Sunday, 23 February 2025

Die Historie von der Besatzung Palästinas

"Am 15. Mai 1948 war der jüdische Staat ausgerufen worden, ohne dass seine Grenzen festgelegt worden waren. Mein optimistischer Vater wertete dies als vielversprechendes Zeichen, das die Möglichkeit offenhielt, neben Israel einen arabischen Staat zu gründen, wie es im Teilungsplan ja auch vorgesehen war." Dass es nicht dazu gekommen ist, wissen wir; dass die Zwei-Staaten-Lösung in immer weitere Ferne gerückt ist, wissen wir auch. Wie es dazu gekommen ist, schildert Raja Shehadeh in diesem Memoir.

"Vor 1967 war das Westjordanland ein verarmtes unterentwickeltes Gebiet. So war schon der Bau eines einzigen Hauses ein Großprojekt, das über ein Jahr in Anspruch nehmen konnte. Die Idee, einen ganzen Hügel zu übernehmen, Häuser für eine Siedlung zu errichten und sie mit Wasser und Strom zu versorgen, erschien uns unvorstellbar." Eine Siedlung meint übrigens "eine Betonlandschaft, Reihen einheitlicher Häuser und geradlinige, vielspurige Autobahnen."

So sehr dies auch ein überaus aufschlussreiches Buch über die rücksichtslose israelische Siedlungspolitik ist (dass die israelischen Rechten gerade Trump zujubeln, der eine ethnische Säuberung des Gaza-Streifens plant, zeigt eine Geisteshaltung, die keines Kommentars bedarf), es macht auch mehr als nur deutlich, dass das Politische und das Private nicht wirklich auseinandergehalten werden können. "Lange Zeit dachte ich, es sei die Politik meines Vaters, die mich von ihm distanzierte. Jetzt weiß ich, dass ein wichtigerer Grund die Politik innerhalb der Familie war; der Kampf zwischen meinen Eltern um mich war für den Riss verantwortlich, der durch unser Haus ging, und nicht die politischen Turbulenzen außerhalb."

Der Autor von Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und Ich, Raja Shehadeh, ist wie sein Vater, der 1985 von einem verurteilten Hausbesetzer ermordet wurde, Rechtsanwalt. "Siebenunddreißig lange Jahre nach dem Mord warte ich immer noch auf eine Klärung dessen, wer meinen Vater ermordet und warum die israelische Polizei die Akte geschlossen hat, bevor die Ermittlungen abgeschlossen waren.

Sein Vater hatte ihm Schränke voller Akten hinterlassen. Wollte er ihn etwa dazu bringen, über ihn zu schreiben. Der Sohn weigert sich, er hat sein eigenes Leben zu leben. Viele Jahre später lässt er sich dann doch darauf ein. Und entdeckt vielfältige Übereinstimmungen. "Ich hatte das Gefühl, mit meinem juristischen Widerstand gegen die israelischen Maßnahmen voranzuschreiten und Neuland zu betreten – noch ahnte ich nicht, dass mein Vater Jahre zuvor dasselbe getan hatte. Ich wusste auch nicht, dass ich von ihm den Gemeinsinn und das Verantwortungsgefühl geerbt ...". 

Der Umgangston ist indirekt bzw. respektvoll. "Oft begleitete mich die Frage, was mein Vater wohl dachte, wenn er das Bild seiner Mutter ansah – obwohl ich ihn nie dabei ertappt habe." Doch wie der Autor die Ehe seiner Eltern schildert, ist an Deutlichkeit kaum zu überbieten. So sehr sich der Vater auch bemühte, seiner stolzen Frau, die ihre Privilegien als selbstverständlich wahrnahm, konnte er nichts recht machen. Die pseudopsychologischen Erklärungen sind allerdings wenig überzeugend." Sie machte ihn ständig nieder. Da er keine Mutterliebe erfahren hatte, fehlte ihm der feste Glaube daran, dass er selbst ein guter Mensch war. Er musste sich vielmehr immer wieder aufs Neue beweisen und seine Existenz rechtfertigen."

Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und Ich erzählt neben der Familiengeschichte auch die Historie der systematischen Enteignung der Palästinenser, detailliert, sachlich, ohne Polemik. Die Geschichte dieser Aneignung erfolgte teils juristisch, teils durch die Schaffung von Tatsachen mittels Gewalt. Auch macht de Autor durch seine unaufgeregte Darstellung deutlich, dass vieles im Geheimen ablief, getrickst wurde, und gewalttätige radikale Kräfte einen weit grösseren Einfluss auf das politische Geschehen haben als man gemeinhin annimmt.

Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und Ich ist in einem sachlich nüchternen Ton verfasst. Dass die Palästinenser seit dem UN-Teilungsbeschluss von 1947 beständig getäuscht, belogen und hintergangen wurden, ist nicht von der Hand zu weisen. Nicht nur wurden die Palästinenser systematisch von ihrem Land vertrieben, sie wurden auch daran gehindert, wieder zurückzukommen. Die schreiende Ungerechtigkeit, die hier dokumentiert wird, ist schwer zu ertragen und bestätigt C. G. Jungs Einschätzung, dass der Mensch die grösste Gefahr für den Menschen ist.

Über seine Gefühle, darüber, was ihn beschäftigte, redete sein Vater offenbar nicht. Und so muss der Sohn raten. "War es Wut oder Scham, die er empfand? Ich vermute, dass es eher Scham darüber war, wie sehr seine Generation dabei versagt hatte, ihre Heimat zu verteidigen, und dass es nie zur der Rückkehr kam, für die er so hart gearbeitet hatte. Offen Wut oder Bedauern auszudrücken, hätte ihn gedemütigt. Also behielt er seine Gedanken für sich und fuhr uns schweigend zurück nach Ramallah." Für die einen ist so ein Stolz würdevoll, für andere ist es die Unfähigkeit, die Realität anzunehmen, wie sie ist.

Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und Ich ist ein vielfältig erhellendes Werk. Die Juristerei entbehrt ja nicht der Absurdität, geht sie doch davon aus, dass derjenige, der besser zu argumentieren weiss, im Recht sein soll! So beschreibt der Autor das Vorgehen: "Er begann, das Gesetz genau zu studieren und Schlupflöcher zu finden. Dann studierte er die Argumente und Präzedenzfälle, die zur Unterstützung der Verteidigung herangezogen wurden."

Aziz Shehadeh war ein idealistisch gesinnter Mann,  ein vehementer Verfechter der Zwei-Staaten-Lösung und politischer Gefangener. Im Wüstengefängnis sinniert er. "Es war ein Verrat an den Palästinensern, eine feige Verleugnung dessen, was Jordanien und die übrige arabische Welt nominell versprochen hatten: die Befreiung Palästinas. Deshalb hatte er alles daran- gesetzt, diese Politik in Frage zu stellen und herauszufordern, doch nur allzu oft fand er sich ohne Unterstützung wieder. Viele seiner Freunde hatten sich dafür entschieden, ihr Leben weiter- zuführen und sich auf ihr eigenes Wohlergehen und das ihrer
Familien zu konzentrieren."

Geschichtsschreibung ist notwendigerweise auch immer Projektion. Wenn sich also der Sohn in die Gedankenwelt des Vaters versetzt, teilt er mehr über seine eigene Art des Denkens mit als über die seines Vaters. Obwohl: So verschieden voneinander sind die beiden nicht. "Welch eine Ironie, dachte er, von der harten Herrschaft der Briten befreit zu sein, nur um unter die nicht weniger harsche Herrschaft der von den Briten ausgebildeten jordanischen Armee zu geraten, deren loyaler und von Beduinen dominierten Kern gleichermaßen unnachgiebig war."

Raja Shehadeh hat mit Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und Ich nicht nur seinem Vater ein Denkmal gesetzt, sondern auch aufgezeigt, wie ähnlich Vater und Sohn ticken, ganz so, also ob unser Weg vorgezeichnet sei.

Raja Shehadeh
Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und ich
Ein Memoir
Edition W, Neu-Isenburg 2025

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