die man als akademische kennt: Was genau ist Journalismus? Worin unterscheiden sich Propaganda, PR und Werbung? Etc. etc.

Damals fand ich diese Abgrenzungen nicht uninteressant; heutzutage, wo alles dem Diktat der Verkaufens unterliegt (das war vermutlich auch damals so, für mich jedoch weniger offensichtlich als heute), erachte ich sie als akademisch d.h. nicht von praktischer Relevanz. Kurz und gut: Medien und Propaganda betreiben dasselbe Geschäft, die Aufmerksamkeitssteuerung. Die Medien machen Propaganda für sich selber.

In den letzten Wochen und Monaten dominierte ein Thema mehr als alle anderen – die amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Täglich und mittlerweile stündlich werden wir zugemüllt mit den letzten Aktionen des einen oder der anderen. Der eine, mit dem Wortschatz eines Kleinkindes, greift seine Konkurrentin mit den Ausdrücken an, die ihn selber charakterisieren (dumm, verrückt, niedriger IQ), die andere, intelligent und humorvoll, repräsentiert die politische Klasse, die wir gewohnt sind.

Die Medien tun so, als ob sie der Aufklärung verpflichtet seien. Sie tun als ob dieser Wettkampf ein Ringen um Inhalte sei, sie stellen Fragen, auf die sie keine Antworten bekommen, sie sagen, was der eine und die andere besser machen müsste. Dabei tun sie letztlich fast nichts anderes, als Leuten (sogenannten Experten) eine Plattform für ihre Ignoranz zu geben.

Nach wie vor gebe es zahlreiche Unentschlossene, kann man seit Wochen hören. Wer das glaubt, hat nicht alle Tassen im Schrank. Oder er/sie lügt, denn entschieden ist schon längst. Wahlen sind selten etwas anderes als Bauchentscheide, wäre das sachliche Abwägen Realität oder ginge es um das Gemeinwohl, hätte der Egomane ohne jeden Anstand nicht die geringste Chance.

Uns wird erzählt, das Rennen stünde auf Messers Schneide. Ob das stimmt, weiss niemand, denn Meinungsumfragen liegen bekanntlich oft falsch. Zudem beeinflussen sie das Rennen, weshalb wir uns so recht eigentlich von ihnen fern halten sollten. Die Medien tun das nicht, sie bemühen sich, das Ganze spannend zu gestalten, denn sie wollen, dass wir dabei bleiben, schliesslich leben sie von den Einschaltquoten. Und weil ich das Ganze so offensichtlich finde, habe ich mich ausgeklinkt.

Übrigens: Ein Leben lang hab ich geglaubt, es sei wichtig, politisch und gesellschaftlich auf dem Laufenden zu sein. Warum ich das geglaubt habe, ist mir heute schleierhaft. Ich vermöchte nicht einmal zu sagen, inwiefern diese vielen interessanten, jedoch wenig hilfreichen Informationen, die ich mir sehr lange täglich verabreicht habe, sich auf mein Leben ausgewirkt haben, ausser, dass sie mich abgelenkt haben. Wovon? Das weiss ich nicht mehr, das will ich jetzt rausfinden ...

Sunday, 23 February 2025

Die Historie von der Besatzung Palästinas

"Am 15. Mai 1948 war der jüdische Staat ausgerufen worden, ohne dass seine Grenzen festgelegt worden waren. Mein optimistischer Vater wertete dies als vielversprechendes Zeichen, das die Möglichkeit offenhielt, neben Israel einen arabischen Staat zu gründen, wie es im Teilungsplan ja auch vorgesehen war." Dass es nicht dazu gekommen ist, wissen wir; dass die Zwei-Staaten-Lösung in immer weitere Ferne gerückt ist, wissen wir auch. Wie es dazu gekommen ist, schildert Raja Shehadeh in diesem Memoir.

"Vor 1967 war das Westjordanland ein verarmtes unterentwickeltes Gebiet. So war schon der Bau eines einzigen Hauses ein Großprojekt, das über ein Jahr in Anspruch nehmen konnte. Die Idee, einen ganzen Hügel zu übernehmen, Häuser für eine Siedlung zu errichten und sie mit Wasser und Strom zu versorgen, erschien uns unvorstellbar." Eine Siedlung meint übrigens "eine Betonlandschaft, Reihen einheitlicher Häuser und geradlinige, vielspurige Autobahnen."

So sehr dies auch ein überaus aufschlussreiches Buch über die rücksichtslose israelische Siedlungspolitik ist (dass die israelischen Rechten gerade Trump zujubeln, der eine ethnische Säuberung des Gaza-Streifens plant, zeigt eine Geisteshaltung, die keines Kommentars bedarf), es macht auch mehr als nur deutlich, dass das Politische und das Private nicht wirklich auseinandergehalten werden können. "Lange Zeit dachte ich, es sei die Politik meines Vaters, die mich von ihm distanzierte. Jetzt weiß ich, dass ein wichtigerer Grund die Politik innerhalb der Familie war; der Kampf zwischen meinen Eltern um mich war für den Riss verantwortlich, der durch unser Haus ging, und nicht die politischen Turbulenzen außerhalb."

Der Autor von Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und Ich, Raja Shehadeh, ist wie sein Vater, der 1985 von einem verurteilten Hausbesetzer ermordet wurde, Rechtsanwalt. "Siebenunddreißig lange Jahre nach dem Mord warte ich immer noch auf eine Klärung dessen, wer meinen Vater ermordet und warum die israelische Polizei die Akte geschlossen hat, bevor die Ermittlungen abgeschlossen waren.

Sein Vater hatte ihm Schränke voller Akten hinterlassen. Wollte er ihn etwa dazu bringen, über ihn zu schreiben. Der Sohn weigert sich, er hat sein eigenes Leben zu leben. Viele Jahre später lässt er sich dann doch darauf ein. Und entdeckt vielfältige Übereinstimmungen. "Ich hatte das Gefühl, mit meinem juristischen Widerstand gegen die israelischen Maßnahmen voranzuschreiten und Neuland zu betreten – noch ahnte ich nicht, dass mein Vater Jahre zuvor dasselbe getan hatte. Ich wusste auch nicht, dass ich von ihm den Gemeinsinn und das Verantwortungsgefühl geerbt ...". 

Der Umgangston ist indirekt bzw. respektvoll. "Oft begleitete mich die Frage, was mein Vater wohl dachte, wenn er das Bild seiner Mutter ansah – obwohl ich ihn nie dabei ertappt habe." Doch wie der Autor die Ehe seiner Eltern schildert, ist an Deutlichkeit kaum zu überbieten. So sehr sich der Vater auch bemühte, seiner stolzen Frau, die ihre Privilegien als selbstverständlich wahrnahm, konnte er nichts recht machen. Die pseudopsychologischen Erklärungen sind allerdings wenig überzeugend." Sie machte ihn ständig nieder. Da er keine Mutterliebe erfahren hatte, fehlte ihm der feste Glaube daran, dass er selbst ein guter Mensch war. Er musste sich vielmehr immer wieder aufs Neue beweisen und seine Existenz rechtfertigen."

Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und Ich erzählt neben der Familiengeschichte auch die Historie der systematischen Enteignung der Palästinenser, detailliert, sachlich, ohne Polemik. Die Geschichte dieser Aneignung erfolgte teils juristisch, teils durch die Schaffung von Tatsachen mittels Gewalt. Auch macht de Autor durch seine unaufgeregte Darstellung deutlich, dass vieles im Geheimen ablief, getrickst wurde, und gewalttätige radikale Kräfte einen weit grösseren Einfluss auf das politische Geschehen haben als man gemeinhin annimmt.

Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und Ich ist in einem sachlich nüchternen Ton verfasst. Dass die Palästinenser seit dem UN-Teilungsbeschluss von 1947 beständig getäuscht, belogen und hintergangen wurden, ist nicht von der Hand zu weisen. Nicht nur wurden die Palästinenser systematisch von ihrem Land vertrieben, sie wurden auch daran gehindert, wieder zurückzukommen. Die schreiende Ungerechtigkeit, die hier dokumentiert wird, ist schwer zu ertragen und bestätigt C. G. Jungs Einschätzung, dass der Mensch die grösste Gefahr für den Menschen ist.

Über seine Gefühle, darüber, was ihn beschäftigte, redete sein Vater offenbar nicht. Und so muss der Sohn raten. "War es Wut oder Scham, die er empfand? Ich vermute, dass es eher Scham darüber war, wie sehr seine Generation dabei versagt hatte, ihre Heimat zu verteidigen, und dass es nie zur der Rückkehr kam, für die er so hart gearbeitet hatte. Offen Wut oder Bedauern auszudrücken, hätte ihn gedemütigt. Also behielt er seine Gedanken für sich und fuhr uns schweigend zurück nach Ramallah." Für die einen ist so ein Stolz würdevoll, für andere ist es die Unfähigkeit, die Realität anzunehmen, wie sie ist.

Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und Ich ist ein vielfältig erhellendes Werk. Die Juristerei entbehrt ja nicht der Absurdität, geht sie doch davon aus, dass derjenige, der besser zu argumentieren weiss, im Recht sein soll! So beschreibt der Autor das Vorgehen: "Er begann, das Gesetz genau zu studieren und Schlupflöcher zu finden. Dann studierte er die Argumente und Präzedenzfälle, die zur Unterstützung der Verteidigung herangezogen wurden."

Aziz Shehadeh war ein idealistisch gesinnter Mann,  ein vehementer Verfechter der Zwei-Staaten-Lösung und politischer Gefangener. Im Wüstengefängnis sinniert er. "Es war ein Verrat an den Palästinensern, eine feige Verleugnung dessen, was Jordanien und die übrige arabische Welt nominell versprochen hatten: die Befreiung Palästinas. Deshalb hatte er alles daran- gesetzt, diese Politik in Frage zu stellen und herauszufordern, doch nur allzu oft fand er sich ohne Unterstützung wieder. Viele seiner Freunde hatten sich dafür entschieden, ihr Leben weiter- zuführen und sich auf ihr eigenes Wohlergehen und das ihrer
Familien zu konzentrieren."

Geschichtsschreibung ist notwendigerweise auch immer Projektion. Wenn sich also der Sohn in die Gedankenwelt des Vaters versetzt, teilt er mehr über seine eigene Art des Denkens mit als über die seines Vaters. Obwohl: So verschieden voneinander sind die beiden nicht. "Welch eine Ironie, dachte er, von der harten Herrschaft der Briten befreit zu sein, nur um unter die nicht weniger harsche Herrschaft der von den Briten ausgebildeten jordanischen Armee zu geraten, deren loyaler und von Beduinen dominierten Kern gleichermaßen unnachgiebig war."

Raja Shehadeh hat mit Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und Ich nicht nur seinem Vater ein Denkmal gesetzt, sondern auch aufgezeigt, wie ähnlich Vater und Sohn ticken, ganz so, also ob unser Weg vorgezeichnet sei.

Raja Shehadeh
Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und ich
Ein Memoir
Edition W, Neu-Isenburg 2025

Wednesday, 19 February 2025

Media Realities

,One rarely happens to be where world news, and sometimes history, is made. Yet, in such a situation I found myself in November 1989, when the Berlin Wall came down. I was sitting with a friend in a pizzeria when our waiter, an Italian, all of a sudden and totally excited, shouted: "Mauer auf, Mauer auf" — "Wall open, wall open." Being Swiss, and therefore not given to a spontaneous overflow of feelings, I calmly explained to my German friend that such a thing was not possible and that we should better stay and finish our meal. Only later, when the place was deserted and we were the only ones left, did my friend and I decide that maybe the waiter, despite being Italian and thus, most likely, given to wild exaggerations, might have been right and the wall had indeed been opened.

When we eventually arrived at one of the border crossings, it was four o'clock in the morning and, except for an occasional Easterner heading across, not much was going on anymore. In the nearby bars, however, emotions were running high — I remember men trembling and shaking, and with tears in their eyes. Impossible, not to be moved. The next day, the Easterners queued to get their 100 German mark "welcome money," they queued for bananas — quite obviously a rarity in the East — and the queued to get into the sex shops.

Such was, roughly, my experience of the wall coming down. I did, however, see one more wall coming down: this time on television. It was recorded live and, therefore, difficult to control — a young man from East-Berlin, strolling down the Kurfürstendamm in the Western part of town, was asked how he liked being in the free world? "It's the same as in the East," he replied, "West-German marks will buy you everything." Watching it happen on television, I had a feeling of excitement and fun, like being at a really good party. It certainly was very different from what I had felt the night before — then it had seemed somewhat incomprehensibly unreal whereas now, on television, I had the strange sensation that this was more real than what I myself had experienced.

What do we actually know about what is presently going on in, say, Afghanistan, or in Iraq? I've asked myself that question the other day while comparing the news of three different TV-channels that all reported the same occurrence differently — I hadn't the least clue which version, if any, was right. Worse, I did not even know which one I should trust. I still don't. During the war in Bosnia, Susan Sontag went to Sarajevo to experience for herself what war is like. "We can't imagine how dreadful, how terrifying war is — and how normal it becomes. Can't understand, can't imagine. That's what every soldier, and every journalist and aid worker and independent observer who has put in time under fire and had the luck to elude the death that struck others nearby, stubbornly feels. And they are right."

Of course, she's right. And it is hard to imagine somebody disagreeing with her, except for some — French, according to Sontag — intellectuals who — like Jean Baudrillard — claim "that images, simulated realities, are all that exists now," as she wrote in her essay "Looking at war." One surely wishes Monsieur Baudrillard a healthy toothache. Not all of us want to experience for ourselves what war is all about. I, for instance, have no desire at all to go to Baghdad and see for myself what is going on there.

Which leaves me dependent on the media. It is not a feeling that I like. There are, after all, some journalists I know from my school days — hard to think of anyone who would like to depend his views of the world on the judgements of a former classmate. Most of what we know about the world, we know from the media. And despite us not having terrible confidence in these media, we nevertheless build our views of the world on them, the German sociologist Niklas Luhmann wrote.

What I know of Arnold Schwarzenegger, I know from various TV-stations, and from some online-magazines. This is what I remember: he hails from a village near Graz, Austria, where people are proud of him; when he visits Austria, he regularly asks after a former love called Maria; he was Mister Universe; he is a multi-millionaire; he married into the Kennedy-family; he gropes woman; he took a degree in economics; he surrounds himself with knowledgeable professionals; he should not be underestimated.

So I have heard, and do in part believe it. Nevertheless, I'm amazed how largely unaffected by this media bombardment my views on Mister Schwarzenegger have remained — I continue to see in him what I used to see in him all along: an unusually ambitious man who has spent considerable time of his life in front of a mirror admiring his muscles. But, hold on, I almost forgot: Arnold Schwarzenegger is a movie-star, a Hollywood-star, and famous the world over for solving problems in no time at all. And that is, of course, what we all want our politicians to do.

I know, I know, life is not a movie — too bad, isn't it? — and I do know that politics and Hollywood have not much in common either — I'm not so sure about that, though. Yet, given the choice between Hollywood and every day politics, the majority of Californians obviously prefer their movie-version to the real-politik from Sacramento — it is likely that even Governor Schwarzenegger won't change that.

Copyright @ Hans Durrer / Soundscapes 2004

Sunday, 16 February 2025

Der Elefant im Zimmer

Auf Petra Morsbach bin ich durch einen Artikel von Herbert Riehl-Heyse in der Süddeutschen gestossen. Und da ich „den Riehl“ sehr schätze (ich hatte 1986 ausgewählte Texte von ihm unter dem Titel „Die Weihe des Ersatzkaisers und andere Geschichten“ herausgegeben), liess ich mich von seiner Begeisterung für Petra Morsbachs Schreiben gerne anstecken. Das liegt jetzt 25 Jahre zurück. Seither bin ich regelmässig gespannt, wenn ein neuer Titel von ihr erscheint. Und so gehe ich diesen Essay positivst gestimmt an – und werde nicht enttäuscht. Im Gegenteil: Ich werde vielfältigst aufgeklärt und unter anderem daran erinnert, dass Wahrheit konkret und Widerstand gegen Machtmissbrauch zwar schwierig, doch geboten ist.

An drei Fällen – einem Kirchenskandal, einem politischen Skandal und einem Fall, der an einer kulturellen Institution spielt – zeigt dieser Essay auf, wie es zu Machtmissbrauch und dessen weitgehendem Akzeptieren kommt. Vertuschungen und Verschleierungen sind keine Fehler von Machtsystemen, sondern gehören zu deren Kennzeichen. Gleichzeitig klärt Der Elefant im Zimmer darüber auf, wie Widerstand gelingen kann. Verblüfft hat mich übrigens, dass sich dieser lange Essay (325 Seiten) so flüssig liest.

Doch sind das nicht einfach Einzelfälle? Können sie überhaupt repräsentativ sein? Ja, können sie, argumentiert Petra Morsbach, denn die Mächtigen hätten „gegen den Kern ihres Auftrags“ verstossen. „Der Chefkleriker verletzte nicht etwa die Haushaltsdisziplin, sondern – neben den Strafgesetzen – die römisch-katholische Sexualmoral, ein Alleinstellungsmerkmal dieser Kirche. Der Untersuchungsausschuss vereitelte nicht einzelne Beweiserhebungen, sondern die Untersuchung selbst, für die er berufen worden war. Die kulturelle Organisation verstiess gegen die Freiheit und Würde der Kunst, die sie verteidigen sollte.“

Der erste Fall handelt von Kardinal Hans Hermann Groër und dessen Pädophilie, die zwar bekannt war, jedoch verschwiegen wurde, bis sich dann ein Opfer ‚outete‘ und der kirchliche Machtapparat aktiv wurde. Wie das vonstatten ging, schildert Petra Morsbach detailliert und differenziert. Dabei zeichnet sie das Bild einer Kirche, der es mehr um Machterhalt als um ihr Credo geht. So recht eigentlich ist das wenig verwunderlich (und trifft wohl auf alle Institutionen zu), doch es ist nicht so simpel, sondern um einiges komplizierter. Und auch gewollt juristisch überkomplex.

Schweigen, Ablenken, sich in allgemeine Floskeln retten, keinesfalls auf konkrete Fragen konkrete Antworten geben. Sprache dient oft nicht der Verständigung, sondern deren Verhinderung. Nicht immer, doch da, wo es um Machterhalt geht. Wie trickreich die Mächtigen beziehungsweise der Machtapparat vorgehen, erfährt man in diesem Buch. „Die Stabilität des Apparats hatte die oberste Priorität. Ihr wurden alle höheren Anliegen geopfert, sie war beinahe zum Selbstzweck geworden. Die missbrauchten Knaben waren so gesehen ein Kollateralschaden.“

Zu den Eigenheiten der katholischen Kirche gehört, dass die Priesterkandidaten ihren Bischöfen Gehorsam versprechen. Petra Morsbach kommentiert das mit ihrem eigenen Witz (der für mich zu den Gründen gehört, weshalb ich ihr Schreiben schätze): „Wer zu dieser Blanko-Erklärung bereit ist, muss eine überdurchschnittliche hierarchische Sehnsucht mitbringen, egal wie zynisch er vielleicht später wird.“ Man kann sich unschwer vorstellen, dass Machtkontrolle nicht zum Wesen der katholischen Kirche gehört.

Immer mal wieder stolpere ich über Sätze, die Grundsätzliches beleuchten (nichts, was in der heutigen Zeit wesentlicher wäre) und von einer realistisch-nüchternen Weltsicht zeugen, die sich nicht hinter einer dieser Pseudo-Fachdisziplinen versteckt, sondern einfach genau hinguckt und eigenständig denkt. „Wie können 17 intelligente, gebildete Bischöfe, die eine Elite religiöser und ethischer Bestimmung darstellen, als Gruppe denselben Automatismen unterliegen wie Konzernchefs, Hells Angels und Paviane? Bei den letzteren Gruppen gehört Dominanz sozusagen zum Anforderungsprofil. Aber bei Stellvertretern Christi? Und doch ist es so. Und es wäre fahrlässig, in Konflikten von etwas anderem auszugehen.“

Fall 2 handelt von Christine Haderthauer, der ehemaligen Chefin der bayerischen Staatskanzlei, und ihrem Mann, dem Arzt Hubert Haderthauer, die mutmasslich von der Arbeit straffälliger Psychiatriepatienten profitierten – drei Schlussberichte kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen, nur einer von diesen war ernsthaft an der Aufklärung des Falles interessiert. Auch hier geschah, was als Muster im Umgang mit Widerstand von unten die Regel ist. „Wenn ein Führungskader öffentlich des Fehlverhaltens bezichtigt wird, verteidigt ihn seine Organisation reflexhaft, selbst wenn keiner an seine Unschuld glaubt – und gelegentlich bis zur Handlungsunfähigkeit, wie der Fall Groër zeigt.“

Doch ein Abgeordneter der Freien Wähler und sein Rechtsberater wehrten sich gegen den Versuch des Untersuchungsausschusses den Fall zu begraben und zur Tagesordnung überzugehen. „Man wollte, wenn man schon nichts erreichte, die Stunden im Ausschuss nutzen, um zumindest auf sinnvolle Weise nichts zu erreichen.“ Sie taten dies, indem sie ganz einfach möglichst genau beschrieben, was der Ausschuss tat beziehungsweise nicht tat. Eine Methode, die sich bewährt und „der Menschheit bedeutende Erkenntnisse beschert.“

Immer wieder kommt Petra Morsbach darauf zurück, dass Der Elefant im Zimmer nicht gesehen werden will. Der Elefant ist die Institution, genauer: die Macht, die um (fast) jeden Preis erhalten werden muss. Man schweigt, lenkt ab, redet über Verfahrensfragen, ereifert sich über Details, rettet sich in die Komplexität – zum Schutz derer, die von den bestehenden Verhältnissen profitieren. Selten ist mir so deutlich aufgegangen, dass das Aufdecken von Missständen alle, die diese bislang nicht bemerkt oder toleriert haben, angreifbar macht. Kein Wunder, mauern sie.

Fall 3 handelt von den Erfahrungen der Autorin als Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, deren Funktionäre den in der Satzung statuierten Auftrag, „…. die Entwicklung der Künste ständig zu beobachten, in jeder (uns) geeignet scheinenden Weise zu fördern oder Vorschläge zu ihrer Förderung zu machen“ unter anderem mit der Vorschrift verunmöglichen: „Buchvorstellungen macht die Akademie nicht.“ Warum eigentlich nicht? Nur schon so zu fragen, gilt nicht als opportun, sich dagegenzustellen bedarf der Hartnäckigkeit – und darüber verfügt Petra Morsbach, der ein klarer Blick auf sich selber, gepaart mit Selbstironie, eigen ist.

Wie schon in den vorangegangenen Fällen, geht es auch hier um grundsätzliche Fragen. „Kann man gegen Machtmissbrauch überhaupt vorgehen, wenn er von einer jeweiligen Mehrheit geduldet wird? Wie aktiviert man die betrieblich und gesetzlich vorgesehenen Kontrollmassnahmen, wenn die Kontrollpersonen sich auf die Seite der Macht stellen?“ Und wie geht man mit dem Gehorsamsreflex um, der Gruppen zu befallen scheint, wenn ihr Chef angegriffen wird?

Wieso erhebst du dich über die ganze Institution?“ gehört zu den Fragen, die keine sind und einen der Überheblichkeit bezichtigen. Sie werden meist von Überheblichen vorgebracht, die sich selber nicht als solche sehen. Petra Morsbachs Antwort darauf lohnt allein die Lektüre dieses Essays. Mir jedenfalls ist selten so deutlich geworden, weshalb die Dichtung wichtig und wirkmächtig ist.

Der Elefant im Zimmer, ein Lehrstück über die Mechanismen der Macht, zeigt nicht zuletzt, dass wir in der irrigen Vorstellung leben, von rationalen Überlegungen geleitet zu werden, doch es sind unsere Empfindungen und Einbildungen, die uns selten bewusst sind, die das Sagen haben. Oft fühlte ich mich an einen Jura-Dozenten erinnert, der nach Zivilrechtsübungen meinte: Merken Sie sich: Das Schlimmste ist, nicht zu einem Entscheid zu kommen, Gründe dafür finden wir dann immer noch.

Dass dem nicht so sein muss, wir nicht automatisch zu Opfern unseres zwar gesellschaftlich gewünschten, doch nicht immer gesunden Gehorsams werden müssen, zeigt dieser Essay, dem es wesentlich darum geht, „zur Entmystifizierung der Macht und zur Enthysterisierung des Widerstands“ beizutragen, eindrücklich. Not everything that is faced can be changed, but nothing can be changed until it is faced zitiert die Autorin James Baldwin.

Fazit: Ein überzeugendes Plädoyer für Zivilcourage, basierend auf genauem Hinschauen, eigenständigem Denken und einem aussergewöhnlichen Erzähltalent. Ein notwendiges und hilfreiches Buch!

Petra Morsbach
Der Elefant im Zimmer
Über Machtmissbrauch und Widerstand
Penguin Verlag, München 2020

Wednesday, 12 February 2025

How the media stabilise our society

 On 8 September 2022, a 96-year-old woman died in a castle in Scotland. The media let the world know of the passing of Queen Elizabeth II. The British media did so around the clock, the regular programme was suspended. Normal life, it seemed, had come to a standstill. All media repeated for days pretty much the same: service, duty, humour, stability etc.

I was switching channels in utter disbelief, clicked aghast on newspaper websites, thought it unbelievable that the whole world was made to believe that the death of a 96-year-old woman who died in a castle in Scotland was an earth-shattering event.

Well, by the look of it — it was. And, it felt more than surreal. Two air hostesses on a British Airways flight from New York upon hearing the news started to cry, people in their thousands flocked to the gates of Buckingham Palace, the Royal butcher was interviewed. "Thousands queue through night to see Queen's coffin after King leads royal vigil," titled The Independent-Online. Don't get me wrong: I've got no objections, none at all, although I did find it all pretty silly — we humans are like that.

Sure, dissenting voices could also be heard when this extensive official mourning resulted in food banks being closed, funerals postponed, cancer scans cancelled. Nevertheless, the show had to go on for we prefer distractions to the reality of our daily lives. Even the critic inside my head had no chance against the media bombardment of pictures and words. When I learned that football player David Beckham stood in line for twelve hours to see the queen in her coffin, I did not wonder why he did that but why his wife and children did not accompany him — distraction works in many ways.

How come people succumb to such mass hysteria? How come the media are helping to produce it? Because we are lost in a vast universe. And, since this is a reality we prefer not to confront, we look for a way out. Our reference point — contrary to our belief — is not the world as it is but the world as we want it to be: a stable place in the universe that makes sense.

***

One of the often-overlooked functions of mass media is to stabilise our society. They do that, for instance, by presenting formats that show the exchange of arguments as the normal way to deal with pretty much all issues imaginable. What they do not show is that you cannot argue with nature, the law of gravity or with Putin, Orbán, Erdoğan or Trump (to name just a few).

Rarely has this stabilising factor been more obvious than after the death of Queen Elizabeth II. Would the transition to Charles be accepted by the public? Nobody seemed to doubt it. The elaborate and largely incomprehensible ceremony that proclaimed him Charles III followed many very, very strange rules. No questions were asked by the subservient media, critical inquiry was totally absent.

For most of my life, I was convinced that a well-informed public is the best guarantee against dictators. Nowadays, I'm not so sure about that. The majority of the British electorate knew that Boris Johnson was a serial liar, many Americans who voted for the Mafia-guy from Queens knew that he wasn't telling the truth. Yet this knowledge did not make any difference, it did not influence their choices and their subsequent actions.

The idea that we decide consciously what is good for us is a myth. Education that aims at making people better informed as well as media-literate won't change much for the better. Instead, it will perpetuate what is already there. How come? Because we can't bear reality (when Woody Allen was asked what his relationship with death was, he said: "I'm strongly against it.") and so we constantly distract ourselves — with politics, sports, the royal theatre, with basically pretty much everything.

The Buddhists think that our brains are wrongly wired. We know that everything is impermanent, that everything is constantly changing. Instead of accepting this, we look for certainty — for this is what our survival instinct, that dominates all other instincts, is demanding. In other words, we are most of the time incapable of doing what we know we should be doing — for we have other priorities.

As Sigmund Freud famously said: Man is not master in his own house. The idea that we have of ourselves — that we are conscious human beings who know what we do — is a joke at best. As Richard Feinman once said in regards to physics: The first principle is not to fool yourself. And, you are the easiest person to fool.

***

The media spectacle that accompanied the passing of Queen Elizabeth II and the proclamation of Charles III as the future King was — among quite some other things, of course — an illustration of our inherent inability to deal with life on life's terms. We can't accept that we — given what we know of the universe and of ourselves — are basically insignificant entities who float around planet earth for some time. We demand that we are somebody, and proclaim that our human existence must make sense.

To watch former English Prime Ministers trying to look somber, gun salutes being fired into the air, soldiers parading in gala uniforms, Charles III signing documents, Royal historians and former Royal press secretaries explaining that it is often difficult to decide what to make public and what not, left me ask wondering: Do we really believe this to be real? The so-called sane-ones do, the others often end up in psychiatric wards.

The media offer a platform on which we can celebrate our illusions. As long as we take them light-heartedly, that is just fine.
  

Sunday, 9 February 2025

Korrumpiert

Diesem Buch ist ein Einstein-Zitat vorangestellt: "Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind." Wie so oft, bleibt es folgenlos, denn eine andere Denkweise ist etwas anderes als mit dem vertrauten Denken zu neuen Schlussfolgerungen zu gelangen. Eine andere Denkweise wäre zum Beispiel, sich vom Mehrheitsprinzip, auf das die Demokratie gründet, zu verbschieden. Das vorliegende Buch ist weit entfernt davon, auch wenn der Autor erfreulich nüchtern konstatiert: "Aber eine wirkliche Demokratie, die alle beteiligt und vor allem das Gemeinwohl heute und morgen vor Augen hat, hat es nie gegeben. Daraus lässt sich auch ableiten, warum sie sich heute dem Markt unterordnet, der nur denen dient, die vor allem den eigenen Wohlstand im Blick haben und eine 'Volksherrschaft' fürchten."

Zum Auftakt rekapituliert Marco Bülow, ein ehemaliger Bundestagsabgeordneter, die Corona-Maskenaffäre, in der kein Politiker zur Rechenschaft gezogen wurde, da ihnen rechtlich nichts nachgewiesen werden konnte. Schwer vorstellbar, dass sich jemand darüber wundert, schliesslich werden die Gesetze im Parlament gemacht. Und diejenigen, die sie auslegen, sind nicht in ihre Ämter gekommen, weil sie eigenständig, sondern weil sie systemkonform denken.

Doppelmoral, Freundschaft mit Autokraten, Spenden usw. Detailliert zeigt Marco Bülow auf, wie geldgetrieben die Politik ist und nennt auf Profit fixierte Parlamentarier beim Namen, Lobbyisten hingegen nicht. Geld scheint mittlerweile der einzige Wert, den weltweit alle respektieren bzw. sich ihm unterwerfen. "Macht und Geld haben immer mitregiert, aber eine Zeit lang gab es in den Parteien, in den Medien, in der Zivilgesellschaft ein stärkeres Korrektiv, welches das Machtgefälle begrenzte, allzu eklatante Ausfälle korrigierte, das Pendel auch wieder in die andere Richtung schlagen liess."

Politiker sind in einem komplizierten System gefangen und müssen dazu sehen, dass sie darin nicht untergehen. Ein kompliziertes System hat eben viele Vorteile, jedenfalls für die, die sich darin auskennen. Es ist nichts anderes als ein Selbstbedienungsladen für Eingeweihte.

Dieses kompliziert angelegte System führt dazu, dass es viele Möglichkeiten der Einflussnahme gibt. Dem Autor ist es darum zu tun, das Lobbying sachlich anzugehen, die Kategorien 'Gut' oder 'Böse' hält er für unangemessen. Liegt es vielleicht daran, dass es Kategorien sind, die jeder versteht? Marco Bülow zieht es vor, ausführlich über das Wesen des Lobbyismus zu informieren, um schliesslich zu dem einigermassen banalen Schluss zu kommen: "Am Ende geht es meistens ums Geld und um den Einfluss derjenigen, die viel davon besitzen."

19 Jahre sass Bülow im Bundestag, sein Erfahrungsschatz in Sachen Lobbyismus ist beträchtlich, seine Ausführungen lassen einen die Politiker als das sehen, was sie hauptsachlich sind: Systemprofiteure. Verblüffend sind dabei weniger die Charakterdefizite vieler Abgeordneter, sondern die Möglichkeiten, die den Lobbyisten zugestanden werden. Bülows Ansehen bei den Kollegen stieg, als er eines Tages zum Treffen einer einflussreichen Lobby geladen war. Es sind solche Sätze, die mir genug über den Politbetrieb verraten, um mich davon abzuwenden.

Nur wer gute Kontakte vorweisen kann, wird respektiert. Das ist ein Phänomen, das nicht nur die Politik regiert. Als ich vor Jahren in die engere Auswahl für eine Dozentur in "Editorial Photography" an einer Uni in Cornwall kam, wurde ich beim Vorstellungsgespräch danach gefragt, was für "industry contacts" ich hätte. Ich hatte keine und war somit aus dem Rennen. 

Es genügt, den parlamentarischen Alltag zu beschreiben, um seine Absurdität vor Augen zu haben. Alle Anträge von der Opposition werden grundsätzlich abgelehnt. "Ein ungeschriebenes, aber sehr gewissenhaft verfolgtes Gesetz." Wer glaubt, in der Politik gehe es um Inhalte, um die ernsthafte Auseinandersetzung, um sachliche Argumente, wird hier eines Besseren belehrt. Wie sollte es auch anders sein in einer Welt, in der das Geld regiert. Schon eigenartig, dass wir uns selbst zu Sklaven machen.

Lobbyisten sind in der Regel bestens informiert und verfügen gegenüber den Parlamentariern über einen Wissensvorsprung, den sie gerne mit denen, die sie beeinflussen wollen, teilen. Geschieht dies ohne Gegenleistung, so haben die betreffenden parlamentarischen Informationsempfänger, so sie denn nicht ganz unsensibel sind, den Lobbyisten gegenüber Schuldgefühle. Lobbyismus ist angewandte Psychologie; wer sich darauf einlässt, wird zum Gefangenen.

. "Wenn wir dem Wesen des Lobbyismus und der Korruption auf den Grund gehen wollen, müssen endlich alle Vorgänge, alle Einflussnahmen ans Tageslicht, in das Zentrum der Debatte über unsere Demokratie gerückt werden." Natürlich hat er recht, nur eben: Wirklich aufgeklärt zu sein (so notwendig ich das auch finde) wird überschätzt. Schwer vorstellbar, dass man mehr über jemanden wissen kann als über den egomanischen Aufmerksamkeits-Junkie im Weissen Haus, doch da die Vernunft eine weit geringere Rolle spielt als Marco Bülow anzunehmen scheint, wurde der Mann gerade zum zweiten Mal amerikanischer Präsident.

Korrumpiert bietet vielfältige und kenntnisreiche Aufklärung über das Politgeschäft, ist jedoch wenig überzeugend, wenn es um Fragen wie 'Ist der Mensch gut oder böse' oder den 'Zwang zum Positiven' geht. Da wimmelt es dann von Sätzen von geradezu erschütternder, nichtssagender Schlichtheit. "Sich mit der menschlichen Psyche im Allgemeinen und der eigenen Psyche im Besonderen zu beschäftigen, ist spannend und wichtig. Therapeutische Hilfestellung kann sicher weiterhelfen. Verlangte Dauerhochleistung und Daueroptimismus erschöpfen, machen krank, erfordern dann besondere Hilfe." Ein dünneres Plädoyer für Therapie (im wesentlichen ein Businessmodell, denn auch hier geht es ums Geld) ist schwer vorstellbar.

Den Vogel abgeschossen hat dann aber diese Passage. die für mich unter 'wirrer geht nimmer' läuft. "Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner sagt: 'Es gibt keine negativen Emotionen.' Das legitimiert uns nicht, sie an anderen auszulassen, aber sie gehören zu uns. Und wenn es um Gefühle geht, die wir durch die Gesellschaft, die Politik empfinden, dann müssen sie auch öffentlich deutlich werden. Emotionen und Verstand lassen sich nicht trennen. Genau das müssen wir verstehen, wenn wir begreifen wollen, wie es zu welchen Handlungen kommt." 

Nichtsdestotrotz: Korrumpiert ist ein lehrreiches Buch, dem 19 Jahre Parteipolitik zugrunde liegen. Marco Bülow hat sich davon losgesagt, die Gründe legt er in diesem reflektierten Erfahrungsbericht dar. Selber denken, hat er erfahren, ist in einer Partei verpönt, ihm selber aber lebensnotwendig. Heutzutage engagiert er sich für das Projekt Kooperative Demokratie, dessen 9-Punkte-Plan auch in diesem Buch zu finden ist.

Marco Bülow
Korrumpiert
Wie ich fast Lobbyist wurde
und jetzt die Demokratie retten will
Westend Verlag, Neu-Isenburg 2025

Wednesday, 5 February 2025

Are there pictures that we shouldn't see?

 After flight MH 17 was shot down in eastern Ukraine, on 17 July 2014, Magnum-Photographer Jérôme Sessini took pictures that some commentators felt shouldn't be shown because they would hurt the dignity of the deceased and their family members. It was also argued that pictures that are published should take into account the feelings of the readers and viewers respectively.

I do not name the sources of these comments because they are in no way original, they can be heard again and again, and I feel that the question whether we shouldn't be shown certain photographs needs to be addressed in principal.

It is argued that to show images of victims of war (or of accidents) are an affront to the dignity of the deceased and can add to the immediate grief of families. I must admit that I do not really understand what dignity in the context of war means. Soldiers are trained to kill. Killing and dignity, in my view, do not exactly go hand in hand. So how come then that killing in the context of war is accepted but what results from this killing should not be shown?

Such pictures do nothing but shock, it is said, they do not contribute to a better understanding of what has happened. I disagree for we cannot really know what terrible pictures do to us. Sure, they very likely will shock and disturb us — and they should — but there is no basis for arguing that such pictures do not have the potential to educate and even change us.

Photographs set free emotions and these often cannot be controlled. Which is precisely the reason why we get to see so few pictures of certain wars. On 27 July 2008, The New York Times had this to say about the censorship of photographs of dead American soldiers in Iraq: "... after five years and more than 4,000 American combat deaths, searches and interviews turned up fewer than a half-dozen graphic photographs of dead American soldiers."

Despite the abundance of photographs surrounding us, there are still far too many we do not get to see. 9/11 was probably the most photographed event of our time. But what about photos of jumpers, why didn't we get to see these? Joe Scurto, for instance, saw "at least a hundred people jumping. They were coming down like rain." Well, there is one that has come to be known as The Falling Man, taken by veteran Associated Press photographer Richard Drew; "the most famous picture nobody's ever seen," as Drew says.

Copyright @ Richard Drew 2001

There's another war photo (of an incinerated Iraqi soldier in his truck) not many people have seen because most media refused to publish it. Kenneth Jarecke, the photographer, had assumed the media would be only too happy to challenge the popular narrative of a clean, uncomplicated war. Unsurprisingly, he was wrong. As the old Romans phrased it, "mundus vult decipi," the world wants to be deceived.

Moreover: "Nowadays ... news organizations tend to play it safe, having been subsumed by media conglomerates that give less credence to exposing harsh realities than to turning a profit, entertaining mass audiences, and satisfying skittish advertisers," as David Friend, in his impressive Watching the World Change. The Stories Behind The Images of 9/11, explains.

PS: Spare me the dignity-talk. I have enough experience and judgement to decide for myself what pictures deserve my attention.

Sunday, 2 February 2025

Hauptsache Haltung

"Braucht es nicht ein bisschen mehr als nur Haltung?", fragt der Verlag. Nein, damit ist nicht das Buch gemeint, obwohl die Frage darauf genauso zutrifft wie auf die Linksliberalen, die dem Autor derart auf die Nerven gehen, dass er viel Fleiss und Energie aufgewendet hat, um seine Abneigung zu rationalisieren. Vieles, was er anführt, ist bestens nachvollziehbar, auch für jemanden wie mich, dem die Empörung über politische Arroganz und Abgehobenheit im Laufe der Jahre fremd geworden ist; ich begreife sie als systemimmanent. 

Klaus-Dieter Rieveler ist durchaus klar, dass nicht allein die Grünen heuchlerisch unterwegs sind, doch die eben ganz besonders. "Wer sich selbst bei jeder Gelegenheit als Moralapostel aufspielt, muss sich an seinen eigenen Massstäben messen lassen." Unter diesem Motto operiert Hauptsache Haltung. Von kleinkarierten Besserwissern im Strebergarten. "Neben ihrer unerschütterlichen Überzeugung, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben, haben die Linksliberalen noch zwei Alleinstellungsmerkmale: zum einem das manichäische Denken in Opfer- und Tätergruppen, zum anderen, die Überzeugung, mit den Mitteln der Sprache die Welt verändern zu können."

Nun ja, ob man mit den Mitteln der Sprache die Welt verändern kann, ist kein Alleinstellungsmerkmal der Grünen, sondern wird von Linguisten schon lange kontrovers diskutiert, und die Vorstellung im Besitz spezieller Weisheit zu sein, findet man in der uns bekannten Welt breit vertreten, auf allen Gesellschaftsebenen. Beide Phänomene deuten auf eine Überschätzung der eigenen Bedeutung hin. Dem Universum sind unsere Überzeugungen und Einsichten übrigens völlig egal.

"An ihrer Sprache sollt ihr sie erkennen" ist ein Kapitel überschrieben. So sehr das auch zutrifft, fällt es eben auch auf den Autor zurück, der sich einer plakativen Sprache bedient (nein, nicht durchgehend, aber immer mal wieder), die für diejenigen, denen die sachliche Auseinandersetzung wichtig ist, etwas gewöhnungsbedürftig ist. Andererseits: Dass er die taz, die Süddeutsche, die Zeit und den Spiegel als linksliberale Blätter bezeichnet, in denen sich der sogenannte Selfie- oder Nabelschau-Journalismus grosser Beliebtheit erfreue ("Hier zählt einzig die persönliche subjektive Sichtweise."), ist allerdings derart abstrus, dass man es gar nicht kommentieren mag. Zudem: Wie rechts muss man eigentlich sein, um diese Blätter als linksliberal wahrzunehmen?

"Was ist das, politische Korrektheit? Eine Allergie dagegen, Dinge beim Namen zu nennen ...", wird Pascal Bruckner zitiert. Und natürlich stimmt das. Die vielen Belege in Sachen Cancel Culture, die Klaus-Dieter Rieveler anführt, bezeugen eine Verblendung, die ich bis vor einigen Jahren noch nicht für möglich gehalten habe. Die Authentizitäts-Fans sollten sich den Florida-Golfer und verbalen Capitol-Sturm-Anstifter anschauen, der ist authentisch. Und hat übrigens auch ganz viel gemein mit Aktivisten und Aktivistinnen: Von nichts eine Ahnung, dafür zu allem eine Meinung.

 Hauptsache Haltung. Von kleinkarierten Besserwissern im Strebergarten ist grösstenteils eine aufschlussreiche Geschichtsstunde. Kein Wunder, hat doch der Autor Geschichte, Soziologie und Journalistik studiert, weshalb er denn auch Ignoranz in Sachen Geschichte besonders schlecht erträgt. Die Beispiele, die er heranzieht, sprechen in der Tat für sich. Schmunzelnd nahm ich auch zur Kenntnis, dass die Grünen offenbar mit der Mathematik auf Kriegsfuss stehen. Nun ja, abgesehen von den Mathelehrern geht es wohl den meisten so.

"Ein fettes Bankkonto und eine sichere Anstellung helfen ungemein dabei, von den negativen Begleiterscheinungen linksliberaler Politik nichts mitzubekommen." Das ist zwar bei rechter Politik auch nicht anders, doch da der Feind des Herrn Rieveler die Linksliberalen sind ... Das ist wenig erhellend, bestätigt nur das gängige System, das ohne die Guten/die Bösen nicht auszukommen scheint, und angesichts der technischen Entwicklungen, vom Internet zur KI, offensichtlich nicht mehr allzu viel taugt.

Dass der Autor Entweder/Oder unterwegs ist, zeigt sich auch am Beispiel der Publizistin Carolin Emcke, die dazu aufrief, "nicht an Gesprächsrunden 'in einer Rahmung, die Pro und Kontra heisst'", teilzunehmen: "Wir müssen aufhören, diese Rahmung zu bedienen. Es wird uns beständig vorgemacht, es gebe zu allen Fragen gleichermassen wertige, gleichermassen vernünftige, einander widersprechende Positionen. Das ist, mit Verlaub, einfach Bullshit. Wir müssen es abschaffen." Klaus-Dieter Rieveler kommentiert: "Vernünftig diskutieren lässt sich also gemäss Emckes Auffassung also nur, wenn alle einer Meinung sind, zumindest was die Grundüberzeugungen der Moralelite betrifft." Nur eben: Carolin Emcke sagt etwas ganz anderes: Die Vorstellung, wir seien alle zu einem vernünftigen Austausch fähig bzw. daran interessiert, ist falsch. Und selbstverständlich hat sie Recht. Hinzufügen wäre noch: Man soll nicht allen die gleichen Möglichkeiten zur Selbstdarstellung geben, man denke an all die uninformierten Hohlköpfe und Psychopathen, denen die Medien heutzutage eine Plattform bieten.

Die Fülle der Informationen, die der Autor vorlegt, ist beeindruckend; die vielen konreten Beispiel machen deutlich, dass das Selbstverständnis von "Aktivisten" (dass das eine Berufsbezeichnung sein kann, ist mehr als sonderbar) wohl am ehesten in persönlichen Kränkungen gründet. Ob die Ideen dieser Leute es verdienen, derart ernst genommen zu werden, wie es in diesem Buch der Fall ist, bezweifle ich. Andererseits ist es aber eben auch so (und das macht dieses Buch klar), dass es überhaupt nicht angeht, sich von selbsternannten Idealisten sagen zu lassen, wie wir denken und reden sollen. 

Klaus-Dieter Rieveler ist ausgesprochen polemisch unterwegs (Was soll das bloss sein, eine Moralelite? Kann man sich etwa selber, so man denn wollte, zur Elite ernennen? Dass es in der heutigen politischen Welt an Moral fehlt, halte ich übrigens für ein Problem) und obwohl er kenntnis- und detailreich argumentiert, ist er so recht eigentlich ein Ideologe, der gegen alles schiesst, was er unter linksliberal subsumiert. Oder mit seinen eigenen Worten: Ein kleinkarierter Besserwisser im Strebergarten. Wie heisst es doch so treffend im Talmud: Wir sehen die Dinge nicht wie sie sind, wir sehen sie, wie wir sind.

Neben der persönlichen Ebene, die der Autor kräftig bedient (gemäss seiner eigenen Logik muss er sich also nicht wundern, wenn sie auf ihn zurückfällt), gibt es noch die sachliche Ebene, die sich durch eine eindrückliche Materialfülle auszeichnet und deren vielfältige Fallbeispiele für sich sprechen. Ich bin aus dem Staunen gar nicht mehr herausgekommen, ob der vielfältigen Absurditäten, die die Leute nicht nur von sich geben, sondern offenbar ernsthaft glauben."Wenn Jungs schon in der Grundschule gesagt wird", so die Spiegel-Autorin Tara-Louise Wittwer, "dass sie nicht weinen dürfen, weil starke Jungs eben nicht weinen, stauen sich die Emotionen oft jahrzehntelang an und explodieren dann. Ein bisschen so, wie bei einer Flasche Mineralwasser, extra spritzig, mit besonders viel Kohlensäure. Wenn man die ganz stark schüttelt und öffnet, weiss wirklich jeder was passiert." Und jetzt weiss auch wirklich jeder, dass Frau Wittwer nicht den leisesten Schimmer von Emotionen hat (Emotionen, die sich jahrzehntelang stauen? Wo genau? Gibt es da eine spezielle Ecke im Unbewussten?), sich jedoch mit Kohlensäure auskennt.

Wer ein eher beiläufiges Interesse an den in diesem Buch angesprochenen Themen hat, nimmt erstaunt zur Kenntnis, dass diese komischen Aktivisten, zumeist humorlos, fanatisch und hauptsächlich für sich selbst unterwegs, wirklich ungeheuer aktiv sind und, angesichts ihrer doch eher kleinen Zahl, Erstaunliches bewirken, das in eine vollkommen falsche und gefährliche Richtung läuft, da es einerseits noch grössere Verwirrung anrichtet als wir eh schon haben, und andererseits zur gesellschaftlichen Spaltung beiträgt. Darüber klärt Klaus-Dieter Rieveler auf; dieses Buch ist gleichzeitig Aufklärung und Warnung. Apropos Spaltung: Fragen sollte man sich allerdings auch, ob ein gelassenes Nebeneinander einem streitenden Miteinander nicht vorzuziehen wäre.

Klaus-Dieter Rieveler
Hauptsache Haltung
Von kleinkarierten Besserwissern im Strebergarten
FiftyFifty Verlag, Köln 2025